Dieser Beitrag ist erschienen in der ZivilCourage 4-22/1-23 |
Leitartikel
Von Ernst Rattinger
Es ist wieder Krieg in Europa, kein kalter, sondern ein Krieg mit allen seinen Schrecken und Verbrechen. Und wieder werden wir vorwurfsvoll gefragt „Wo bleibt die Friedensbewegung?“, als ob „die Politik“ mit dem roten Knopf den Krieg einschalten würde und die Friedensbewegung wäre für das Ausschalten zuständig. Sicher, es ist richtig, auf die politischen Entscheider einzuwirken, dieses zu tun und jenes zu lassen. Kampagnen, Lobbyarbeit, Petitionen sowie öffentlichkeitswirksame Aktionen gehören dazu. Doch unsere Aufgabe fängt viel früher an; lesen wir zur Erinnerung die WRI-Grundsatzerklärung, die wir alle mit dem Beitritt zur DFG-VK unterschrieben haben: „Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten.“
Auf die Beseitigung aller Kriegsursachen im weitesten Sinne können sich sicher alle verständigen, denn dazu gehört all das, was die Menschen entzweit: Ungerechtigkeit, das Gefühl von Unterlegenheit und Ohnmacht, Feindbilder sowie Hass in allen denkbaren Ausprägungen und noch manches mehr.
Wenn es aber darum geht, das erste Versprechen einzulösen, nämlich keine (!) Art von Krieg zu unterstützen, also auch den Verteidigungskrieg, wird es für viele Menschen schwierig, auch für überzeugte Pazifisten. Wer hat das bei Kundgebungen kurz nach Beginn des Ukrainekrieges nicht erlebt: Am Ende der Veranstaltung kommen verzweifelte Menschen aus der Ukraine und betteln darum, ihrem Land Waffen zu liefern. Aus pazifistischer Sicht wird man das ablehnen, auch wenn ein Rest von schlechtem Gewissen bleibt. Und diese innere Zerrissenheit beherrscht nicht wenige in der DFG-VK und der Friedensbewegung insgesamt; soviel Ehrlichkeit muss sein, auch wenn es weh tut.
Was tun? Erkennen wir unsere Möglichkeiten und ihre Grenzen sowie unsere Fehler. Fast allen ist inzwischen klar, dass der Ukrainekrieg nicht mit dem verbrecherischen Angriff Russlands im Februar 2022 begonnen hat, sondern dass da eine Entwicklung über Jahrzehnte hinweg kritisch reflektiert werden muss. Die ganzen Zumutungen seitens der von den USA dominierten Nato gegenüber Russland müssen an dieser Stelle nicht wieder aufgezählt werden und auch nicht das durchaus konfrontative Vorgehen der ukrainischen Politik gegenüber den russischsprachigen Menschen im Lande. Haben wir diese Vorgänge in ihrer Bedeutung immer richtig eingeschätzt und uns entsprechend vernehmbar positioniert?
Nun zu unseren Möglichkeiten. Unser Name DFG-VK signalisiert, dass wir für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung eintreten, in der Ukraine, in Russland und überall auf der Welt. Auf diesem Gebiet geschieht schon einiges, aber es könnte sehr viel mehr sein. Machen wir der Bundesregierung Druck, dass die Grenzen für Deserteure geöffnet werden.
Und schließlich noch ein Wort an diejenigen unter uns, denen angesichts dieses Krieges der Pazifismus zweifelhaft geworden ist: Unsere Grundüberzeugung wird nicht dadurch falsch, dass andere Kriegsverbrechen begehen. Und: Zweifel sind keine Schande.
Ernst Rattinger ist seit Jahrzehnten in der DFG-VK aktiv und der Vertreter des Landesverbands Baden-Württemberg im Bundesausschuss.