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KDV

25. November 2022

Sich der Kriegslogik entziehen

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 3/2022

Leitartikel

Deserteure und KDVer brauchen Unterstützung

Von Rudi Friedrich

Kurz nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte, forderte EU-Ratspräsident Charles Michel russische Soldaten zur Desertion auf und versprach, darüber nachzudenken, ob sie Asyl bekommen sollen. Sechs Monate später beschließt das Europäische Parlament, dass die Mitgliedstaaten sich bei der Frage des Asyls an Recht und Gesetz halten sollen. Sieht so eine tatkräftige Unterstützung aus? Wohl kaum.

Die Bundesregierung hat immerhin erklärt, dass russische Deserteure Asyl erhalten sollen. Ausgeschlossen von dieser Regelung sind allerdings Militärdienstflüchtige, die so klug waren, sich schon vor der Einberufung abzusetzen. Geflissentlich übersehen wurde, dass von inzwischen wohl 150.000 Militärdienstflüchtigen aus Russland gerade mal zwei- oder dreitausend den Weg in die Europäische Union geschafft haben. Die Grenzen sind weitgehend geschlossen. 

Andere in der Europäischen Union gehen mit diesem Thema noch weit weniger zimperlich um. Desertion? Da werden gleich alle Register gezogen, um diese Tat „ins rechte Licht“ zu rücken. Die einen fabulieren darüber, dass russische Deserteure Spione sein könnten, als ob die Spione aus Russland nicht schon längst hier wären. Egal, erst einmal werden alle Verweigerer unter Generalverdacht gestellt. Andere sinnieren darüber, dass sie doch besser in Russland gegen die eigene Regierung kämpfen sollen. Ist das nun ein Aufruf zum Bürgerkrieg? Auf jeden Fall geht es hier nur darum, die Verweigerer für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.

Und so haben wir sie wieder: die Denunziation, die Brandmarkung als Verräter oder auch die Instrumentalisierung derjenigen, die sich gegen einen Krieg wenden. Was all diesen Argumenten und Positionen gemein ist: Sie bewegen sich in der Logik des Krieges, dem Denken in Freund und Feind. Was sind wir froh, dass es Menschen auf allen Seiten des Krieges gibt, die dies genau nicht tun.

Es gibt auch Verweigerer auf der anderen Seite des Krieges, in der Ukraine. Dort wurde das ohnehin restriktive KDV-Gesetz ausgesetzt, Verweigerer zu langen Haftstrafen verurteilt. Auch hier entziehen sich viele der Kriegsdienstpflicht: Schätzungsweise 140.000 halten sich in Westeuropa auf. Sie haben Glück: Aufgrund des befristeten humanitären Aufenthalts können sie vorerst bleiben. Was danach kommt weiß heute noch niemand.

Sie alle mögen ihre privaten, politischen oder auch Gewissensgründe für ihre Entscheidung haben. Auf jeden Fall stehen sie für einen anderen Weg, abseits einer Kriegshysterie, die nur Waffen zählt und die Eroberung von Gebieten als Sieg preist. Ohne diese Idee, dass es anderes als den Kampf gibt, verbleiben wir nur in einer Spirale der Eskalation.

Wir brauchen Menschen, die sich gegen den Krieg stellen und für ihre Gesellschaften andere Optionen aufzeigen. Und sie brauchen unsere Solidarität und Unterstützung: Offene Grenzen, um Länder mit prekärem Status verlassen zu können, einen echten und dauerhaften Schutz und in ihrer Heimat eine Amnestie und ein umfassendes Recht auf KDV.

Rudi Friedrich setzt sich als Mitbegründer von Connection e.V. seit 30 Jahren international für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure ein (www.connection-ev.org). Seit Jahrzehnten ist er Mitglied der DFG-VK.

Kategorie: Leitartikel Stichworte: 202203, Connection, Connection e.V., Deserteure, Friedrich, KDV, Kriegsdienstverweigerung, Leitartikel, Ukraine-Krieg

30. Mai 2022

Dem Krieg die Menschen entziehen

Titel

Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure

Von Siglinde Cüppers

Wir sind bei den letzten Mahnwachen gegen den Ukraine-Krieg oft gefragt worden, was man denn tun könne. Daraus ist dann dieser Text entstanden zum Thema Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren.

Denn unabhängig von den unterschiedlichen Analysen zur Entstehung der Konflikte in der Ukraine, die in dem Angriffskrieg der russischen Armee eskalierten, kommt es jetzt darauf an, dem Krieg den Boden und die Menschen zu entziehen. Keine Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet und nicht noch mehr Geld für Kriegswaffen zu verschwenden – das fordern wir von der Regierung; die Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren – das müssen wir schon selber leisten.

Für Frieden und Abrüstung einzutreten und sich dem Krieg zu verweigern, ist keine neutrale Position. Es bedeutet, die militärische Sichtweise mit der Rechtfertigung von Krieg und Gewalt abzulehnen und stattdessen für Gewaltfreiheit einzutreten. Wenn der Krieg nicht verhindert worden ist, weil er politisch gewollt war, und wenn die Bilder von Not. Leid, Tod und Zerstörung über die Bildschirme gelangen, dann wird das Geschrei laut, mit noch mehr Waffen und Soldat*innen den Krieg angeblich schnell zu beenden. Als gerechter Krieg soll er angeblich Frieden bringen. Aber er führt zu weiterer Aufrüstung, noch mehr Toten und noch mehr Leid und Zerstörung und nutzt nur denjenigen, die von Rüstung und Krieg profitieren und ist die Vorbereitung für den nächsten Krieg.

Grafik: Wilfried Porwol

Den Krieg ablehnen und ihm den Boden entziehen

Als Pazifist*innen stellen wir uns an die Seite der Kriegsdienstverweigerer*innen und Deserteur*innen. Es gibt sie immer in allen Kriegen bei jedem Militär, auch jetzt im russischen und ukrainischen Militär.

Der größte Teil der Soldat*innen im russischen und ukrainischen Militär sind Wehrpflichtige zwischen 18 und 60 Jahren. In beiden Gesellschaften ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung sehr eingeschränkt. Für den Wehrdienst werden die Daten der wehrpflichtigen Männer erfasst, sie werden aufgefordert, sich in Einberufungsbüros zu melden. Dort wird ihnen der Pass abgenommen, stattdessen erhalten sie einen Wehrpass. Sie dürfen das Land nicht mehr verlassen. Viele von ihnen wollen sich am Krieg nicht beteiligen, haben aber oft keine andere Wahl. Wenn sie versuchen, sich der Einberufung zu entziehen, werden sie zwangsrekrutiert. Das bedeutet, die Wehrpflichtigen werden am Arbeitsplatz, aus ihren Wohnungen und von der Straße geholt und zwangsweise in die Kasernen verbracht. Oft wissen die Angehörigen nicht, wo sie geblieben sind. Familien werden getrennt. Seit dem 4. März findet die Mobilmachung in Weißrussland statt. Auch hier gibt es Wehrpflicht und wehrpflichtige Männer zwischen 18 und 60 Jahren werden massenweise einberufen zur Unterstützung der russischen Armee. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt es nicht. Wenn sie der Einberufung nicht folgen werden auch die weißrussischen Männer zwangsrekrutiert.

Zwangsrekrutierungen sind nach der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen eine massive Menschenrechtsverletzung. 

Unterstützung für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure

In der Ukraine gibt es die Ukrainische Pazifistische Bewegung, die sich für ein umfassendes Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine einsetzt und Kriegsdienstverweigerer unterstützt. 

In Russland gibt es die Bewegung für Kriegsdienstverweigerung in Russland. 

Wir können an unseren Wohnorten, bei Infoständen, Mahnwachen und Kundgebungen diese Organisationen bekannt machen. Wir können Mitbürger*innen, die aus der Ukraine, Russland, Belarus kommen darauf hinweisen, dass sie diese Bewegungen in ihren Herkunftsländern bei Bekannten, Verwandten und Freunden, die dort leben bekannt machen, damit darüber Kriegsdienstverweigerer und Deserteure Unterstützung bekommen. 

Wir können sie bitten, Kriegsdienstverweigern und Deserteuren dabei zu helfen, dem Militär zu entkommen, und ihnen unsere Hilfe anbieten.

Offene Grenzen für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer

Wir müssen offen für Kriegsdienstverweigerung und Desertion von allen Armeen und Kampfverbänden eintreten und dafür werben, dass die Grenzen für sie geöffnet werden und sie vor erneuter Einberufung und Verfolgung sicher sind. 

Recht auf politisches Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure

Kriegsdienstverweigerung und Desertion muss endlich als eigenständiger Grund für politisches Asyl anerkannt werden. Wer glaubwürdig Kriege beenden will, ermöglicht Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren Unterstützung und Zuflucht.

Kriegsdienstverweigerung auch hier!

Wir rufen die Soldat*innen der Bundeswehr auf, jetzt den Kriegsdienst zu verweigern. Wenn sie den Befehl für einen Kriegseinsatz in der Ukraine bekämen, müssten sie den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung im Kriegseinsatz stellen, und das ist dann nicht so einfach.

Siglinde Cüppers ist aktiv in der DFG-VK-Gruppe Flensburg.

Kategorie: Titel Stichworte: 202201, Asyl, Deserteure, KDV, Kriegsdienstverweigerung, Nato, Russland, Ukraine, Ukraine-Krieg

30. Mai 2022

Ebco-Erklärung zum Ukraine-Krieg

Titel

Solidarität mit Kriegsdienstverweigerern, Anti-Kriegs-Aktivisten und Zivilisten auf allen Seiten des Krieges

Erklärung des Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung/European Bureau for Conscientious Objection (Ebco)

Das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung (Ebco) drückt seinen Respekt und seine Solidarität mit allen mutigen Kriegsdienstverweigerern, Kriegsgegnern und Zivilisten aller Kriegsparteien aus und fordert Europa auf, ihnen konkrete Unterstützung zukommen zu lassen:

• Europa sollte aufhören, den Krieg direkt oder indirekt anzuheizen, und sich auf Diplomatie, Konfliktprävention und gewaltfreie Konfliktlösung konzentrieren. Als Bewegung der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen beklagen wir die vorbereitenden Handlungen in Friedenszeiten, die den Krieg ermöglichen: die Entwicklung, die Produktion und den Handel mit Waffen – einschließlich Atomwaffen – und die Ausbildung von Soldaten. In dieser Zeit sollten alle europäischen Länder ihre Grenzen öffnen und allen ukrainischen, russischen, weißrussischen und anderen Flüchtlingen den Flüchtlingsstatus gewähren, einschließlich, aber nicht nur, der Kriegsgegner und Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, sowohl Zivilisten als auch Soldaten, die den Dienst in den Streitkräften verweigern oder desertieren. Alle Flüchtlinge sollten uneingeschränkten Zugang zu Gesundheit, Wohnraum, Bildung und Beschäftigung erhalten. Die europäischen Universitäten sollten beispielsweise russische und ukrainische Studenten aufnehmen, die vor dem Krieg fliehen wollen, damit sie ihr Studium in Europa fortsetzen können.

• Russland und die Ukraine sollten allen Zivilisten, die aus den Konfliktgebieten fliehen, Zugang zu sicheren humanitären Korridoren gewähren und sich strikt an das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsbestimmungen halten, einschließlich des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung.

• Russland sollte alle militärischen Operationen einstellen und alle russischen Truppen aus der Ukraine abziehen. Die Zivilbevölkerung stirbt, und die russischen Truppen begehen Kriegsverbrechen. Russland sollte auch das harte Durchgreifen gegen unabhängigen Journalismus, Antikriegsproteste und Andersdenkende in Russland beenden.

• Die Ukraine sollte die Ausreisebeschränkung für alle männlichen Bürger zwischen 18 und 60 Jahren aufheben, die für die Zeit des Kriegsrechts verhängt wurde. Diese diskriminierende und rechtswidrige Beschränkung ist ein eklatanter Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit.

„Ebco verurteilt die russische Invasion in der Ukraine sowie die Nato-Osterweiterung aufs Schärfste. Ebco fordert die Soldaten auf, sich nicht an den Feindseligkeiten zu beteiligen und ruft alle Rekruten auf, den Militärdienst zu verweigern“, erklärte Alexia Tsouni, die Präsidentin des European Bureau for Conscientious Objection, am 15. März.

Kategorie: Titel Stichworte: 202201, Asyl, Deserteure, KDV, Kriegsdienstverweigerung, Nato, Russland, Ukraine, Ukraine-Krieg

30. Mai 2022

Global betrachtet

Titel

Pazifismus und Kriegsdienstverweigerung in kriegerischen Zeiten

Von David Scheuing

Es ist geschehen, was viele Pazifist*innen zu verhindern suchten: Erneut herrscht Krieg in der Ukraine, erneut ein Krieg in Europa. Der Wille zur Erklärung, zur Ursachensuche, auch zur Selbstreflexion ist allerseits groß, trotz all des Kriegsgetöses, der dramatisch vertieften Militarisierung der Öffentlichkeit, der Außenpolitik, der „Friedens“politik. 

Auch international beschäftigt der Angriffskrieg auf die Ukraine viele Aktivist*innen – von Einschätzungen des lateinamerikanischen Netzwerk Red Antimilitarista de América Latina y el Caribe (Ramalc) über Solidarität aus den USA bis hin zu ukrainischen Aktivist*innen selbst. 

Ich versuche mich an einer kleinen Darstellung der diversen Stellungnahmen, Positionen und Einschätzungen weltweit.

Vorahnungen, Kriegsgetrommel, Warnungen

In den Tagen vor Beginn der russischen Offensive hatte die Ukrainische Pazifistische Bewegung (UPM) noch dazu aufgerufen, dass beide Seiten sich dringend um die Beilegung der Spannungen bemühen sollten (19. Februar; https://bit.ly/3JXI2Jh).

Die Analysen weiter Teile der europäischen und internationalen Pazifist*innen sahen die gegenseitige Eskalationsdynamik und die drohende Gefahr eines nuklearen Krieges deutlich – seit Jahresbeginn wuchs von Woche zu Woche die Anzahl der Statements, Forderungen und Positionspapiere, das Blätterrauschen war gewaltig. Stellvertretend dafür nur die gemeinsame Stellungnahme der War
Resisters´ International (WRI)
 vom 10. Februar: https://bit.ly/3LhWJHs. In ihr drückt dieses größte Netzwerk der Pazifist*innen seine Verurteilung der Kriegsvorbereitungen der Nato und Russlands aus, „die derzeit militärische Reaktionen auf die aktuelle politische Krise in der Ukraine erwägen. Wenn ein Krieg ausbricht, wird er Tod, Zerstörung, Leid, Massenflucht, eine Wirtschaftskrise und viele andere Folgen mit sich bringen.“ 

Die praktischen Konsequenzen dieser Vorahnungen lassen sich nun betrachten.

Prompte Reaktionen

In den frühen Morgenstunden des 24. Februar begann mein Mobiltelefon zu vibrieren – eine E-Mail folgte der nächsten. 

Der Bund für Soziale Verteidigung (BSV) hatte ein erstes vorläufiges Statement verfasst, der erste dringende Appell der UPM wurde in viele weitere Sprachen übersetzt (auf Deutsch bei der DFG-VK Hessen: https://bit.ly/3tQ5H8T), ein erstes Statement der WRI erschien (https://bit.ly/3uxySfW). Viele weitere Statements sollten diesen ersten Reaktionen bis in die Abendstunden des ersten Tages folgen; diese sind auch über die Homepage der WRI zu finden. 

Hier stellvertretend ein Auszug aus dem Statement des lateinamerikanisch-karibischen Netzwerks Ramalc: „Wir lehnen die zwischenimperialistischen Bestrebungen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO) und der Nato ab, das ukrainische Territorium in ein Laboratorium für Zerstörung und Krieg zu verwandeln, und wehren uns dagegen. Wir lehnen die Massenrekrutierung junger Menschen ab, die gegen ihren Willen zur Teilnahme am Krieg gezwungen werden.“ (https://bit.ly/3IPHG6g), auch aus der russischen Zivilgesellschaft. 

Aktivist*innen haben eine beeindruckende Liste der unterschiedlichen Stellungnahmen veröffentlicht, die wirklich zur Lektüre zu empfehlen sind – leider über ein Google-Doc: https://bit.ly/3tSnnk4

Mittlerweile existieren eine ganze Reihe an Sammlungen diverser Stellungnahmen, hier sei auf die Liste des BSV verwiesen: https://bit.ly/3JUOC35

Ziviler Ungehorsam, Soziale Verteidigung und Kriegsdienstverweigerung

Herausgefordert von der Realität eines konkreten Krieges stellte die erschrockene Öffentlichkeit in den kommenden Tagen und Wochen an viele Pazifist*innen die immer wieder gleichen Fragen: Wie könnt ihr Pazifist*innen sein angesichts des Schreckens und der Gewalt? Wie würdet ihr denn den Krieg beenden? 

Sicherlich haben viele irgendwo zwischen introspektiver Reflexion und aufrechter Haltung die Mittel, Wege und Ziele der Sozialen Verteidigung ins Spiel gebracht (viele gelebte Beispiele davon auf den Seiten des BSV: https://bit.ly/3LrODfg) und sich mit denen solidarisch erklärt, die dem Kriege gewaltfrei widerstehen. 

Ganz in diesem Sinne die jüngste Erklärung der WRI „in Solidarität mit all denen, die dem Krieg gewaltfrei widerstehen“ (https://bit.ly/3NAA8Yo; auf Deutsch bei Connection e.V.: htps://bit.ly/3JSENmt). 

Berichte über erste „polizeiliche“ Gängelungen, Festsetzungen u.a. von Aktivist*innen in den besetzten Teilen der Ukraine, auf die ebenso schnell wieder die Freilassungen erfolgten, lassen hoffen, dass dies auch als Stärke der internationalen Vernetzung und dringlicher Alarmaktionen gesehen werden kann, müssen aber vor allem kritisch beobachtet und begleitet werden. Die Beschneidung der Rechte der Zivilgesellschaft durch die Handlungsuntersagung von bestimmten Parteien und die totale Mobilmachung bei gleichzeitig nicht nutzbaren Rechten auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine müssen ebenso unsere Kritik finden. 

Zudem sind die Aufrufe zur Desertion an alle beteiligten Soldat*innen unumgänglich – alles Kernaufgaben und Kernforderungen der DFG-VK. Connection e.V. ruft im Bündnis mit Pro Asyl nun die Bundesregierung auf, hier endlich klare Asylschutzgründe zu etablieren und Asyl zu gewähren (siehe: https://bit.ly/3JSncLv). 

Einen knappen Überblick über die derzeit geltende rechtliche Lage bietet Pro Asyl: https://bit.ly/3LIvRAL

Jenseits des direkten Krieges. 

Die Auswirkungen des Sanktionsregimes (bzw. der unterschiedlichen Regime) sind deutlich zu spüren, und die panischen Diversifizierungsversuche der verschiedenen europäischen Regierungen deuten schon auf die wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und diplomatischen Folgen hin, die mit ihnen einhergehen werden. 

Beim Internationalen Friedensbüro (IPB) begann vor Kurzem eine Veranstaltungsreihe der Arbeitsgruppe zu Afrika, die sich mit den Auswirkungen des Krieges auf den afrikanischen Kontinent beschäftigt. Beim ersten Webinar am 14. März sprachen die Teilnehmenden über die zu erwartenden Auswirkungen im laufenden Jahr und die daraus erwachsenden Instabilitäten, wie beispielsweise den Auswirkungen auf die Agrarmärkte: „Zweifellos rückt diese Situation die Sorge um die Ernährungssicherheit in Afrika in den Vordergrund, das in der Vergangenheit viele Ernährungskrisen erlebt hat“. 

Doch der Krieg betrifft viele weitere Dimensionen des Alltags, daher ist der Bericht sehr lesenswert: https://bit.ly/3tP5RgB

Kurz notiert:

Europa: Enaat, das europäische Netzwerk gegen Waffenhandel, hat Mitte März in Kooperation mit dem Transnational Institute TNIeine größere Studie zum „Neuen Wettrüsten“ der EU veröffentlicht. Der Bericht fasst die größeren Entwicklungen der Militarisierungsbemühungen der EU zusammen und expliziert die Folgen an drei konkreten Fallbeispielen (Irland, Frankreich, Niederlande). 

Gerade diese drei, für deutschsprachige Leser*innen eher ungewohnten Beispiele eignen sich sehr gut für ein besseres Verständnis der immer weiter ausgreifenden Militarisierungstendenzen der EU. (enaat.org)

Global: Unter den Schatten des Krieges sollte nicht vergessen werden, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung auch an vielen anderen Orten dieser Erde dramatisch eingeschränkt ist. 

Alljährlich erinnert die WRI mit einer Liste aller ihr bekannten verknasteten KDVler*innen an dieses Unrecht. Die Liste ist einsehbar und soll dazu animieren, sich für diese Menschen einzusetzen – in Wort (durch Briefeschreiben, Appelle unterzeichnen u.a.) und Tat (durch aktive Arbeit für die Rechte der KDVler*innen). Die aktuelle Liste findet sich hier: https://bit.ly/3r9gV6T

Kategorie: Titel Stichworte: 202201, Asyl, Deserteure, KDV, Kriegsdienstverweigerung, Nato, Russland, Ukraine, Ukraine-Krieg

19. Dezember 2021

Mehr im Hintergrund, aber solide und gut

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 3/2021

Kriegsdienstverweigerung

European Bureau for Conscientious Objection (Ebco) – Europäisches Büro für KDV

Von Guido Grünewald

„Was macht eigentlich das Ebco?“, fragte unser politischer Geschäftsführer, Michi Schulze von Glaßer, vor einigen Wochen in einem Telefongespräch. Eine kurze Antwort könnte lauten: Ebco leistet mit geringen Ressourcen eine gute, solide Arbeit. 

Juristisch eine Körperschaft nach belgischem Recht mit Sitz in Brüssel, was die Erfüllung komplizierter Regularien erfordert, ist Ebco in der Praxis ein Netzwerk von 30 bis 40 Individuen, die größtenteils Mitglied in pazifistischen Organisationen sind und diese teilweise offiziell repräsentieren. Ebco hat kein festes Büro, sondern nur eine Postadresse im Brüsseler Maison de la Paix und keine bezahlten Mitarbeiter:innen; die gesamte Arbeit erfolgt ehrenamtlich mit einem lächerlich geringen Jahresetat von knapp 4 000 Euro. 

Jeweils im Frühjahr und Herbst treffen wir persönlich zusammen, ansonsten kommunizieren wir per E-Mail. Nach mehrmaligen coronabedingt digitalen Zusammenkünften konnten wir Anfang Oktober erstmals wieder ein Präsenztreffen in Brüssel abhalten, bei dem allerdings nur ein kleiner Teilnehmer:innenkreis anwesend war; andere Aktive waren digital zugeschaltet. Wir haben unser Zusammentreffen zu einer Unterstützungsaktion für Ruslan Kozaba vor der Mission der Ukraine bei der Europäischen Union genutzt. 

Während Ebco-Mitgliedsorganisationen häufiger auf der Straße aktiv werden, erfolgt die Arbeit des Büros selbst hauptsächlich im Hintergrund: Recherche und Erstellung des jährlichen Berichts zur Lage der Kriegsdienstverweigerung (KDV) in Europa; Erklärungen zur Unterstützung einzelner Kriegsdienstverweigerer (KDV-er) oder von KDV-Organisationen sowie Unterstützung von Asylanträgen; Lobbyarbeit im Europäischen Jugendforum, in dem Ebco Mitglied ist, im EU-Parlament, beim Europarat und den Menschenrechtsinstitutionen der Vereinten Nationen. 

Dies erfolgt häufig in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Versöhnungsbund (IFOR), der War Resisters‘ International (WRI) und dem Quaker-Büro bei den Vereinten Nationen (QUNO), die alle Mitgliedsorganisationen des Ebco sind; auch mit Amnesty International und Connection e.V. ist die Zusammenarbeit gut. Seit Kurzem hat Ebco außerdem die Befugnis, unter Bezug auf die Europäische Sozialcharta eine Kollektivklage beim Europäischen Ausschuss für Sozialrechte einzureichen. Dies kann eventuell in Bezug auf die Ausgestaltung des Zivildienstes in einzelnen Staaten relevant werden.

Ebco-Aktivitäten im Jahr 2021

Hier einige Ebco-Aktivitäten des laufenden Jahres: internationale Solidaritätserklärung zugunsten israelischer KDVer; diverse Statements und Aktionen zur Unterstützung Ruslan Kozabas; Veröffentlichung des Berichts Conscientious Objection to Military Service in Europe 2020 (https://bit.ly/3CUaVCD); Eingabe beim UN-Menschenrechtsrat gemeinsam mit der Vereinigung griechischer KDV-er anlässlich des Universal Periodic Review zu Griechenland; Erklärung, dass Finnland den Empfehlungen des UN-Menschenrechtsausschusses folgen sollte; Erklärung zur Unterstützung türkischer KDVer am 15. Mai, dem internationalen Tag der KDV; gemeinsame NGO-Erklärung zugunsten des griechischen Verweigerers Charis Vasileou; Erklärung zum Internationalen Friedenstag (21. September), in der auf die Bedeutung der KDV hingewiesen wird.

Im Zentrum der Diskussionen standen im laufenden Jahr die schwierige Situation der KDVer in Griechenland, der Türkei und in der Ukraine. Die ersten beiden Staaten sind leider „Dauerbrenner“, in denen sich nur kleine (Griechenland) oder gar keine Fortschritte abzeichnen. Der Verein für KDV (Vicdani Ret Derneği) in Istanbul hat eine ausführliche Darstellung der schlimmen Lage der KDVer in der Türkei in englischer Sprache veröffentlicht, auch mit einigen Fallbeispielen. Die zusammenfassende Einleitung mit konkreten Empfehlungen an die türkischen Behörden und internationale Menschenrechtsgremien hat Rudi Friedrich von Connection e.V. dankenswerter Weise ins Deutsche übersetzt (https://bit.ly/3kaJbSK; Gesamtstudie in Englisch unter https://bit.ly/3nZfsxr). 

In der Ukraine wurde kürzlich neun protestantischen KDVern die Anerkennung verweigert; im Juli wurde ein Gesetz verabschiedet, das einen patriotischen Unterricht für alle Schüler:innen (Alter: 6-18) sowie eine vormilitärische Ausbildung in den beiden letzten Schuljahren (Alter: 16-18) obligatorisch vorschreibt. 

Sorgen bereitet auch die Entwicklung in beiden Teilen Zyperns, wo die vor einigen Jahren begonnene Initiative für ein KDV-Gesetz folgenlos verpufft ist und durch die Verknüpfung der Datenbanken von Polizei und Militär nun alle, die ihrer Pflicht zu Reserveübungen nicht nachgekommen sind, leichter identifiziert und festgehalten werden können. 

Während in der Schweiz ein Frontalangriff auf den Zivildienst abgewehrt wurde, beendete Finnland die den Zeugen Jehovas bisher zugestandene Befreiung von Militär- und Alternativdienst. Der Alternativdienst weist nach wie vor eine unverhältnismäßige Dauer auf , und es gibt Bestrebungen, ihn in ein Gesamtverteidigungskonzept unter dem Label „umfassende Sicherheit“ zu integrieren. 

Kompliziert ist auch die Lage in Russland. Die Organisation „Soldatenmütter“ in St. Petersburg hat die Abteilung, die Informationen über Menschenrechtsverletzungen in der Armee sammelte, geschlossen. Ursache ist eine Liste von 60 Themen, die der Föderale Sicherheitsdienst, der größte inländische Geheimdienst, Ende September veröffentlicht hat. Jede Person und jede Organisation, die diese Themenfelder öffentlich berührt, kann als „ausländischer Agent“ eingestuft werden, was u.a. dazu führt, dass dieses Label auf allen Publikationen erscheinen muss. „Die Zeiten sind in der Tat hart in Russland“, schrieb unsere russische Kontaktperson. Eine internationale Solidaritätserklärung sei nicht hilfreich, im Gegenteil, sie bestätige den russischen Behörden, dass es sich tatsächlich um ausländische Agenten handle. „Das muss von der russischen Bevölkerung beendet werden, und ich hoffe, das geschieht noch zu meinen Lebzeiten.“ 

Unter der agilen Präsidentin Alexia Tsouni von der Vereinigung griechischer KDVer und von Amnesty International, die seit einem Jahr Friedhelm Schneider abgelöst hat, wendet sich Ebco auf diversen Kanälen stärker an die Außenwelt. 

Beispiele sind diverse politische Erklärungen u.a. zum Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrags, ein Video mit persönlichen Botschaften (https://bit.ly/3o9zPIu und die aktive Teilnahme am Weltkongress des Internationalen Friedensbüros (https://bit.ly/3qaFobY).

Im Hinblick auf eine Erklärung zum Nakba-Tag, die Alexia Tsouni verfasst hatte und die am 15. Mai ohne vorherige Konsultation veröffentlicht wurde, haben Friedhelm Schneider, die Vertreterin der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) und ich für die DFG-VK Protest eingelegt. Wir haben bemängelt, dass die Erklärung in einer Situation einer aktuellen militärischen Auseinandersetzung keinen Aufruf zur sofortigen Beendigung jeglicher Gewaltanwendung seitens aller Seiten enthielt, einseitig als Unterstützung der Palästinenser (keine Unterscheidung zwischen Zivilbevölkerung, den Regierungen in Palästina und bewaffneten Brigaden) verstanden werden konnte und nicht auf die Perspektive hinwies, dass der Konflikt nur mit diplomatischen und gewaltfreien Mitteln und dem Ende der Besatzung gelöst werden kann. Nach einer langen Diskussion wurde im Digitaltreffen Anfang Juni entschieden, Statements künftig erst nach vorheriger Konsultation in der E-Mail-Gruppe zu verabschieden. Die bereits veröffentlichte Erklärung zum Nakba-Tag wurde auf der Webseite durch eine in unserem Sinne überarbeitete Version ersetzt.

Guido Grünewald ist internationaler Sprecher der DFG-VK, deren Vertreter bei Ebco und dort im Vorstand.

Kategorie: Kriegsdienstverweigerung Stichworte: 202104, international, KDV

1. September 2021

„Sich am Unrecht nicht beteiligen“

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 4/2021

Kriegsdienstverweigerung

Die Bedeutung der Kriegsdienstverweigerung im eigenen Leben

Von Stefan Philipp

Hermann Brinkmann war Kriegsdienstverweigerer. Und Soldat. 1973 war er im Rahmen der Wehrpflicht zur Bundeswehr eingezogen worden. Sein Antrag auf KDV war abgelehnt worden, und er wurde zum Militärdienst gezwungen. Das konnte der Pazifist nicht lange ertragen und nahm sich am 20. Januar 1974 das Leben, was damals bundesweit durch eine Todesanzeige der Familie in der FAZ Aufmerksamkeit fand und Betroffenheit erzeugte.

Seine 1990 geborene Nichte Hannah Brinkmann hat diese tragische Auseinandersetzung ihres Onkels mit Kriegsdienstzwang und Militär in einer Graphic Novel verarbeitet (Gegen mein Gewissen. Berlin 2020; siehe auch das Interview mit Hannah Brinkmann in ZivilCourage 5/2020, S. 14 f.). Dieses Buch führte auch bei einigen DFG-VK-Mitgliedern zum Nachdenken darüber, welche Bedeutung die eigene Kriegsdienstverweigerung hatte und auch heute noch hat. So hat beispielsweise Robert Hülsbusch diese Erfahrung reflektiert und in der letzten ZivilCourage geschildert, wie Bundeswehr und Kriegsdienstverweigerung sein Leben „reich“ gemacht hätten (https://bit.ly/3mAHvE6).

Da bis Anfang der 1980er Jahre ausnahmslos alle KDVer das zurecht als Inquisition gebrandmarkte KDV-Anerkennungsverfahren durchlaufen mussten, veranstalteten die DFG-VK, Connection e.V. und die Evang. Arbeitsgemeinschaft für KDV und Frieden (EAK) Mitte Mai eine offene digitale Gesprächsrunde zum Thema „Die eigene Kriegsdienstverweigerung als lebensgeschichtlich bedeutsames Ereignis“. 

Moderiert von Ute Finckh-Krämer, frühere Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung und SPD-Bundestagsabgeordnete, berichteten und diskutierten neben Hannah Brinkmann ZeitzeugInnen mit unterschiedlichsten Hintergründen über ihre Entscheidung und ihre Erfahrungen zur KDV vor 50 Jahren. Die Aufzeichnung ist nun im Internet abrufbar unter https://youtu.be/HLX5f5z9J4c

Mehrere Dutzend Interessierte hörten und sahen sich per Zoom die Statements der ReferentInnen an: Hannah Brinkmann, Werner Glenewinkel (früherer Vorsitzender der Zentralstelle KDV), Rudi Friedrich (Mitbegründer und Geschäftsführer von Connection e.V.), Gaby Weiland (langjährige KDV-Beraterin), Michael Zimmermann (KDVer in der DDR), Gernot Lennert (Geschäftsführer des DFG-VK-Landesverbands Hessen) und Markus Stettner-Ruff (in den 1980er Jahren als Totaler KDVer vor Gericht).

Die Beteiligung am KDV-Verfahren legitimierte die Inquisition

Aus einigen Beiträgen entwickelten sich Diskussionen, auch über die Veranstaltung hinaus. Markus Stettner-Ruff hatte als sich aus der KDV-Entscheidung ergebende Handlungsforderung formuliert: sich nicht an Unrecht beteiligen. Ich griff das auf und konkretisierte dies rückblickend für das KDV-Anerkennungsverfahren.

In den mündlichen Gewissensprüfungen saßen die KDV einem Vorsitzenden gegenüber, der von der Wehrverwaltung kam, sowie von den Landkreisen entsandten BeisitzerInnen, in der Regel also Menschen aus den politischen Parteien. In den Prüfungsausschüssen und -kammern waren damit fast immer auch SozialdemokratInnen vertreten und damit den KDVern tendenziell positiv Gegenüberstehende.

Die Beteiligung an diesen Gremien gab dem Verfahren, das von der DFG-VK und anderen zurecht als Inquisition bezeichnet wurde, einen korrekten und „sauberen“ Anstrich. 

Sonnhild Thiel, langjährige Aktivistin, DFG-VK-Ehrenmitglied und damals SPD-Mitglied, schrieb mir danach: „Ich war einige Jahre im Prüfungsausschuss. … Sehe das nicht als Beteiligung am Unrecht.“

Ja, subjektiv war das sicher so, im Gegenteil wollten manche BeisitzerInnen den KDVern helfen und lehnten das Verfahren eigentlich ab. Gleichzeitig wurden sie aber Teil der Gewissensprüfung und legitimierten sie.

Strategisch wäre es auch damals für (linke) SozialdemokratInnen denkbar gewesen, das Verfahren zu brandmarken und eine Beteiligung abzulehnen. Vielleicht wäre diese Form der Gewissensprüfung früher vorbei gewesen und nicht schließlich erst von einer CDU/CSU geführten Regierung abgeschafft worden. Eine Diskussion darüber gab es damals aber nicht. 

Stefan Philipp ist Chefredakteur der ZivilCourage und hat als Totaler Kriegsdienstverweigerer in den 1980er Jahren alle sich aus der Wehrpflicht ergebenden Auflagen, also Militär- oder Zivildienst verweigert.

Kategorie: Kriegsdienstverweigerung Stichworte: 202103, KDV, Wehrpflicht

27. Mai 2021

KDV in der Türkei

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 2/2021

Kriegsdienstverweigerung

Lebenslange Verfolgung von türkischen Kriegsdienstverweigerern

Von Rudi Friedrich

Arif Hikmet İyidoğan ist inzwischen 60 Jahre alt. 1994 hatte er in der Türkei seine Kriegsdienstverweigerung erklärt. Kurze Zeit später hatte die DFG-VK Nordrhein-Westfalen ihn zu einem Besuch in Deutschland eingeladen, um über die Verfolgung der Verweigerer in der Türkei zu berichten. Inzwischen ist die Türkei der einzige noch verbliebene Mitgliedsstaat des Europarates, der die Kriegsdienstverweigerung nicht anerkennt. 

Und so wird Arif Hikmet İyidoğan nach wie vor als wehrflüchtig angesehen. Bei jeder Kontrolle, auf den Straßen, in Bussen oder wo auch immer wird er festgehalten und dann immer wieder angeklagt. Jedes Mal wird die Geldstrafe erhöht. Außerdem droht ihm eine Haftstrafe.

60 Jahre – und immer noch wehrpflichtig? 

Viele können das gar nicht glauben. Aber in der Tat hat die Türkei in den letzten Jahren selbst 70- oder 80-Jährige zum Militärdienst einberufen. Die für alle Männer geltende Wehrpflicht erlischt erst dann, wenn sie erfüllt ist.

So führt Arif Hikmet İyidoğan ein Leben im Geheimen – eine Situation, die er mit vielen anderen teilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte brandmarkte dies als „zivilen Tod“. Da die Verweigerer ohne Ableistung des Militärdienstes keinen Pass erhalten, können sie keine Wohnung mieten, keinen Führerschein machen, nicht heiraten, keinen legalen Job annehmen. Sie sind nicht sozialversichert und können nicht an Wahlen teilnehmen. Praktisch sind sie ihrer bürgerlichen Rechte beraubt. Mehr als 1 000 haben ihre Kriegsdienstverweigerung in den letzten Jahren öffentlich erklärt, weitere Hunderttausende entziehen sich dem Militärdienst und leben illegal im eigenen Land.

Für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung

2013 hatten sich in Istanbul Kriegsdienstverweigerer und -verweigerinnen zusammengefunden, um den Verein für Kriegsdienstverweigerung, Vicdani Ret Derneği, zu gründen. Im Herbst letzten Jahres startete Vicdani Ret Derneği eine neue Kampagne, um endlich das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung durchzusetzen. Schon zu lange verweigert sich die Türkei internationalen Resolutionen und Urteilen europäischer Gerichte. Zuletzt hatte das Ministerkomitee des Europarates, das über die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wacht, 2020 von der Türkei gefordert, die Strafverfolgung von Kriegsdienstverweigerern einzustellen, den Betroffenen Entschädigungen zu zahlen und das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen.

Mit der Kampagne möchte Vicdani Ret Derneği die Motive und Anliegen der Verweigerer durch Veröffentlichungen, Videos und Aktionen bekannter und sichtbarer machen. Zudem baut der Verein systematisch ein Beratungsnetz und rechtliche Unterstützung für Kriegsdienstverweigerer auf. In einigen Fällen wurden bereits Beschwerden beim türkischen Verfassungsgericht eingelegt. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Dokumentation des „zivilen Todes“. Ergänzt wird dies durch internationale Lobbyarbeit.

Regelmäßige Berichte und Informationen

Alle zwei Monate berichtet Vicdani Ret Derneği im „Bulletin Kriegsdienstverweigerung“ über die Arbeit des Vereins, fasst aktuelle Meldungen von Kriegsdienstverweigerern zusammen und veröffentlicht neue Kriegsdienstverweigerungserklärungen. Das in türkischer Sprache erscheinende Bulletin ist in deutscher Sprache erhältlich unter www.Connection-eV.org/CO_Turkey

Aufgrund der Aktivitäten des Vereins wurden inzwischen mehrere Ermittlungen und Strafverfahren gegen Aktive des Vereins eingeleitet. Angesichts der aktuellen Menschenrechtslage in der Türkei ist es den Aktiven des Vereins wichtig, auf internationale Unterstützung bauen zu können. Eine solch breit angelegte Kampagne kostet auch Geld. Und so bittet Vicdani Ret Derneği um Unterstützung für die Arbeit. Steuerbegünstigte Spenden über www.Connection-eV.org/kdvtuerkei werden von Connection e.V. gerne weitergeleitet. 

Spenden können auch direkt mit dem Stichwort „Kriegsdienstverweigerung Tuerkei“ überwiesen  werden an  IBAN DE48 3702 0500 0007 0857 00

Weitere Informationen unter www.vicdaniret.org, www.Connection-eV.org/CO_Turkey

Rudi Friedrich ist langjähriges Mitglied der DFG-VK und Geschäftsführer von Connection e.V.

Kategorie: Kriegsdienstverweigerung Stichworte: 202102, Connection, international, KDV, Menschenrecht

26. Mai 2021

„… und das ist gut so!“

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 2/2021

Kriegsdienstverweigerung

Früherer Vorstand der Zentralstelle KDV zur Wehrpflicht-Aussetzung vor 10 Jahren

Erklärung zur Wehrpflicht der früheren Vorstandsmitglieder  der (2011 aufgelösten) Zentraltelle KDV vom 17. März 2021 mit dem Titel: Vor zehn Jahren beschloss der Deutsche Bundestag das Ende der Wehrpflicht – und das ist gut so

Vor zehn Jahren, am 24. März 2011, beschloss der Deutsche Bundestag die Aussetzung der Wehrpflicht. Seit dem 1. Juli 2011 kann der Dienst in der Bundeswehr nur noch freiwillig geleistet werden. Durch diese Aussetzung der Wehrpflicht wurde die Bundeswehr von damals rund 255 000 Soldat*innen auf rund 185.000 verkleinert.

Die kurz nach Einführung der Wehrpflicht im Jahr 1957 gegründete Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e.V. (Zentralstelle KDV), eine gemeinsame Einrichtung von 26 Mitgliedsorganisationen*, feierte im Mai 2011 das Ende der Wehrpflicht und löste sich mit einem Beschluss der Mitgliederversammlung selbst auf.

Zum zehnten Jahrestag dieser „historischen Entscheidung“ des 24. März 2011 erklären die damaligen Mitglieder des letzten Vorstands der Zentralstelle KDV, Dr. Werner Glenewinkel, Michael Germer, Stefan Phi-lipp, Hans-Jürgen Wiesenbach, Eberhard Kunz, Ernst Potthoff und Herbert Schulz sowie die damalige Präsidentin Dr. Margot Käßmann und der damalige Geschäftsführer Peter Tobiassen:

Unwürdige Überprüfungsverfahren für die Gewissensentscheidungen der KDVer

Mit dem Wegfall der Wehrpflicht endete auch das unwürdige und inquisitorische Überprüfungsverfahren für die Gewissensentscheidungen der Kriegsdienstverweigerer, die gegen ihren Willen und ihr Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe einberufen werden sollten. Hunderttausendfach wurden in diesen Verfahren Kriegsdienstverweigerer zu Unrecht abgelehnt, Zehntausende wurden gegen ihr Gewissen zum Waffendienst gezwungen. Tausende gingen daraufhin ins Exil nach Westberlin (bis 1989 ohne Wehrpflicht) oder ins Ausland, einige – wie Hermann Brinkmann – verzweifelten an den Fehlentscheidungen der Wehrbehörden so sehr, dass sie nicht mehr weiterleben konnten. (Comic: Gegen mein Gewissen – Die ganze Doku | ARTE oder Das Schicksal von Hermann Brinkmann als Graphic Novel | NDR.de – Fernsehen – Sendungen A-Z – Hamburg Journal) Wir wissen aber auch: Nach wie vor gibt es diese Gewissensprüfungen für Soldatinnen und Soldaten, die aus der Bundeswehr heraus verweigern.

Die Wehrpflicht zerstörte hunderttausendfach Ausbildungs- und Berufswege

Die Einberufungen zum Wehr- und Zivildienst, oft schon die behördlichen Ankündigungen eines sol-chen Vorhabens, verzögerten, behinderten und zerstörten in vielen Fällen Ausbildungs- und Berufs-wege sowie Lebensplanungen. Die Zentralstelle KDV hat im „Schwarzbuch Wehrpflicht“ zur Jahreswende 2006/2007 zahlreiche Fälle dokumentiert, wie die Wehrpflicht negativ in Lebenswege eingriff. 

Um die Wehrpflicht zu halten, gab es staatliche Willkürregelungen

Aus der durch das Grundgesetz nur als Möglichkeit zugelassenen, dann aber rechtlich zwingend allgemeinen Wehrpflicht formten staatliche Vorgaben sehr schnell eine willkürliche Wehrpflicht. Üblicherweise – so die Erfahrungen in anderen Staaten mit Wehrpflicht – beträgt der Anteil aus gesund-heitlichen Gründen nicht wehrdienstfähiger Männer ca. 10 Prozent am Jahrgang. Das Bundesverteidigungsministerium veränderte die Musterungskriterien willkürlich so, dass in den letzten Jahren der Wehrpflicht hier in Deutschland mehr als die Hälfte der Gemusterten für „nicht wehrdienstfähig“ erklärt wurden. Der Grund: Es konnten in die verkleinerte Bundeswehr immer weniger Rekruten einberufen werden. Um den Schein der Wehrgerechtigkeit zu wahren, wurde die Hälfte eines Jahrgangs willkürlich von der allgemeinen Wehrpflicht befreit. Offensichtliche Willkür untergräbt das Vertrauen in einen Rechtsstaat. 

Argumente für den Wegfall der Wehrpflicht sorgfältig geprüft

Im Vorwort zum „Schwarzbuch Wehrpflicht“ schrieb Margot Käßmann als damalige Präsidentin der Zentralstelle KDV Anfang 2007:

„Die Zentralstelle KDV hat sich in den vergangenen 15 Jahren nicht nur mit der Forderung nach dem Wegfall der Wehrpflicht befasst, sondern auch mit den möglichen Folgen: Ist eine Freiwilligenbundeswehr demokratieverträglich? Was wird aus dem berühmten „Bürger in Uniform“? Bricht der Sozialbereich zusammen, wenn es keine Zivis mehr gibt? Was wird aus Diakonie und Caritas? Kann eine allgemeine Dienstpflicht die Wehrpflicht gerechter machen? Gründlich und breit diskutiert und wohlüberlegt können wir nach all den Debatten sagen: Wir können auf die Wehrpflicht verzichten! Freiwillig ist besser und einer freiheitlichen Demokratie ohnehin angemessener. Zudem gibt eine Gesellschaft ein deutliches Signal ihres Friedenswillens, wenn sie ihren Bürgern keine Pflicht zum Waffendienst mehr auferlegt. Das würde uns in Deutschland gut anstehen.“ 

Heute wissen wir,

  • dass es nach wie vor rechtsradikales Gedankengut unter den Soldat*innen gibt, in der Wehr-pflicht-Bundeswehr bis vor zehn Jahren waren aber 70 % der überführten Täter bzw. noch Tat-verdächtigen Grundwehrdienstleistende und freiwillig länger Wehrdienst Leistende (so z.B. Angaben im Bericht des Wehrbeauftragten, BT-Drucksache 16/4700, Seite 45);
  • dass der Sozialbereich nicht zusammengebrochen ist, als die letzten Zivis aus dem Dienst ausge-schieden sind. Insgesamt ist die Zahl der Beschäftigten bei den Wohlfahrtsverbänden von 2008 bis 2016 sogar von 1,5 auf 1,9 Millionen Mitarbeitende gestiegen. (BAGFW, Gesamtstatistik 2016);
  • dass der Wunsch nach einer „allgemeinen Dienstpflicht“ jedes Jahr erneut durch das Presse-sommerloch getrieben wird, ohne dass diejenigen, die das fordern, sagen können, wie es denn praktisch gehen soll, mehr als 700 000 Männer und Frauen eines Jahrgangs jedes Jahr neu in Dienstpflichteinrichtungen zwangsweise unterzubringen.

Eine freiheitliche Gesellschaft lebt vom freiwilligen Mitmachen

Eine freiheitliche Gesellschaft lebt vom freiwilligen Mitmachen. Der damalige Generalsekretär der aej, Mike Corsa, fügte in dem Vorwort zum „Schwarzbuch Wehr-pflicht“ hinzu: „Die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (aej) setzt auf diese Freiwilligkeit. Erzwungene Dienste behindern Engagement und Identifikation. Eine freiheitliche Gesellschaft lebt vom freiwilligen Mitmachen der Bürgerinnen und Bürger eines Lan-des. Dafür kann und muss natürlich geworben und motiviert werden – wer sich engagiert, sollte dadurch auch Vorteile haben. Politische Konzepte werden so eine „Abstimmung mit den Füßen“ erleben. Menschen entscheiden durch ihr freiwilliges Mitmachen, was sie für unterstützenswert halten.“

Gefährlicher und falscher Glaube an die friedensschaffende Wirkung von Militär

Zehn Jahre nach dem Ende der Wehrplicht wissen wir, dass die Entscheidung des Deutschen Bundestages ein erfreuliches Ereignis war, deren positive Wirkung für Millionen junger Männer, die ab 2011 18 Jahre alt wurden und werden, nicht hoch genug geschätzt werden kann. Wir wissen aber auch, dass mit dem Wegfall der Wehrpflicht der gefährliche und falsche Glaube an die friedensschaffende Wirkung von Militär nicht vom Tisch ist. Nach wie vor prägen Stichworte wie Erreichen des 2-%-Zieles, Bewaffnung von Drohnen, Festhalten an Waffenexporten die sicherheitspolitischen Diskussionen, statt – wie es eigentlich richtig wäre – Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung deutlich in den Vordergrund zu stellen und „Sicherheit neu zu denken“. 

Mitgliedsverbände der Zentralstelle KDV im Jahr 2011

• Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden 
• Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in der Bundesrepublik Deutschland 
• Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung 
• Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands 
• Deutsche Friedensgesellschaft – Internationale der KriegsdienstgegnerInnen 
• Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen 
• Deutscher Bundesjugendring 
• Deutscher Gewerkschaftsbund, Abt. Jugend (DGB-Jugend) 
• Deutsches Mennonitisches Friedenskomitee 
• Eirene – Internationaler Christlicher Friedensdienst 
• Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden 
• Evangelische Jugend Thüringen 
• Evangelische Studentengemeinde in der Bundesrepublik Deutschland 
• Grüne Jugend – Bundesverband 
• Internationale der KriegsdienstgegnerInnen 
• Internationaler Versöhnungsbund – deutscher Zweig 
• Jungsozialisten in der SPD 
• Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär 
• Komitee für Grundrechte und Demokratie 
• Pax Christi – internationale katholische Friedensbewegung, deutsche Sektion 
• Pfarramt für Friedensarbeit, Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende 
• Religiöse Gesellschaft der Freunde, Deutsche Jahresversammlung 
• Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein 
• Service Civil International, Deutscher Zweig 
• Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken 
• Vereinigung Evangelischer Freikirchen, AG Betreuung der KDV und ZDL

Kategorie: Wehrpflicht Stichworte: 202102, KDV, Zentralstelle

25. März 2021

KDV bleibt wichtig!

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 1/2021

Kriegsdienstverweigerung

Ein Brief an Hannah Brinkmann, die Autorin des Buches „Gegen mein Gewissen“

Von Werner Glenewinkel

Liebe Frau Brinkmann!
Ihr Buch „Gegen mein Gewissen“ – vorgestellt in dem Interview mit Ihnen in der ZivilCourage 5/2020 und in der Connection-Zeitschrift „KDV im Krieg“ 5/2020 – beginnt 1956 mit der Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht und endet 2015 mit Ihrer Entscheidung, die Geschichte Ihres Onkels Hermann aufzuarbeiten. Zunächst gegen den Widerstand der Familie, insbesondere Ihres Vaters, Hermanns Bruder Hans. Sein „Was gibt es da noch zu erzählen?“ wandelt sich im Verlauf Ihrer Recherche-Arbeit zu „Toll, dass du Hermanns Geschichte erzählst!“ und endet damit, dass Hermanns Geschichte für alle einen „Sinn“ bekommen hat. 

Damit umspannt Ihr Buch fünf Jahrzehnte politischer Auseinandersetzung – von der Einführung der Wehrpflicht 1956 bis zu Ihrer Aussetzung 2011. Das Besondere an Ihrem Buch ist für mich, dass es Ihnen gelingt, das Individuelle mit dem Gesellschaftlichen zu verknüpfen. Also das traurige Schicksal eines Kriegsdienstverweigerers, Ihres Onkels Hermann, mit der „konservativen Nachkriegspolitik“, d.h. dem ständigen Versuch, Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz auf ein Ausnahmerecht zu reduzieren. Das machen Sie in der Form einer Graphic-Novel-Geschichte mit 230 Seiten und – geschätzt – mehr als tausend Illustrationen. Kein Wunder, dass diese Arbeit Sie über vier Jahre beschäftigt hat. Mit der Art Ihrer Illustrationen – Form und Farbe, Dokumente und Phantasie – gelingt Ihnen auch eine eindringliche Verknüpfung von innen und außen, also von Hermanns realen KDV-Erfahrungen mit seinen Gedanken und Ängsten und Träumen. 

Der Ablehnungsbescheid des Prüfungsausschusses beim Kreiswehrersatzamt Oldenburg, den Hermann 1973 erhielt, versetzt mich – fast automatisch – in meine eigene Geschichte: „Es ist dem Widerspruchsführer nicht gelungen, die Ernsthaftigkeit seiner Gewissenbedenken zu belegen.“ Den Satz kenne ich. Hermann ist an diesem nicht Ernstgenommen-Werden verzweifelt und sah letztlich keinen anderen Ausweg aus seiner Gewissensnot als den Tod. Ich bin neun Jahre älter als Hermann und nach dem Abitur naiv-arglos zwei Jahre zur Bundeswehr gegangen. Danach – im selben Jahr, in dem auch Herman seinen Antrag gestellt hat – habe ich den Kriegsdienst nachträglich verweigert. „Alles, was ich tue, ist abhängig von Menschen; nicht nur von den Personen, mit denen ich lebe und die ich liebe, sondern von allen Menschen und unserer gemeinsamen Geschichte.“ Diesen zutiefst humanistischen Satz aus Hermanns Antrag hätte ich auch schreiben können. 

Vermutlich hat meine nachträgliche Entwicklung zum Kriegsdienstverweigerer mich vor den Nöten bewahrt, die Hermanns Weg bestimmt haben. In der Todesanzeige der Familie vom Januar 1974 heißt es dann am Ende: „Wir fragen uns, warum Hermann diesen Weg gehen musste.“

Mit dieser Todesanzeige in der FAZ wurde aus Hermanns individuellem Schicksal eine Diskussion über das KDV-Grundrecht. Der „Stern“ überschreibt seine kritische Reportage mit „Das Gewehr und das Gewissen“. 

1957 beriefen sich 262 Wehrpflichtigen auf Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz, 1972 gab es über 28 000 Verfahren vor den Prüfungsausschüssen. Im Jahr 1982 gab es fast 60 000 KDV-Anträge von jungen Männern, die dann ihr Gewissen prüfen lassen mussten. 

Als gemeinsame Einrichtung von ca. 30 Organisationen, darunter von Anfang an die DFG-VK bzw. ihre Vorläufer, hatte sich die „Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen“ (www.zentralstelle-KDV.de) immer gegen diese Gewissensprüfungen eingesetzt. Der langjährige Vorsitzende der Zentralstelle KDV, der 2019 verstorbene Ulrich Finckh, hatte diese Prüfungsverhandlungen als Inquisition bezeichnet. Als solche wurde sie zunehmend auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen und kritisiert. 

Als kleinen, wenn auch wichtigen Fortschritt brachte der Regierungswechsel 1982/83 zur Kohl-Regierung eine Reform des KDV-Anerkennungsverfahren; die mündlichen Prüfungsverhandlungen fielen für die meisten Kriegsdienstverweigerer weg und wurden durch ein schriftliches Verfahren ersetzt. Bis dahin aber galten aber für alle die mündlichen Gewissensprüfungen

Von Ihnen wunderbar illustriert: Herman fühlt sich während der Befragung vor dem Prüfungsausschuss wie in einem Höllenfeuer: „Das ist ein Inquisitionsverfahren.“

Sie zeigen anschaulich, wie Ihr Onkel sich mit Freunden berät und wohl nicht glauben kann, dass man sich auf diese Verfahren vorbereiten muss, um eine Chance zum „Durchkommen“ zu haben. Der Beratungsbedarf war groß und wurde auf vielfältige Weise befriedigt. 

1980 schrieb Hansjörg Martin das Jugendbuch: „Der Verweigerer“, in dem er die Geschichte von Wolfgang Bieber erzählte, der vor dem Prüfungsausschuss ganz ähnliche Erfahrungen macht wie Hermann einige Jahre vor ihm. Ihm wird bescheinigt, dass er nicht darlegen konnte, eine „gewissensgebundene Entscheidung“ getroffen zu haben. Ein Widerspruch bei der Prüfungskammer sei zulässig. Die Geschichte endet damit, dass Wolfgang empfohlen wird, Widerspruch einzulegen. „Das ist eine gute Übung in Demokratie! Außerdem bin ich fest überzeugt, dass Wolfgang es beim nächstenmal schafft!“ Hermann hat es, wie ich auch, nicht geschafft. Hermanns Klage vor dem Verwaltungsgericht war bereits terminiert. Er hat die Entscheidung nicht abwarten wollen. 

Ich bin durch eine negative Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu einem nicht staatlich anerkannten KDVer geworden. Wahrscheinlich war das der Grund, Herrn Martin zu schreiben, dass dieses Ende seiner Geschichte zu optimistisch sei. Meine eigenen Erfahrungen später als Beisitzer in einer Prüfungskammer hatten mir gezeigt, dass die Ablehnung mehr Regel als Ausnahme war. 

Am Ende gab es eine Fortsetzung der Geschichte von Wolfgang Bieber: „Die Gewissensprüfung. Der Verweigerer gibt nicht auf“. Am Ende dieser Geschichte ist nicht alles gut, aber Wolfgang hat sich von dem Gefühl, versagt zu haben und durchgefallen zu sein, befreit. Er ist sogar ein wenig stolz, dass er sich als KDVer positioniert hat. (Hinweis der Redaktion auf das Buch: Werner Glenewinkel: Die Gewissensprüfung. Der Verweigerer gibt nicht auf. Mit einem Nachwort von Hansjörg Martin. Reinbek bei Hamburg 1985)

Sie haben Hermanns Geschichte wieder ans Licht geholt. In dem ZivilCourage-Interview haben Sie darauf hingewiesen, dass Ihre Generation nicht mit der Wehrpflicht konfrontiert ist; dennoch möchten Sie, dass ein Bewusstsein darüber entsteht, dass bis zur Aussetzung der Wehrpflicht vor 10 Jahren „Opfer gebracht wurden“ und dass die fehlende Anerkennung der KDV immer noch ein Problem sei, unter dem viele junge Männer und auch Frauen in anderen Ländern leiden. 

In Ihrem Buch gibt es das Bild von einer Mauer, auf das Hermann und sein Freund mit roter Farbe geschrieben haben: Frieden schaffen ohne Waffen

Das könnte nicht nur als Vermächtnis von Hermann gelesen werden, sondern auch als Auftrag für die Zukunft, den Sie mit Ihrem Buch in die heutige (noch) wehrpflichtfreie Gegenwart transportiert haben. Für mich bedeutet das konkret dreierlei: 

Kriegsdienstverweigerung muss zum allgemeinen Menschenrecht werden. Das ist ein langer Weg, der bei Connection e.V. in guten Händen ist, aber viel mehr zivilgesellschaftliche Unterstützung braucht. 

Militärlogik muss durch eine Friedenslogik ersetzt werden, denn: „Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten.“ Die Grundsatzerklärung der DFG-VK braucht Vervielfältigung.

Wenn unsere Welt für Ihre Generation und meine Enkelkinder erhalten bleiben soll, dann müssen wir uns von einer militärischen Sicherheitspolitik verabschieden und Sicherheit neue denken. Dazu gibt es ein Szenario bis zum Jahr 2040, das viele Chancen und Möglichkeiten enthält, sich mit dem eigenen zivilgesellschaftlichen Engagement einzubringen (www.sicherheitneudenken.de).

Ihr Buch war für mich eine Einladung zu einem anregenden und berührenden Rückblick auf fünf Jahrzehnte KDV-Geschichte. Vielen Dank und herzliche Grüße von Werner Glenewinkel

Dr. Werner Glenewinkel ist Jurist und langjähriges Mitglied der DFG-VK. Von 2007 bis zu ihrer Auflösung nach Aussetzung der Wehrpflicht war er Vorsitzender der Zentralstelle KDV. Kontakt: werner.glenewinkel@t-online.de

Kategorie: Kriegsdienstverweigerung Stichworte: 202101, Brinkmann, Glenewinkel, Inquisition, KDV, Kriegsdienstverweigerung, Prüfungsausschuss, Wehrpflicht

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„Eine Supermacht Europa verhindern“

17. Januar 2023

Michael Schulze von Glaßer
Titel: Warum Pazifismus wichtiger denn je ist
Erschienen in ZivilCourage 4-22/1-23

ZC-4-22/1-23-Editorial

16. Januar 2023

Stefan Philipp
Editorial zum Heft 3/2022

Zweifel sind keine Schande

16. Januar 2023

Ernst Rattinger
Leitartikel
Erschienen in ZivilCourage 4-22/1-23

Warum Pazifismus wichtiger denn je ist

16. Januar 2023

Michael Schulze von Glaßer
Titel: Warum Pazifismus wichtiger denn je ist
Erschienen in ZivilCourage 4-22/1-23

„Ein Signal mangelnder Zivilcourage“

27. November 2022

Andreas Zumach
„Ein Signal mangelnder Zivilcourage“
Erschienen in ZivilCourage 3/2022

… gefördert von: Bertha-von-Suttner-Stiftung

27. November 2022

Hauke Thoroe
… gefördert von: Bertha-von-Suttner-Stiftung
Erschienen in ZivilCourage 3/2022

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