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202101

28. März 2021

Trauer um einen tatkräftigen Pazifisten

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 1/2021

Erinnerung

Heiner Häberlein, ehemals DFG-VK-Bundesvorstandsmitglied und bayerischer Landesvorsitzender, ist im Alter von 71 Jahren im November 2020 gestorben

Von Harald Will

August 1968. In der Tschechoslowakei sind Truppen des Warschauer Paktes einmarschiert. Auf den Straßen stellen sich unbewaffnete Menschen den Panzern der Invasoren entgegen. 

In Prag beobachtet das ein junger Mann aus Nürnberg: Heinrich „Heiner“ Häberlein, 19 Jahre alt. Er ist auf der Suche nach seinen Eltern, die in der CSSR unterwegs und nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause zurückgekehrt sind. Was Heiner in Prag sieht, den gewaltfreien Widerstand gegen eine militärische Aggression, das beeindruckt ihn tief. Es prägt ihn für sein weiteres Leben, wie er später erzählt. Ein Leben, in dem er sich mit all seiner Energie für Frieden und Völkerverständigung einsetzen wird.

Schon 1967 hat Heiner, der zu dieser Zeit als Feinmechaniker arbeitet und die Berufsaufbauschule besucht, den Kriegsdienst verweigert. Er ist aktiv bei der evangelischen Jugend in Nürnberg und macht dort unter anderem KDV-Beratung. Die Kriegsdienstverweigerung ist für ihn nicht nur eine individuelle Entscheidung. „Es wurde mir klar“, sagt er später einmal, „dass ich von Gewaltverzicht, Frieden ohne Abschreckung und Gewaltandrohung … nicht nur reden kann, sondern dass ich dazu zusammen mit anderen etwas tun muss, um diese Ziele zu erreichen.“ 

1969 tritt Heiner der DFG-IdK (Deutsche Friedensgesellschaft – Internationale der Kriegsdienstgegner) bei. Bereits drei Jahre später wird er in den Bundesvorstand gewählt und ist verantwortlich für den Arbeitsbereich, der die Fusion mit dem VK (Verband der Kriegsdienstverweigerer) zur DFG-VK vorbereitet. Parallel zu seinem politischen Engagement beginnt Heiner ein Studium für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen, das er mit dem Staatsexamen abschließt. Lehrer kann er allerdings zunächst nicht werden. Den bayerischen Behörden gilt die DFG-VK als „kommunistisch beeinflusst“; deshalb verweigern sie Heiner den Eintritt in den Schuldienst. Es dauert sechs Jahre, bis er sich juristisch die Einstellung als Lehrer erkämpft hat.

1975 wird Heiner zum Vorsitzenden der DFG-VK Bayern gewählt. Er bleibt 13 Jahre lang an der Spitze des Landesverbandes. Auch auf Bundesebene ist er wieder aktiv: 1979 übernimmt er im Bundesvorstand das Referat KDV, er ist Initiator der bundesweiten Aktion „Verweigert alle Kriegsdienste“ und arbeitet mit an der Kampagne „Atomwaffenfreie Städte und Gemeinden“. Die Aktiven des bayerischen Landesverbands und jene, die mit ihm auf Bundesebene zu tun haben, schätzen Heiner – auch wegen seiner Tatkraft. Er ist ein unermüdlicher Arbeiter, der Sitzungen akribisch vorbereitet und in der Öffentlichkeit beredt für die Sache des Pazifismus eintritt. Zugleich erleben ihn alle als einen Menschen, der trotz aller Hartnäckigkeit nicht verbissen, sondern locker wirkt und der anderen zugewandt ist.

Besonders wichtig ist Heiner die internationale Zusammenarbeit. So knüpft er intensive Kontakte zu Friedensgruppen in der Tschechoslowakei. 1983 organisiert er auf Bitte des Koordinationsausschusses der Friedensbewegung die erste Reise einer bundesdeutschen Delegation in die CSSR. 1986 wird er Koordinator der blockübergreifenden Aktion „Olof-Palme-Friedensmarsch für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa“. 

Nach 1989 zieht sich Heiner von Funktionen in der DFG-VK weitgehend zurück – abgesehen vom Amt des Stiftungsratsvorsitzenden der Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK, das er 2015 für vier Jahre übernimmt. Er konzentriert sich auf seine pädagogische Arbeit und darauf, Begegnungen von deutschen und tschechischen Schülerinnen und Schülern zu organisieren. Im Jahr 2000 erhält Heiner den bayerischen Friedenspreis der DFG-VK zuerkannt. In seiner Dankesrede sagt er: „Wahrscheinlich bin ich ein unverbesserlicher Optimist, wenn ich die Vision habe, dass es vielleicht langfristig doch gelingt, Armeen überflüssig zu machen und sie eines Tages abzuschaffen“. Das, so Heiner, sei noch Utopie, aber man dürfe sich davon nicht beirren lassen. Die Forderung Bertha von Suttners „Die Waffen nieder!“ gelte nach wie vor: „Das bleibt erstes Ziel!“ 

Heiner selbst kann es nun leider nicht mehr verfolgen; am 13. November 2020 ist er mit 71 Jahren überraschend in Nürnberg gestorben. 

Harald Will ist aktiv in der DFG-VK-Gruppe München und kannte Heiner Häberlein jahrzehntelang.

Kategorie: Erinnerung Stichworte: 202101, Häberlein, Nachruf, Trauer

28. März 2021

Wo viel Licht ist, gibt es auch viel Schatten

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 1/2021

Pazifismus

Zum Beitrag von Hauke Thoroe über den früheren DFG-Präsidenten Martin Niemöller

Von Stefan Philipp

Lieber Hauke Thoroe,

als Du angekündigt hattest, eine Besprechung der Ziemann-Biografie über Martin Niemöller liefern zu wollen, habe ich schnell zugesagt. Dass der frühere U-Boot-Kommandant in der kaiserlichen Marine, spätere NSDAP-Wähler, dann KZ-Häftling und nach dem Zweiten Weltkrieg Kirchenpräsident sich schließlich zum Pazifisten wandelte und weltweit bekannt und geachtet war … ein solcher Mensch kann mit einigem Recht als „Jahrhundertgestalt“ bezeichnet werden. Dass er auch noch Präsident der DFG-VK und bis zu seinem Tod 1984, vor bald vier Jahrzehnten also, Ehrenpräsident war, macht ihn auch und gerade für die LeserInnen der ZivilCourage, von denen viele mit dem Namen Niemöller wenig anfangen dürften, interessant.

Dass nun für jemand wie Dich aus der Gruppe der Unter-35-Jährigen, der auch erst zwei Jahre DFG-VK-Mitglied ist, die Lektüre des Ziemann-Werks „verstörend“ ist, das kann ich gut verstehen. Auch wenn mir durchaus einiges, was Du aus der Biografie darstellst, neu war, so sind doch die grundsätzlichen Fakten kein Geheimnis und waren es in der DFG-VK auch nicht. Ich erinnere an die Veröffentlichung eines Beitrags von mir in der ZivilCourage Nr. 1/2017 anlässlich des 125. Geburtstages von Niemöller (www.dfg-vk.de/files/zivilcourage/ZC-01-17-WEB.pdf). Darin sind auch seine Schattenseiten skizziert. 

Diese können, sollen und dürfen benannt werden; unbedingt. Du sprichst von einer „Beißhemmung“. Die braucht es aus meiner Sicht nicht. Viel mehr sollten wir ein realistisches, und damit differenziertes Bild entwickeln. Frei nach Goethe: Wo viel Licht ist, gibt es auch viel Schatten. Allerdings dürfte das realistische Bild nicht schwarz-weiß sein, sondern zahlreiche und farbige Schattierungen dazwischen enthalten. Um das von Dir gezeichnete Bild bunter zu gestalten, habe ich einige wenige Aspekte näher betrachtet.

Zur zentralen Kritik

Eine zentrale Kritik von Dir an Niemöller ist, dass er sich als Pastor und Funktionär der Bekennenden Kirche zwar gegen die Anwendung des „Arierparagrafen“ im Bereich der evangelischen Kirche wandte, nicht aber gegen die Diskriminierung und Entrechtung von Juden insgesamt. Und zweitens, dass er und die Bekennende Kirche nicht den Schritt von der Verweigerung zum Widerstand gegen das Nazi-Regime gegangen seien. Was Du dazu, auf Ziemann gestützt, an Fakten darstellst, ist sicherlich richtig. Dass ein anderes Verhalten von Niemöller und seiner Kirche wünschenswert und politisch richtig und notwendig gewesen wäre, ist klar. Es ist aber die Frage, ob man das wirklich erwarten durfte und konnte. Und das erscheint mir zweifelhaft.

Schon im Neuen Testament heißt es im Brief des Apostels Paulus, geschrieben in der Mitte des ersten Jahrhunderts, an die christliche Gemeinde in Rom, dem sog. Römerbrief, im 13. Kapitel in den ersten beiden Versen: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen.“ 

Das ist gewissermaßen christlich-kirchliche DNA, dass sich christliche Religion und Kirche nicht gegen die „weltliche“, aber „von Gott“ eingesetzte Obrigkeit wenden und für politsche Veränderungen kämpfen.

Durch die konstantinische Wende im 4. Jahrhundert wurde das Christentum zur Staatsreligion, seitdem gab es  die Verbindung von „Thron und Altar“. 

Die protestantischen Kirchen sind ein Resultat der durch Martin Luther ausgelösten Reformation. Noch heute ist das Augsburger Bekenntnis aus dem 16. Jahrhundert eine verbindliche Bekenntnisschrift.   In dessen Artikel 16
heißt es, „dass alle Obrigkeit in der Welt und geordnetes Regiment und Gesetze gute Ordnung sind, die von Gott geschaffen und eingesetzt sind“ (weshalb übrigens „Christen … rechtmäßig Kriege führen … können“). 

Vor diesem Hintergrund und der obrigkeitsstaatlichen Tradition der evangelischen Kirche ist der „Kirchenkampf“ und die Entstehung der Bekennenden Kirche zu sehen. Die Nazi-Ideologie gründete auf einer angeblichen Volksgemeinschaft nach dem Motto „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Opposition wurde zum Verbrechen, alle gesellschaftlichen Bereiche wurden gleichgeschaltet, die Nazis sprachen von einem „positiven Christentum“ und hätten gerne eine zentral regierte Reichskirche gehabt. 

Gegen diesen Versuch der Gleichschaltung wurde die Bekennende Kirche gegründet. Ihre theoretische Grundlage war die Barmer Theologische Erklärung von 1934, die gegen den nationalsozialistischen Totalitätsanspruch z.B. diese These setzte: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären (…).“ Politischer Widerstand lag der Bekennenden Kirche und den meisten ihrer AnhängerInnen fern – mindestens in den Anfangsjahren nach 1933. Später gab es dann einige, die aus ihrem Glauben die Konsequenz des aktiven Widerstands gezogen haben.

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen …“

Dieser vielleicht berühmteste Ausspruch Niemöllers endet so: „Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Auch wenn diese Sätze, wohl erstmals in Reden ab 1946 formuliert, kein Aufruf zu einem
vielleicht zukünftig nötig werdenden Widerstand sind, so sind sie doch nicht anders zu verstehen als das Eingeständnis eines Fehlers nach der Etablierung des Nazi-Staates. 

Ich erinnere mich, dass dieses Niemöller-„Gedicht“ in meiner Jugend in den 1970er Jahren, als ich in der evangelischen Jugendarbeit aktiv war und mich dann in der Friedensbewegung engagierte, große Bedeutung hatte. Für uns brachte es eine Haltung zum Ausdruck, die wir für unbedingt richtig hielten und als Handlungsaufforderung verstanden: zu Unrecht nicht schwei-
gen und dagegen aktiv werden.

Nun gibt es immer wieder Streit darüber, ob Niemöller auch „die Juden“ darin einbezogen hat im Sinne von „Als die Nazis die Juden holten“. Auch Du, Hauke, thematisierst das ja in Deinem Text und weist darauf hin, dass Ziemann keine autorisierte Fassung gefunden hätte, in der „die Juden“ genannt worden wären. Mir scheint dieser Streit einerseits akademisch zu sein und vielleicht auch ein Element in der beabsichtigten „Demaskierung“ Niemöllers als Antisemit. Ein solcher war er sicher jahre-, wenn nicht jahrzehntelang – so, wie viele, wenn nicht die meisten Deutschen. Du hast ja nachvollziehbar dargestellt, wie sich sein völkischer Antisemitismus über einen lutherischen Anti-Judaismus zur kulturellen Judenfeindlichkeit entwickelt hat. Das macht es natürlich nicht besser, sondern bleibt eine tiefschwarze Schattenseite. 

Bezüglich des Gedichts gibt es aber noch Folgendes zu sagen: Die „Abholung“ und Inhaftierung in Lagern von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern begann direkt nach der Machtübernahme 1933. Die Verfolgung, Inhaftierung, Mundtotmachung und Ermordung politischer Gegener setzte sich in den Jahren danach fort. 

Jüdische Deutsche wurden entrechtet, gedemütigt und aus dem öffentlichen und gesellschaftlichen Leben verdrängt und in, wenn auch vielen, Einzelfällen misshandelt und getötet. Die Vernichtung der deutschen und europäischen Juden kündigte Hitler 1939 in einer Reichstagsrede im Januar an und praktizierte sie im Schatten des von Deutschland begonnenen Krieges. Zu diesem Zeitpunkt war Niemöller bereits seit zwei Jahren im KZ und als öffentliche Stimme zum Schweigen gebracht.

Die Verunglimpfung Georg Elsers

Als „verstörend“ bezeichnest Du, dass und wie lange Niemöller den Widerständler Georg Elser verleumdet hat, der für den 8. November 1939 ein Spengstoff-Attentat in München vorbereitet hatte, bei dem Hitler und ein großer Teil der NS-Führung getötet werden sollten, das aber knapp scheiterte. Hier ist Niemöller einer klassischen Verschwörungstheorie aufgesessen und hat diese weiterverbreitet. Strukturell Ähnliches erleben wir ja nun auch in Pandemiezeiten und dass wissenschaftliche Erkenntnisse Verschwörungstheoretiker nicht von ihren Märchenerzählungen abbringen. Dass soll Niemöller keineswegs entschuldigen. 

Aber ich könnte mir vorstellen, dass er in seiner jahrelangen Haftzeit im KZ so von objektiven Informationen abgeschnitten war, dass ihm „Lagertratsch“ in diesem Fall plausibel erschien und sich das so bei ihm verfestigte, dass er auch nach der Befreiung bei diesem „Geschwurbel“ blieb. Im Übrigen war er ja beleibe nicht der Einzige, der in der Beurteilung Elsers falsch lag. Wenn ich das richtig sehe, dann dauerte es Jahrzehnte, bis die historische Forschung den Sprengstoff-Anschlag Elsers als den Widerstandsakt eines Einzelnen belegt hatte. Und dann dauerte es ja bis in die 1990er Jahre, bis seine Tat in der offiziellen Gedenkkultur der Bundesrepublik gewürdigt wurde.

Atomtod und Friedensbewegung

Deine Behauptung, Niemöllers Engagement für und in der Friedensbewegung sei „völkisch motiviert“, halte ich für sehr verkürzt und nicht hinreichend belegt. Nach der militärischen Befreiung vom Faschismus war Deutschland ein in vier Besatzungszonen geteiltes Land. Nach der Gründung der BRD im Mai 1949 und der DDR im Oktober 1949, beide beschränkt in ihrer Souveränität, verlief zwischen diesen die Grenze zwischen den beiden Blöcken, der westliche angeführt von den USA, der östliche von der Sowjetunion. In einem Krieg wäre die beiden deutschen Staaten das – vielleicht atomare – Schlachtfeld gewesen. In dieser Situation vor dem drohenden Atomtod zu warnen und sich dagegen auszusprechen, dass die beiden deutschen Teilstaaten zu Frontstaaten der sich feindlich gegenüberstehenden Blöcke werden, hat einerseits sicherlich mit einem nationalen Interesse zu tun, ist aber andererseits auch Ausdruck praktischer Vernunft (wenn man staatliche Verfasstheit als Ordnungsrahmen akzeptiert). Ich will nur daran erinnern, dass die Gesamtdeutsche Volkspartei der 1950er Jahre als der parteipolitische Ausdruck dieses Denkens getragen wurde von Menschen wie Gustav Heinemann (später SPD-Bundespräsident), Johannes Rau (später SPD-Bundespäsident), Erhard Eppler (später SPD-Bundesminister), Robert Scholl (Vater der Geschwister Scholl).

Fans

Dass Du die Unterstützer und Anhänger Niemöller durchgängig als Fans bezeichnest, finde ich bösartig. Das Wort leitet sich vom lateinischen „Fanaticus“ ab, was sich mit „in rasende Begeisterung versetzt“ übersetzen lässt, sowie vom englischen „Fanatic“, „eifernd“ bedeutend.

Soweit nur einige kurze Bemerkungen zu Deinem ausführlichen Text. Ich bin Dir dankbar für diesen Anstoß und hoffe, dass ihn nun weitere DFG-VK-Mitglieder aufnehmen und sich äußern.

Viele Grüße von Stefan Philipp

Kategorie: Pazifismus Stichworte: 202101, DFG-VK, Niemöller

28. März 2021

Wie viel Antisemitismus kann man übersehen?

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 1/2021

Pazifismus

Eine kritische Auseinandersetzung mit der DFG-VK-„Lichtgestalt Martin Niemöller

Von Hauke Thoroe

Gründungsurkunde der DFG-VK von 1974 mit der Unterschrift Niemöllers als Präsident

Als einer von wenigen Prominenten hat Martin Niemöller einen festen Platz in der Erinnerungskultur der DFG-VK. Auch aus dem Gedenkkanon der Bundesrepublik ist der Dahlemer Pfarrer nicht wegzudenken. Er sei widerständig gegen die Judenverfolgung gewesen und habe nach 1945 einen großen Beitrag zur Anerkennung und Aufarbeitung der deutschen Schuld geleistet. Nach der Lektüre der 600 Seiten starken Biografie „Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition“ (München 2019) von Benjamin Ziemann drängt sich einem der Schluss auf, dass dies eine sehr wohlwollende Interpretation sein könnte. Triggerwarnung: Der Text zitiert antisemitische Hetze.

Der Autor Benjamin Ziemann ist Professor für Neuere deutsche Geschichte an der englischen Universität Sheffield. Er forscht zu kirchlichen und militärischen Themen. Bei der Betrachtung Niemöllers liegt sein Hauptaugenmerk auf dem Kirchenkampf. Niemöllers Zeit in der Friedensbewegung schenkt der Autor verhältnismäßig wenig Beachtung. Im Archiv der DFG-VK ist er nicht gewesen, diesen Bereich rekonstruiert der Autor aus anderswo archivierten Briefwechseln und Tagebucheinträgen. Das ist schade, aber vielleicht verständlich. Denn Niemöller ist ja nicht berühmt, weil er in der DFG-VK war, sondern als Prominenter zur Friedensbewegung dazu gestoßen.

Ich habe versucht, ein angemessenes Resümee zu formulieren. Leider lässt mich die Lektüre der Biografie vor allem verstört zurück. In der Geschichtswissenschaft findet eine breite Kontroverse statt, welche Formen von Dissidenz in Nazi-Deutschland als „Widerstand“ gelten sollen und welche lediglich als „Verweigerung“ zu bewerten seien. Angesichts dessen, dass man im Nationalsozialismus auch bei „Verweigerung“ ruckzuck tot sein konnte und diese Niemöller letztlich auch für sieben Jahre in „Schutzhaft“ brachte, habe ich deutliche „Beißhemmungen“, mir ein Urteil anzumaßen. 

Damit eine historische Person zur Figur der Zeitgeschichte wird, ist neben dem konkreten Wirken des jeweiligen Menschen auch die Rezeption durch Öffentlichkeit und Publikum entscheidend. Dieses Publikum ist (mittlerweile mehrheitlich) genau wie ich mit der „Gnade der späten Geburt“ gesegnet. Deshalb frage ich mich, warum Niemöllers Fans ihn nicht kritischer hinterfragt haben. Benjamin Ziemann zeigt auf, dass es dazu reichlich Anlass gegeben hätte.

Widerstand gegen die Judenverfolgung?

Das öffentliche Bild von Niemöller als Kämpfer gegen die Judenverfolgung stützt sich vor allem auf die angebliche Ablehnung des sogenannten „Arierparagrafen“. Das antisemitische „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde im April 1933 erlassen und schloss unerwünschte Personen vom Öffentlichen Dienst aus. 

Der Protest hiergegen brachte Niemöller von 1938-45 ins Konzentrationslager, zunächst nach Sachsenhausen und dann bis 1945 nach Dachau. Dabei war Niemöller 1933 keinesfalls eine grundsätzliche Gegner*in des Nationalsozialismus, im Gegenteil, er war ein „Sympathisierender mit der NSDAP“ der die NS-Politik unterstützte (S. 372; hier und im Folgenden beziehen sich die angegebenen Seitenzahlen immer auf die Ziemann-Biografie). 

Bereits in den 1920-ern war Niemöller in antisemitischen Vereinen aktiv, die als Juden konstruierte Menschen ausschlossen (S. 407). Im Laufe des Jahres 1932 wandelte sich durch die Beschäftigung mit Luthers „Judenschriften“ Niemöllers Ressentiment von einem völkischen Antisemitismus zu einem mittelalterlich anmutenden Antijudaismus ganz im Sinne des Reformators (S. 201 ff. und S. 222-223). 

In Widerspruch zum NS-Regime geriet Niemöller, als die evangelische Kirche am 6. September 1933 beschloss, den „Arierparagrafen“ auch im kirchlichen Raum anzuwenden. Dagegen protestierten Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller. Ihre Erklärung interessierte sich jedoch de facto bloß für die 18 betroffenen Pfarrer und schweigt zur Entrechtung von 300 000 Betroffenen im Öffentlichen Dienst (S. 200). Ziemann schreibt: „Solidarität mit den Deutschen jüdischen Glaubens war von ihm – wie den allermeisten Mitgliedern des Notbundes – nicht zu erwarten“ (S. 223).

Deshalb forderte das Dahlemer Gemeindemitglied Prof. Dr. Elisabeth Schliemann mit einem Brief Niemöller auf, sich ebenfalls zur Diskriminierung von Juden außerhalb der Kirche zu äußern. Niemöller lehnte ab. Er antwortete, dass „die Kirche vom Staat nichts anderes zu fordern [habe], als dass er der Verkündung keine Hemmnisse bereitet und die Kirche Kirche sein lässt (…) Die Kirche predigt nicht dem Staat in seine (gerecht oder ungerecht angewandte) Gewalt hinein, auch nicht in der Judenfrage (…).“ Und er fügte hinzu, dass er das „Recht unseres Volkes bejahe, sich gegen einen übergroßen und schädlichen Einfluss des Judentums nachdrücklich zu wehren, der meines Erachtens dagewesen ist“ (S. 205).

Bereits im Herbst 1933 relativierte Niemöller auch die Solidaritätsverpflichtung in dem von ihm selbst mitverfassten Gründungsmanifest des Pfarrernotbundes (S. 206). In dem Aufsatz „Sätze zur Arierfrage“ schrieb er, dass „die bekehrten Juden als durch den heiligen Geist vollberechtigte Glieder“ der Kirche „anzuerkennen“ seien. An der „Gemeinschaft der Heiligen“ bestehe kein Zweifel. Es gäbe allerdings Grenzen für die Anerkennung der Rechte getaufter Juden: „Wir als Volk [haben] unter dem Einfluss des jüdischen Volkes schwer zu tragen gehabt“, und so erfordere die Anerkennung der Gleichheit aller Getauften in diesem Fall erhebliche „Selbstverleugnung“ (S. 206). Von kirchlichen „Amtsträgern jüdischer Abstammung“ müsse man deshalb die „gebotene Zurückhaltung“ verlangen. Pfarrer „nichtarischer Abstammung“ sollten kein „Amt im Kirchenregiment oder eine besonders hervortretende Stellung in der Volksmission“ einnehmen (S. 206). 

Auf einer Synode im Herbst 1933 beschloss der Pfarrernotbund folgerichtig, sich nicht gegen die Ausgrenzung der als Juden verfolgten Menschen aus dem öffentlichen Leben zu stellen: „Die Taufe begründet freilich für niemanden irdische Ansprüche und Rechte“ (S. 269). Die Synode diskutierte sogar, ob man noch klarstellen solle, dass die Taufe „kein weltliches Bürgerrecht“ verleihe, beließ es aber bei der ursprünglichen Formulierung.

Nach 1945 verbreitete Wilhelm Niemöller das Narrativ, die Beteiligung seines Bruders Martin 1935 an der Denkschrift der „2. Vorläufigen Kirchenleitung“ sei der entscheidende Schritt der Bekennenden Kirche von der „Verweigerung“ zum „Widerstand“ gewesen (S. 282, 307). 

Professor Ziemann zeigt hingegen auf, dass es ausgerechnet Martin Niemöller war, der durch seine Interventionen immer wieder verhinderte, dass die Bekennende Kirche den Schritt von der Verweigerung zum Widerstand vollzog (S. 283). Niemöller sorgte dafür, dass die Denkschrift entschärft und durch das NS-Regime unterstützende Passagen ergänzt wurde (S. 282). Er positionierte sich gegen die Veröffentlichung in der Presse. Nachdem ausländische Medien sie trotzdem druckten, sorgte Niemöller hinter den Kulissen dafür, dass die Denkschrift in den Kirchen in einer nochmals entschärften Variante verlesen wurde (S. 281). Dies hielt die Niemöllers nach dem Krieg jedoch nicht davon ab, aus Martins Beteiligung an der Denkschrift einen Höhepunkt des Widerstandes zu konstruieren (S. 282).

„Lichtgestalten“ der DFG

Die Geschichte der DFG(-VK) kennt einige bedeutende Persönlichkeiten. Als erste natürlich die beiden, die die Deutsche Friedensgesellschaft 1892 in Berlin maßgeblich gründeten: Bertha von Suttner (1843-1914) und Alfred Hermann Fried (1864-1921). Daneben den langjährigen DFG-Vorsitzenden Ludwig Quidde (1858-1941), den zeitweiligen DFG-Sekretär Carl von Ossietzky (1889-1938) und – als Ehrenmitglied – Albert Schweitzer (1875-1965); alle geehrt mit dem Friedensnobelpreis.
Eine wichtige Person war Martin Niemöller (1892-1984). Marineoffizier in der kaiserlichen Marine, evangelischer Pastor, deutschnational und NSDAP-Wähler, Führungsmitglied der Bekennenden Kirche in der Nazi-
Zeit,  KZ-Häftling als „persönlicher Gefangener des Führers“ von 1938 bis 1945, Kirchenpräsident einer Landeskirche und einer der Präsidenten des Weltkirchenrates. Und: Atomwaffengegner, Pazifist, seit 1957 Präsident der DFG, seit 1958 auch der Internationale der Kriegsdienstgegner, dann der DFG-IdK, schließlich ab 1974 der DFG-VK und von 1976 bis zu seinem Tod Ehrenpräsident.
Die Deutsche Verlagsanstalt bewirbt die bei ihr 2019 erschienene Niemöller-Biografie so: „Das Leben einer Jahrhundertgestalt: die erste umfassende Biografie“. (Benjamin Ziemann: Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition, München 2019; 640 Seiten; 39 Euro. Besprechungen z.B. von Michael Heymel https://bit.
ly/2MLAiSa
und Karl-Heinz Fix https://bit.ly/3cN6cs7)
Die Lektüre dieser Biografie kann aber auch „verstörend“ sein – gerade für DFG-VK-Mitglieder und vielleicht besonders für solche, die noch nicht schon Jahre im Verband sind, so wie unser Autor Hauke Thoroe. 
Grund genug, die Diskussion anzustoßen mit dem Beitrag von Hauke Thoroe und dem daran anschließenden Brief von Stefan Philipp.

Antisemitismus nach 1945

Auch nach 1945 äußerte Niemöller sich immer wieder antisemitisch. 

1946 schrieb er einen Offenen Brief an Frederik J. Forell, den Leiter des Emergency Committee for German Protestantism. Niemöller behauptete darin, dass die Bewohner*innen der britischen Zone in den letzten Tagen „nur 700 Kalorien“ bekommen hätten. „Das bedeutet weniger als die niedrigste Ration, von der man jemals in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager berichtet hat.“ Die Folge sei „Verhungern im eigentlichen Sinne“ (S. 374). Weiter versuchte er mit wilden Zahlenspielen zu suggerieren, dass seit der Kapitulation des „Dritten Reiches“ im Mai 1945 „mindestens 6 Millionen Deutsche verschwunden“ seien. Hinter all dem stehe nichts anderes als „die praktische Durchführung des Morgenthau-Planes mit der Absicht, ein ganzes Volk bis zu seinen Wurzeln auszurotten“. Die Herrschaft der Alliierten über Deutschland sei letztlich nur eine Fortsetzung der „Terrorherrschaft der Gestapo“ (S. 374).

Auch im Ausland nahm Niemöller kein Blatt vor den Mund. Am 7. März 1946 sagte er in Zürich beim „Schweizerischen Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland“: „Es besteht ein neuer Antisemitismus in Deutschland, der aber nichts mit den zurückwandernden Juden zu tun hat. Er ist dadurch entstanden, dass die Amerikaner die Entnazifizierung durch Juden ausführen lassen“ (S. 381). 

Auf einer Pressekonferenz 1947 in New York erklärte er hingegen, dass es in Deutschland keinen Antisemitismus mehr gebe. 

Auf derselben Amerika-Reise gab Niemöller der deutsch-jüdischen Zeitung „Aufbau“ ein Interview. Er wurde gefragt, was nach Deutschland zurückkehrende Juden erwarte. Niemöller antwortete mit der rhetorischen Frage, was die Juden denn im „überfüllten und verarmten Deutschland“ tun sollten, „vorausgesetzt, dass sie nicht Bauern werden wollen?“ (S. 381). Prof. Ziemann schreibt dazu, dass der Antwort das aus völkischen Vorstellungen stammende antisemitische Stereotyp zugrunde liege, dass Juden zu harter körperlicher Arbeit weder willens noch fähig seien (S. 380). 

Nach der Rückkehr aus den USA wurde Niemöller auf einer Pressekonferenz ebenfalls nach dem Antisemitismus in Deutschland gefragt. Niemöller antwortete, der Antisemitismus sei in Deutschland „totgeschlagen worden“, als 1938 die Synagogen brannten. Aber in den letzten Monaten sei der Antisemitismus als „allgemeines Gefühl“ wieder hervorgetreten, wie es ihn auch vor 1933 gegeben habe. „Der Grund dafür?“ Dass „überall in den amerikanischen Stellen (…) Juden sitzen. Wir müssen das Kind doch beim Namen nennen. (…) Wenn ich als Jude von Amerika nach Deutschland herüber ginge, nachdem ich dem Gemetzel unter Hitler entgangen bin, würde ich auch in Hasspolitik und Rachepolitik machen, vorausgesetzt, dass ich nicht Christ bin“ (S. 380). 

Auch im Herbst 1947 beklagte sich Niemöller gegenüber Ewart Turner, dass die Lebensmittelrationen auf 100 Gramm Fleisch pro Woche gekürzt worden seien. Normalverbraucher würden also in den kommenden Monaten sterben. Es werde „jener Jude (in der US-Militärverwaltung – Anmerkung der Verfasser*in) recht behalten, der meine Frage danach, was mit den zu vielen Menschen in der westlichen Zone passieren werde, sagte: ,Keine Sorge, wir kümmern uns darum, dieses Problem wird in einer recht natürlichen Weise gelöst werden!‘“ (S. 381-382).

Ähnliche Gedanken prägten auch Niemöllers Alltagshandeln. Im Juni 1946 geriet er mit Wilhelm Beez aneinander. Dieser war Landrat und Kreisvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) und in dieser Position für die Verteilung von „Care“-Paketen zuständig. Landrat Beez war vom SPD-Ortsverband Büdingen zugetragen worden, dass Niemöller dem Kaiserenkel Prinz Hubertus von Preußen, der Fürstenfamilie Ysenburg und lokalen Nazi-Größen für Opfer des NS-Regimes bestimmte Lebensmittel zuschanzte. Beez strich deshalb Niemöller von der Verteilerliste. Niemöller war empört: „Sie unterstützen wohl nur Judenfreunde?“ (S. 375). 

Der Vorfall sprach sich herum, und der „Spiegel“ bat Niemöller um eine Stellungnahme. Niemöller wiederholte seinen Vorwurf öffentlich und bekräftigte, diesen beweisen zu können. Das brachte das Fass zum Überlaufen, und die VVN setzte Niemöller ganz vor die Tür. Niemöller reagierte uneinsichtig. In einem Vortrag im August in der Büdinger Kirche sagte er, die „Angriffe“ auf ihn seien „wie in den vergangenen 15 Jahren üblich“ abgelaufen und warf damit die VVN mit dem Naziregime in einen Topf (S. 375). 

Die sich hier andeutende Transformation vom völkischen Antisemitismus über einen lutherischen Anti-Judaismus zur kulturellen Judenfeindlichkeit setzte sich bei Niemöller bis ins Alter fort. 1962 schlug ihm Helmut Gollwitzer vor, gemeinsam am 9. November an den Gedenkveranstaltungen in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, teilzunehmen. Doch Niemöller behauptete, keine Zeit zu haben. Denn am 9. November beginne auch die Jahrestagung der Deutschen Friedensgesellschaft. Im folgenden Jahr fragte Gollwitzer erneut. Diesmal müsse er nach London, sagte Niemöller. Warum die Kirche ein Interesse an Israel haben solle, sei ihm „schleierhaft“. Und dass sich die Araber*innen durch den „jüdischen Staat“ gefährdet und attackiert sehen“, das könne er „ihnen nicht übel nehmen“ (S. 505). 

1967 verschärfte Niemöller dieses Argument noch gegenüber Elsa Freudenberg, um deren jüdische Abstammung er wusste. Er sei der Überzeugung, dass er, „wenn er Araber wäre, bestimmt Antisemit wäre, weil hier ein fremdes Volk auf meinem Boden einen Staat gegründet hat, den meine Väter seit 1 200 Jahren bewohnt haben“. Elsa Freudenberg konterte, dass das nur ein Spiel mit Worten sei, dass der Hass der Araber sich nur „gegen den Staat Israel richtet und nicht gegen den einzelnen Juden“ (S. 506).

Anerkennung der deutschen Schuld?

Angesichts dieser Befunde muss man auch die Stuttgarter Schulderklärung von Herbst 1945 und Niemöllers Engagement dafür kritisch betrachten. In der gängigen Geschichtserzählung betonen seine Fans, dass Niemöller maßgeblich hinter der „Stuttgarter Erklärung“ gestanden habe. Diese Erklärung ist in der Geschichtserzählung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bis heute zentral, wenn es um den Neuanfang nach 1945 geht.

Niemöller argumentierte tatsächlich für ein Schuldbekenntnis und warb auch für die Stuttgarter Erklärung. Jedoch sticht der instrumentelle Charakter hervor (S. 400). 

Im Spätsommer 1945 sagte er auf einer Tagung des Reichsbruderrates (Leitungsgremium der Bekennenden Kirche), die das vorbereiten sollte, was später als „Stuttgarter Erklärung“ bekannt wurde, man solle den anklagenden Hinweis auf die Besatzungsmächte „noch“ unterlassen, denn „die Amerikaner hören es noch nicht“. Er betonte, dass die Deutschen erst dann keine „Hohn- und Spottlieder der Welt“ mehr hören würden, wenn sie ein hinreichendes Zeichen der Einsicht in ihre Schuld abgelegt hätten (S. 400). 

Der dann im Herbst 1945 verabschiedete Text des Stuttgarter Bekenntnisses ist sehr kurz. Er umfasst drei Absätze. Die Erklärung betont zunächst die deutsche Schuld und nennt die Nazi-Taten folgendermaßen: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ 

Bereits im zweiten Absatz stellt sich die Kirche als Hort des Widerstandes dar: „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist [des NS] gekämpft“.

Im dritten (und letzten) Absatz wird mit vorher erzeugter moralischer Legitimität postuliert, dass nur durch den „gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt und Vergeltung der heute von neuem mächtig werden will“ begegnet werden könne.

Mit dieser Floskel von der Vergeltung werden die Alliierten in ein Fass mit den Nazis geworfen und der Aufarbeitung der Verantwortung für die Nazi-Verbrechen eine Absage erteilt. Aus dem großspurigen Verweis auf die Lehren aus der Vergangenheit wird die Legitimation abgeleitet, sich überall einmischen zu dürfen.

Die deutsche Außenpolitik basiert bis heute auf diesem Trick. Die Stuttgarter Erklärung ist in meinen Augen somit ein frühes Beispiel von „Aufarbeitungsweltmeisterei“.

Von 1945 bis zum Bekanntwerden seiner antisemitischen Ausfälle in den USA 1947 war Niemöller fast non-stop unterwegs, um für die Stuttgarter Erklärung zu werben. Diese Veranstaltungen wurden oft von Deutschen gestört, für die bereits die Vorstellung, dass an den vergangenen 12 Jahren überhaupt irgendwas schlecht außer der Niederlage gewesen sei, zu viel war. Benjamin Ziemann schreibt, dass Niemöllers Reden keinem festen Skript folgten und nur aus Zeitungsartikeln und Mitschriften der Zuhörenden dokumentiert sind. Die Reden seien regelmäßig um seinen bekanntesten Spruch oder ähnliche Figuren orientiert gewesen: 

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Mit dem Wissen um Niemöllers Gedankenwelt sticht ins Auge, dass Prof. Ziemann schreibt, dass er keine einzige von Niemöller autorisierte Fassung finden konnte, in der die verfolgten Juden in das bekannte Zitat eingeschlossen sind (S. 521). Prof. Ziemann stellt außerdem heraus, dass im Gegensatz zum obigen Zitat Niemöllers Schuld nicht im Schweigen bestanden habe. Niemöller „schwieg keinesfalls zur Verfolgung von Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen (…), sondern er bekämpfte die Mitglieder dieser Parteien.“ (S. 521).

Wie ambivalent Niemöllers Schuldbekenntnis war, zeigen weitere Zitate. Noch 1947, zwei Jahre nach dem Stuttgarter Bekenntnis, schrieb Niemöller einen Essay gegen das „Märchen von der deutschen Kollektivschuld“. Er bezichtigt die Amerikaner eines „gewollten Massenmordes an einem Volke“. Denn die Amerikaner hätten keine Demokratie nach Deutschland gebracht, und seit Kriegsende seien „mehr deutsche Menschen verschwunden und umgekommen“ als während der zwölf Jahre des „Hitler-Terrors gemordet wurden, einschließlich der angeblich 6 Millionen verschwundenen Juden“ (S. 490).

Völkische Motivation für die Friedensbewegung

Eine völkisch-nationalistische Sichtweise zeigt sich auch bei Niemöllers Engagement in der Friedensbewegung. 

Niemöller postulierte 1958 Sätze wie „Das deutsche Volk ist dem sicheren Atomtod ausgeliefert“ oder „Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht“ (S. 458).

Zitate aus einem Text von 1951 gegen die Wiederbewaffnung zeigen, dass der Begriff „Volk“ hier nicht nur Floskel ist. Die „Not der Deutschen“ sei, dass ihr Land „entweder Kriegsschauplatz oder Brücke“ sein werde. Durch den Kalten Krieg seien die Deutschen „nur noch Objekte“ für „die Pläne anderer Mächte“. Wenn die Deutschen der Logik des Kalten Krieges folgten und sich für eine Seite entschieden, würde sie nur die „Verewigung unserer Not“ und „der Unfreiheit“ erreichen (S. 435). Niemöller fühlte sich hier ganz im Einklang mit der Bevölkerung, denn die Ablehnung der Wiederbewaffnung sei national, wo nicht ausgesprochen nationalistisch motiviert“ (S. 435). 

Prof. Ziemann schließt daraus, dass Niemöller die Wiederbewaffnung ablehnte, weil sie multinational im Bündnis mit anderen Staaten gedacht wurde und nicht als nationale deutsche Armee. 

Einer völkischen Argumentation zur Wiederbewaffnung, die „Freiheit“ nicht als Freiheit des Einzelnen definiert, sondern als nationale Bestimmung, kann ich wenig abgewinnen. Ich bezweifle, dass ein solcher Freiheitsbegriff eine Grundlage für eine emanzipatorische Politik, die Gewalt zwischen Menschen und Staaten abbaut, sein kann. 

Unverständlich ist für mich, dass Niemöller nie mit der Kadetten-Crew von 1910 brach. Die Offiziere der Marine betrachteten ihre „Crew“ als Lebensbund und pflegten ihre Kameradschaft in jährlichen Treffen, bei denen gemeinsam gesoffen und gefressen wurde. 

In der 1910 beginnenden Offiziersausbildung segelte Niemöller u.a. mit Dönitz und 13 weiteren späteren Admirälen der NS-Kriegsmarine. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher*innen war es Niemöller, der in einer Zeugenaussage beschwor, dass der Oberbefehlshaber der Marine und letzte deutsche Reichskanzler Karl Dönitz selbstverständlich nichts von den Konzentrationslagern gewusst haben könne (S. 506). 

Es gab zwar einigen Streit und Ärger in der Crew, nachdem Niemöller zu Unrecht vorgeworfen wurde, die Offiziersausbildung als „Hohe Schule des Berufsverbrechertums“ bezeichnet zu haben, und Niemöller damit konterte, dass Dönitz und die anderen nicht genug getan hätten, um ihn trotz zweifelsfreier nationaler Gesinnung aus dem KZ frei zu bekommen, doch auch noch 1980 besuchte er das „Crew-Treffen“ in Kiel. 

Die Verleumdung Georg Elsers

Verstörend ist auch die Verleumdung Niemöllers eines anderen „persönlichen Gefangenen des Führers“. Im Januar 1946 sprach er vor Göttinger Student*innen über den „SS-Unterscharführer Georg Elser“ der angeblich „1939 das Attentat im Bürgerbräukeller auf Hitlers persönlichen Befehl durchzuführen hatte“ (S. 412). Angehörige Elsers suchten daraufhin die Auseinandersetzung mit Niemöller. Dieser kanzelte sie ab und rechtfertigte seine verunglimpfenden Lügen mit von ihm mitangehörten Gesprächen der SS-Wachmannschaft im KZ Dachau.

Trotz gegenteiliger Forschungsergebnisse hielt er den Lagertratsch der SS-Schergen für glaubwürdiger und verunglimpfte Georg Elser bis in die 1970-er Jahre folgendermaßen: „Hiermit möchte ich deutlich machen, dass hinter dem Willen [Elsers – Anm. des Verf.] kein Ethos stand, auch nicht eine Null oder ein Nichts, sondern ganz einfach das, was man in der Menschheit einen verbrecherischen Willen nennt: keine Seele, keine Verantwortung.“

Ulrich Renz vom Georg-Elser-Arbeitskreis Heidenheim bezeichnet Niemöller sogar als „Hauptverursacher eines falschen Elser-Bildes“ (Ulrich, Renz: Der Fall Niemöller. Heidenheim 2002, im Internet einsehbar unter https://bit.ly/3jCm02B). 

Ziemann schildert, dass bei einer großen Ökumene-Veranstaltung 1952 in Indien der deutsche Bischof Hanns Lilje statusbewusst trotz tropischer Temperaturen in schwarzem Bischofskleid schwitzend herumlief und sich bei der Essensausgabe wie selbstverständlich vordrängelte, während Niemöller, in heller Hose und Hemd, sich wie alle anderen hinten anstellte und beim Essen auf dem Boden saß (S. 494). Einen deutschen Faschisten stellt man sich anders vor. 

Der „friedensbewegte“ Niemöller

Benjamin Ziemann beschreibt, dass es weniger Niemöllers Rolle als „Lichtgestalt“ gewesen sei, die für die Friedensbewegung wichtig gewesen sei. Viel mehr habe u.a seine Theologie ermöglicht, das sich Kirchen den Anliegen der Friedensbewegung geöffnet habe und so breite Bündnisse, an denen sich viele Menschen beteiligen, gesellschaftlich möglich wurden. Auch sei es der deutschen Friedensbewegung durch Niemöllers Engagement in der Ökumene gelungen, ihren Eurozentrismus zu überwinden und Frieden als ein Ziel zu begreifen, das nur im Rahmen der „Menschheitsfamilie“ erreicht werden könne (S. 470). Ziemann deutet Niemöller zudem als die zentrale Person, die die DFG-VK für die Unterwanderung durch die DKP geöffnet habe, da alle Menschen gleich seien, wenn sie sich nur für den Frieden engagieren wollen.

Ziemann beschreibt, wie Niemöller im Laufe der Jahre durch den „Atomschock“ und seine Mitarbeit in der Ökumene seinen Antibolschewismus ablegt. Die Aufgabe des Antibolschewismus ging letztlich so weit, dass Niemöller 1976 versuchte, Pastoren in der DDR zu erklärten, dass der Sozialismus die einzige gerechte Gesellschaftsordnung sei und Milliardäre enteignet werden sollten (was in einem Tumult endete (S. 503)). An seinem Lebensende konnte er mit seiner fundamentalistischen Theologie vermutlich selber nicht mehr viel anfangen, wie er mehrmals andeutete (S. 503). 

Unterstützung des Vietcong in seinem „gerechten Krieg“

An seinem Lebensende verortete sich Niemöller selbst schließlich weit links der Kommunist*innen (S. 503). Der späte Niemöller sah sich als „Revolutionär“ und warb z.B. beim Bundeskongress der DFG-VK 1972 für eine Unterstützung des Vietkong: „Wenn Sklaven sich wehren, ist das gerechter Krieg. Wir machen zwar nicht mit, aber unsere Sympathie ist beim vietnamesischen Volk“ (471). 

Man beachte die erneuten und auch im hohen Alter auftretenden Argumentation mit einem völkischen Referenzrahmen, der Sklaventum nicht an einer individuellen Positionierung in einer Gesellschaft festmacht, sondern an der Souveränität eines angeblichen Volkes und der Abwesenheit von fremder Besatzung. Und bei der Floskel vom gerechten Krieg stellen sich mir die Nackenhaare auf.

Mein Bild von Niemöller ist ein gespaltenes. Die Niemöllers, der eine Parteimitglied, der andere begeisterter Wähler Hitlers, deuteten nach 1945 ihre religiöse Verweigerung im NS-Regime zu politischem Widerstand um, und verschwiegen, dass genau sie es waren, die verhindert hatten, dass aus der religiösen Verweigerung der Bekennenden Kirche politischer Widerstand geworden war. Gleichzeitig verunglimpfte Martin Niemöller mit Georg Elser einen der wenigen Menschen, die tatsächlich die Courage hatten, Widerstand zu leisten. Er war auch nach 1945 bereit, Gräuelmärchen aus Nazi-Propaganda und an andere Verschwörungstheorien zu glauben, und verbreitete diese öffentlich. Und dass seine Fans dem nicht widersprochen haben, ist auch Teil des Gesamtbildes.

Kein aufrechter Bekenner

Niemöller stützte seine Theologie auf den zentralen Begriff des „Bekennens“. Mit dem Schuldbekenntnis schließt er an diese rhetorische Figur an. Da ist es irritierend, dass er sowohl in der Nazizeit (S. 305) als auch danach kontinuierlich bereit war, seinen Lebenslauf zu schönen, wenn es ihm opportun erschien. Die Umdeutungen rund um die 2. Denkschrift der vorläufigen Kirchenleitung habe ich schon erwähnt (S. 307 ff.). Niemöller strickte die Legende, das er im KZ eine Freilassung gegen Widerruf abgelehnt habe, obwohl es genau umgekehrt war (S. 315). Seine Meldung zur Marine aus der Haft redete Niemöller nach 1945 erst damit schön, dass er nur in Freiheit habe Christ sein können, obwohl eindeutig seine nationalistische Weltanschauung der Grund war (S. 325). Als das nicht verfing, erfand er die Story, dass er sich dem militärischen Widerstand habe anschließen wollen. Quellenkritisch betrachtet kann er von diesem aber nicht gewusst haben (S.325, 362). 

Fast schon unterhaltsam ist auch das zeitgenössische Vor und Zurück um das Debakel mit dem Besuch bei Hitler 1934 (S. 221 ff.). Der Besuch mündete in ein Debakel. Hitler beschloss danach, den Bischof, gegen den die Bekennende Kirche opponierte, noch mehr zu unterstützen. Niemöller redete in der Folge seinen Beitrag möglichst klein. Nach 1945 macht er aus dem Patzer jedoch eine heldenhafte Widerstandsgeschichte mit ihm in der Hauptrolle (S. 221 ff.). 

Auf dem Höhepunkt des erwähnten Skandals mit der VVN, der angeblich „nur Judenfreunde“ unterstütze, behauptet Niemöller, dass er, der „Kämpfer für Recht und Wahrheit“ sich nach „anfänglicher Sympathie“ bereits nach der Ermordung eines kommunistischen Arbeiters und Gewerkschafters im oberschlesischen Dorf Potempa durch eine Gruppe uniformierter SA-Männer im August 1932 „von der NSDAP“ abgewandt habe (S. 377). Seine Fans ignorierten all dies, obwohl er mehrmals von Medien bei so offenkundigen Lügen wie der Story mit Potempa ertappt wurde. 

Die Martin-Niemöller-Stiftung behauptet noch heute, im „Als sie die Kommunisten holten“-Zitat kämen Juden nicht vor, weil Niemöller diese nicht habe nennen können, weil „die große Verfolgungswelle“ erst eingesetzt habe, als er schon im KZ gewesen sei
(https://bit.ly/3tCJKYE)
. Dieses Argument lässt sich schnell entkräften: Die Verfolgung der Juden ging gleich 1933 in der ersten Woche nach der Machtübertragung mit einem gewalttätigen Boykott los, und die Reichspogromnacht dürfte selbst in Sachsenhausen erfahrbar gewesen sein. Interessanter ist aber der Zusammenhang: Von der Judenverfolgung soll Niemöller im KZ nichts mitbekommen haben, während er gleichzeitig über den militärischen Widerstand im Bilde gewesen sein will?

Auch das häufig benutzte Argument, dass Niemöller ein Kind seiner Zeit gewesen sei, und man deshalb Verständnis für seine Äußerungen haben müsse, halte ich für Verharmlosung. In Niemöllers Umfeld gab es Menschen, die denselben Zeitumständen und Bedrohungen ausgesetzt waren und trotzdem darauf beharrten, dass alle Menschen Menschen seien (das schreibe ich hier so plakativ, denn genau darauf, diese einfache Erkenntnis zu negieren, läuft Antisemitismus und die Zustimmung zur Machtübertragung hinaus). In der Bekennenden Kirche gilt dies z.B. für Franz Hildebrandt, Karl Barth, Gerhard Jacobi, Christa Müller, Georg Schulz, Elisabeth Schmitz und Elisabeth Schiemann, die bereits 1933 Niemöller und der antisemitischen NS-Politik widersprachen (S. 209 und S. 223). 

Aus der Crew von 1910 gilt dies für den Kapitänleutnant (und späteres DFG-Mitglied) Heinz Kraschutzki, dem die Einsicht bereits im Ersten Weltkrieg kam und der sich aktiv an der Novemberrevolution beteiligte (aber weiterhin an den Crew-Treffen teilnahm). Auch die bereits 1916 erfolgte Aufsehen erregende Entfernung des Kapitänleutnants Hans Paasche (Crew von 1899) aus der kaiserlichen Flotte dürfte dem Marineoffizier Niemöller zu Ohren gekommen sein. Niemöller selbst trat dem Argument von den Zeitumständen entgegen, wenn er Heinz Kraschutzki später so vorstellte: „Das ist mein alter Marinekamerad Kraschutzki. Ihm hat schon der Erste Weltkrieg die Augen geöffnet über das Wesen des Militarismus. Bei mir war leider noch ein Zweiter nötig.“ (Ralph Giordano: Rufer in der Wüste. In: Die Zeit, 10.6.1999).

Zu einem aufrechten Bekenner hätte gehört, dass Niemöller seine Vergangenheit konsistent aufarbeitet. Das tat er jedoch nicht. Gleichzeitig stritt Niemöller in späten Jahren für eine gerechtere Welt, wo er konnte. Der Wandel der Einstellungen und Überzeugungen Martin Niemöllers ist nicht im Sinne eines Saulus-Paulus-Erlebnisses passiert. Ich denke, man sollte sich Niemöllers Einstellungswandel eher wie einen kontinuierlichen lebenslangen Prozess vorstellen. Da Niemöller auch immer mehr oder weniger in seinen alten Vorstellungen festhing, dürfte ihm das aufrechte Bekennen zu seiner Vergangenheit so schwer gefallen sein. 

Zu Niemöllers Geschichte gehören jedoch auch die Fans, die nicht genauer nachfragten oder es gar nicht so genau wissen wollten, wenn Niemöller für peinliche Details schnell mal eine Ausrede konstruierte. 

Uns sollte das Beispiel Niemöller mahnen, auch bei „großen“ Männern (und Frauen) genau hinzuschauen. Auch unsere eigene Blendung beim Betrachten von vermeintlich beeindruckenden Vorbildern müssen wir immer wieder hinterfragen. Denn charismatische Anführer*innen sind nichts ohne ihre Fans, die sie kritiklos beklatschen.

Hauke Thoroe ist aktiv im DFG-VK-Landesverband Berlin-Brandenburg.

Kategorie: Pazifismus, Rezensionen Stichworte: 202101, DFG-VK, Geschichte, Judenverfolgung, Nazizeit, Niemöller, Präsident, Ziemann

28. März 2021

„Was macht eigentlich unser politischer Geschäftsführer?“

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ZivilCourage 1/2021

DFG-VK-Info

Die Kolumne von Michael Schulze von Glaßer

Auf der Demonstration gegen die Münchner „Sicherheitskonferenz“ am 15. Februar 2020 sprach mich ein Mitglied der DFG-VK-Gruppe Nürnberg an und äußerte seine Skepsis, ob die im März geplanten Proteste gegen eine Waffenmesse in seiner Stadt denn stattfinden könnten – im fernen China grassiere ja ein Virus, der drohe auch Europa zu erreichen. Seine Sorgen waren berechtigt – seit einem Jahr ist nichts mehr „normal“. Auch die Waffenmesse in Nürnberg samt der geplanten Proteste fand – wie so viele Aktionen – nicht mehr statt. Die Pause vom sonstigen Aktionsmarathon – die einfach geringere Zahl von Aktionen seit Ausbruch der Pandemie – bietet aber auch die Möglichkeit, sich einfach Gedanken über die politische Strategie und um Wirksamkeit unseres Verbands zu machen.

Die DFG-VK ist eine politisch wirkende Organisation. Mit viel Engagement versuchen wir, friedenspolitische Probleme in unserer Reichweite an der Wurzel zu verändern: Wir protestieren etwa in Büchel gegen Atomwaffen und versuchen, die Regierung in Berlin zum Beitritt zum Verbot der Waffen zu drängen. Wir „bearbeiten“ Bundestagsabgeordnete, damit sie sich gegen die Bewaffnung von Drohnen aussprechen. Und auch zu Killerrobotern, zu Bundeswehr-Werbung und vielen anderen Themen sind wir auf politischer Ebene und auf den Straßen aktiv. Dabei führen wir auch mal direkte Aktionen aus – blockieren etwa die Eingänge von Rüstungsfirmen oder die Tore von Kasernen. Was wir aktuell machen – und wie wir es machen – ist sehr gut. Das zeigen nicht zuletzt unsere vielen Erfolge im vergangenen Jahr (Stichwörter: UN-Atomwaffenverbot, Drohnen-Bewaffnung, Lego-Kriegsspielzeug…).

Doch sollten wir nicht vielleicht noch direkter für Frieden aktiv werden?

Sollten wir nicht Minen entschärfen in Kambodscha oder anderen Regionen der Welt? Sollten wir nicht Kontrolleur*innen für die Einhaltung internationaler Abrüstungsverträge stellen? Sollten wir nicht für das Einsammeln und Vernichten von Schusswaffen sorgen? Sollten wir nicht vor Ort auf die Einhaltung von Waffenstillständen in Konfliktregionen achten? Sollten wir nicht Menschen helfen, die vor Krieg und Waffen „Made in Germany“ fliehen müssen? Und ganz groß gedacht: Sollte die DFG-VK nicht die Organisation sein, die verfeindete Kriegsparteien an einen Tisch bringt?

Auch wenn vieles davon nicht umzusetzen ist: Wenn ihr die Fragen auch nur mit einem „eigentlich schon“ beantwortet, sollten wir darüber debattieren, wie wir zusätzlich (!) zu unserem aktuellen Engagement auch direkter für unsere Ziele tätig werden können. Unsere Satzung steht dem nicht entgegen – viel mehr fordert sie eben dieses direkte Engagement (das es beispielsweise für Kriegsdienstverweigerer*innen gab und gibt) auch. Teilweise machen es Partner*innenorganisationen von uns – wie etwa das Forum Ziviler Friedensdienst (forumZFD) – schon. Doch gibt es noch viele unbearbeitete Felder.

Eines dieser Felder brachte mich auch überhaupt erst auf den Gedanken dieser direkteren Friedensarbeit: In Nord- und Ostsee liegen noch immer 1,6 Millionen Tonnen Weltkriegsmunition – darunter 5090 Tonnen chemische Waffen. Korrosion und der Einfluss der Gezeiten verschlechtern den Zustand der Munition – die Altlasten des Krieges drohen ganz aktuell, zu einer Umweltkatastrophe zu führen. Die Bundesregierung ignoriert das Thema bislang, die Bundesländer der Nord- und Ostsee nehmen sich des Themas hingegen langsam an. Der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) ist zu „Munition im Meer“ bereits sehr aktiv. Es gibt bereits Treffen von Expert*innen, die über die Räumung von Munition beraten und Techniken entwickeln und vorstellen. Am 21. Januar berichtete das ARD-Europamagazin und später auch „taggesschau.de“ über die „Zeitbomben am Meeresgrund“, am 25. Januar waren die „Rostenden Zeitbomben“ Titelthema in der Süddeutschen Zeitung. Sollte sich nicht auch eine Friedensorganisationen wie die unsere einmischen?

Äußern und Forderungen stellen können wir natürlich immer. Doch sollten wir nicht auch direkt öffentlichkeitswirksam bei der Räumung der Munition mitwirken? Sollten wir nicht in die Öffentlichkeit rufen „Seht, welchen Schaden selbst ein schon vor 75 Jahren zu Ende gegangener Krieg noch heute verursacht – wir helfen bei der Beseitigung der Altlasten, aber sagen euch: Nie wieder! Nie wieder Krieg! Nie wieder Munitions- und Waffenproduktion!“ und dies auch mit Bildern der Munitionsräumung untermalen?

Es nicht nur bei Appellen an die jeweiligen Regierenden zu belassen, sondern selbst zu handeln, ist auch eine Lehre aus der Klimabewegung, die uns durchaus in vielen Punkten Vorbild sein kann: Aktivist*innen wie Greta Thunberg betonen immer wieder, man solle nicht darauf warten bis sich Regierungen bewegen, sondern man soll dem Klimawandel durch eigenes Handeln Einhalt gebieten –etwa durch den Verzicht auf Flüge und die Umstellung auf Strom aus erneuerbaren Energien. Zudem gilt es, die Bundeswehr aus der Räumung, bei der sie sicher versuchen wird, sich – mal wieder – als Umweltschützerin zu präsentieren, herauszuhalten: 2019 wollte sie das bereits, hat bei der brachialen Räumung alter Seekriegsminen mittels Sprengung im Ostseenaturschutzgebiet Fehmarnbelt aber mehr als 15 Schweinswale getötet. Mittlerweile ist klar, dass die Bundeswehr bei ihrer Sprengaktion das Bundesnaturschutzgesetz missachtet hat. Es braucht eine in mehrfacher Hinsicht zivile Räumung der Munitionsreste in Nord- und Ostsee mit politischer Botschaft gegen das umweltverschmutzende Militär!

In meinen ZivilCourage-Kolumnen und Texten habe ich schon häufig um Offenheit für neue friedenspolitische Themenfelder gebeten. In den letzten Jahren hat der Verband diese Offenheit durchaus gezeigt – was sowohl politisch erfolgreich war, als auch der DFG-VK selbst gut tat und wir etwa neue, junge Mitglieder gewinnen konnten. Nun würde ich mich über Stimmen zu den obigen Fragen und gerne auch dem konkreten Thema der „Munition im Meer“ freuen. Sollen wir in Zukunft direkter für eine friedlichere Welt aktiv werden? Schreibt Leser*innenbriefe für die ZivilCourage und/oder mir auch gerne direkt: svg@dfg-vk.de

Neben den Gedanken – und schon einigen Gesprächen – zum Thema der (direkten) Wirksamkeit der DFG-VK lief die Arbeit natürlich auch sonst weiter: Im Dezember ging es – wie jedes Jahr – viel um die Finanzen unseres Verbands, im Januar gab es glücklicherweise zumindest schon wieder ein paar Aktionen (mit Abstand und Mund-Nasen-Schutzmasken). Mehr dazu könnt ihr im zweimonatlich erscheinenden DFG-VK Mitglieder-Newsletter erfahren. Wenn du den noch nicht bekommst schreib eine Mail an Kathi Müller, und sie trägt dich in den Newsletter-Verteiler ein: mueller@dfg-vk.de

Kategorie: DFG-VK Stichworte: 202101, Demonstration, Frieden, Geschäftsführer, Minen, Newsletter, Schulze von Glaßer

27. März 2021

Angriff auf linke Friedenspolitik

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Antimilitarismus

Linke-Politiker Matthias Höhn legt Konzept vor, das dem Parteiprogramm widerspricht

Von Tobias Pflüger

Klare antimilitaristische Haltung seit  Jahrzehnten: Tobias Pflüger hier als Redner bei Friedensdemo (Foto: Stefan Philipp)

Zum Jahresanfang hat Matthias Höhn, Bundestagsabgeordneter der Linken, ein „Diskussionsangebot“ gemacht, wie „linke Sicherheitspolitik“ künftig aussehen soll. „Linke Antworten auf der Höhe der Zeit“ forderte er in einem Positionspapier. Tatsächlich legt Matthias Höhn die Axt an zentrale friedenspolitische Positionen der Linken.

Die Linksfraktion im Bundestag wendet sich programmgemäß strikt gegen den Umbau der EU zu einer Militärmacht. Als einzige Fraktion sagt die Linke konsequent Nein zu den millionenschweren Rüstungsprojekten dieser Bundesregierung. Die Linksfraktion ist gegen die Auslandseinsätze der Bundeswehr und kämpft gegen das aberwitzige Zwei-Prozent-Ziel der Nato. Ohne Die Linke würden diese zentralen friedenspolitischen Positionen im Bundestag gar nicht vorkommen.

Fatalerweise setzt Matthias Höhn genau hier an: „Die EU muss sich als politischer Akteur mit eigenständigen Interessen, Zielen und Werten verstehen und auch als solcher agieren“, fordert er. Deshalb müssten sich Linke über „Ziele und Mittel einer europäischen Sicherheitspolitik“ verständigen. „Für DIE LINKE sind Verteidigungspolitik und EU derzeit jedoch zwei unvereinbare Dinge. Das ist ein Fehler“, behauptet Höhn.

Damit übernimmt Höhn komplett Positionen, wie sie bei SPD oder Grünen (programmatisch) vertreten werden, das ist wohl auch Zweck der ganzen Übung. Diese Positionen wollen den Umbau der EU in eine Militärmacht mittragen und vorantreiben. Höhn beklagt durchaus in seinem Papier das Verhalten von Großmächten, denen es nur „um geopolitische Einflusssphären und wirtschaftliche Interessen“ gehe und die „für den eigenen Vorteil internationale Regeln (…) brechen“. Er nennt namentlich aber nur die Vereinigten Staaten, Russland und China. Bezüglich der EU schürt er dagegen unglaubliche Illusionen. Er missachtet völlig, dass auch die EU ein großer geopolitischer Akteur ist mit ökonomischen und militärischen Interessen. Das ist nichts anderes als illusionäre Realpolitik.

Ein Dorn im Auge ist Matthias Höhn auch das strikte Nein zu Rüstungsprojekten der Bundeswehr. „In den zurückliegenden Legislaturperioden hat die Linksfraktion nahezu keiner Beschaffung für die Bundeswehr, von der persönlichen Ausrüstung bis zum Kampfflugzeug, zugestimmt“, klagt er. Das stimmt. Genau das ist ein wesentlicher Punkt, auf den ich auch weiterhin drängen werde. Denn wir sind mit dem ganzen Kurs der Bundeswehr nicht einverstanden und dringen im Parlament auf Abrüstung. Denn die 53 Milliarden Euro, die diese Hochrüstung 2021 kostet, fehlen natürlich im zivilen Sektor, etwa zur Bekämpfung der Corona-Pandemie.

Es wäre daher auch keine Lösung, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato durch ein „1-plus-1-Prozent-Ziel“ zu ersetzen – 1 Prozent Entwicklungszusammenarbeit, 1 Prozent Militär, wie Matthias Höhn das vorschlägt. Denn das wäre immer noch deutlich zu viel. Ein Prozent wären 2020 bei einem – wegen Corona leicht gesunkenen – Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 3,32 Billionen Euro immer noch 33 Milliarden Euro. Der ideale Verteidigungshaushalt von Matthias Höhn wäre in etwa so hoch wie der Verteidigungshaushalt von 2016, der bei 34,3 Milliarden Euro lag. Und er wäre sogar um 10 Milliarden Euro größer als im Jahr 2000, als der Etat 24,3 Milliarden Euro betragen hatte. Also: Kein vernünftiger Abrüstungsvorschlag. 

Ein Prozent des BIP für die Bundeswehr bedeutet also weiterhin enorme Militärausgaben. Hinzu kommt: Den Militäretat an das BIP anzubinden, ist an sich unsinnig. Denn dann steigt der Bundeswehr-Etat immer entsprechend der Wirtschaftsleistung, ohne dass friedenspolitische Erwägungen auch nur angestellt werden müssten. Das wäre sozusagen automatisierte Aufrüstung.

Auch Auslandseinsätze schließt Höhn in Bezug auf EU und UN keineswegs aus, er plädiert lediglich für einen „Schwerpunkt auf der Landesverteidigung“. 

Insgesamt ist der Text ein Angriff auf die programmatischen Grundlagen linker Friedenspolitik. Matthias Höhn will eine grundlegende, aber falsche Wende. 

Die gute Nachricht ist: Was Matthias Höhn da schreibt, ist eine Einzelmeinung, in der Linken gibt es dafür keine Mehrheiten. Die Linke steht zu ihrem gültigen Parteiprogramm, dem Erfurter Programm von 2011, ist gegen die Militarisierung der EU und setzt sich „für eine schrittweise Abrüstung der Bundeswehr“ ein.

Auch der Parteivorstand der Linken hat sich am 23. Januar hinter das Erfurter Programm gestellt und unter anderem eine europäische Armee klar abgelehnt. Drei Tage später war das Papier auch Thema in der Sitzung der Bundestagsfraktion. Dort verwies auch der Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch auf den Beschluss des Parteivorstandes und ging nach nur wenigen Redebeiträgen zu anderen Tagesordnungspunkten über. All das zeigt: Die Linke bleibt Friedens- und Antikriegspartei und lehnt Bundeswehr-Einsätze ab – auch solche unter EU-Flagge.

Und wenn ich noch einen Tipp geben darf, dass sich solche Positionen wie die von Matthias Höhn in der Linken auch weiterhin nicht durchsetzen: Es ist durchaus sinnvoll, diejenigen in der Linken zu (unter)stützen, die die linke Friedensprogrammatik oder darüber hinaus vertreten. 😉 

Tobias Pflüger ist stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke, Verteidigungspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag und jahrzehntelanges Mitglied der DFG-VK.


Der Vorstand der Partei Die Linke hat am 23. Januar 2021 beschlossen: 

Keine Aufweichung friedenspolitischer Positionen

Der Parteivorstand sieht keinen Anlass, von den friedenspolitischen Positionen der Partei abzurücken und stellt daher klar:

  • Die Bundeswehr muss aus allen Auslandseinsätzen zurückgeholt werden, neue Auslandseinsätze lehnen wir ebenfalls ab, unabhängig davon, unter welcher Organisation sie stattfinden.
  • Die Linke setzt sich für eine schrittweise Abrüstung der Bundeswehr ein, die kriegsführungsfähigsten Teile sollen zuerst abgerüstet werden. Die Abrüstung ist zu begleiten durch Konversionsprogramme für die Beschäftigten in der Rüstungsproduktion, für die Soldatinnen und Soldaten und für die Liegenschaften der Bundeswehr. Unser Ziel bleibt ein Deutschland, ein Europa, eine Welt ohne Kriege und Armeen.
  • Zustimmung zu Aufrüstungsprojekten ist dementsprechend mit der Linken nicht vereinbar.
  • Wir fordern die Auflösung der Nato und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als ein zentrales Ziel hat.
  • Eine europäische Armee und andere Vorhaben der Militarisierung führen nicht zu mehr Sicherheit für die Menschen in Europa, sondern sichern nur Konzerninteressen militärisch ab.

Unser Ziel bleibt eine friedliche Welt, eine Welt, in der Geld für Bildung, Soziales, Gesundheit, Entwicklungshilfe und Forschung ausgegeben wird, nicht für das Militär.

Das von Tobias Pflüger erwähnte Papier „Linke Sicherheitspolitik“ von Matthias Höhn ist nachzulesen unter https://bit.ly/3jqC6fn – eine ausführliche Replik hat der Linken-Abgeordnete Alexander Neu veröffentlicht, abrufbar unter https://bit.ly/39T4K5E

Kategorie: Antimilitarismus Stichworte: 202101, Friedenspolitik, Linke, Pflüger

25. März 2021

KDV bleibt wichtig!

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Kriegsdienstverweigerung

Ein Brief an Hannah Brinkmann, die Autorin des Buches „Gegen mein Gewissen“

Von Werner Glenewinkel

Liebe Frau Brinkmann!
Ihr Buch „Gegen mein Gewissen“ – vorgestellt in dem Interview mit Ihnen in der ZivilCourage 5/2020 und in der Connection-Zeitschrift „KDV im Krieg“ 5/2020 – beginnt 1956 mit der Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht und endet 2015 mit Ihrer Entscheidung, die Geschichte Ihres Onkels Hermann aufzuarbeiten. Zunächst gegen den Widerstand der Familie, insbesondere Ihres Vaters, Hermanns Bruder Hans. Sein „Was gibt es da noch zu erzählen?“ wandelt sich im Verlauf Ihrer Recherche-Arbeit zu „Toll, dass du Hermanns Geschichte erzählst!“ und endet damit, dass Hermanns Geschichte für alle einen „Sinn“ bekommen hat. 

Damit umspannt Ihr Buch fünf Jahrzehnte politischer Auseinandersetzung – von der Einführung der Wehrpflicht 1956 bis zu Ihrer Aussetzung 2011. Das Besondere an Ihrem Buch ist für mich, dass es Ihnen gelingt, das Individuelle mit dem Gesellschaftlichen zu verknüpfen. Also das traurige Schicksal eines Kriegsdienstverweigerers, Ihres Onkels Hermann, mit der „konservativen Nachkriegspolitik“, d.h. dem ständigen Versuch, Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz auf ein Ausnahmerecht zu reduzieren. Das machen Sie in der Form einer Graphic-Novel-Geschichte mit 230 Seiten und – geschätzt – mehr als tausend Illustrationen. Kein Wunder, dass diese Arbeit Sie über vier Jahre beschäftigt hat. Mit der Art Ihrer Illustrationen – Form und Farbe, Dokumente und Phantasie – gelingt Ihnen auch eine eindringliche Verknüpfung von innen und außen, also von Hermanns realen KDV-Erfahrungen mit seinen Gedanken und Ängsten und Träumen. 

Der Ablehnungsbescheid des Prüfungsausschusses beim Kreiswehrersatzamt Oldenburg, den Hermann 1973 erhielt, versetzt mich – fast automatisch – in meine eigene Geschichte: „Es ist dem Widerspruchsführer nicht gelungen, die Ernsthaftigkeit seiner Gewissenbedenken zu belegen.“ Den Satz kenne ich. Hermann ist an diesem nicht Ernstgenommen-Werden verzweifelt und sah letztlich keinen anderen Ausweg aus seiner Gewissensnot als den Tod. Ich bin neun Jahre älter als Hermann und nach dem Abitur naiv-arglos zwei Jahre zur Bundeswehr gegangen. Danach – im selben Jahr, in dem auch Herman seinen Antrag gestellt hat – habe ich den Kriegsdienst nachträglich verweigert. „Alles, was ich tue, ist abhängig von Menschen; nicht nur von den Personen, mit denen ich lebe und die ich liebe, sondern von allen Menschen und unserer gemeinsamen Geschichte.“ Diesen zutiefst humanistischen Satz aus Hermanns Antrag hätte ich auch schreiben können. 

Vermutlich hat meine nachträgliche Entwicklung zum Kriegsdienstverweigerer mich vor den Nöten bewahrt, die Hermanns Weg bestimmt haben. In der Todesanzeige der Familie vom Januar 1974 heißt es dann am Ende: „Wir fragen uns, warum Hermann diesen Weg gehen musste.“

Mit dieser Todesanzeige in der FAZ wurde aus Hermanns individuellem Schicksal eine Diskussion über das KDV-Grundrecht. Der „Stern“ überschreibt seine kritische Reportage mit „Das Gewehr und das Gewissen“. 

1957 beriefen sich 262 Wehrpflichtigen auf Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz, 1972 gab es über 28 000 Verfahren vor den Prüfungsausschüssen. Im Jahr 1982 gab es fast 60 000 KDV-Anträge von jungen Männern, die dann ihr Gewissen prüfen lassen mussten. 

Als gemeinsame Einrichtung von ca. 30 Organisationen, darunter von Anfang an die DFG-VK bzw. ihre Vorläufer, hatte sich die „Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen“ (www.zentralstelle-KDV.de) immer gegen diese Gewissensprüfungen eingesetzt. Der langjährige Vorsitzende der Zentralstelle KDV, der 2019 verstorbene Ulrich Finckh, hatte diese Prüfungsverhandlungen als Inquisition bezeichnet. Als solche wurde sie zunehmend auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen und kritisiert. 

Als kleinen, wenn auch wichtigen Fortschritt brachte der Regierungswechsel 1982/83 zur Kohl-Regierung eine Reform des KDV-Anerkennungsverfahren; die mündlichen Prüfungsverhandlungen fielen für die meisten Kriegsdienstverweigerer weg und wurden durch ein schriftliches Verfahren ersetzt. Bis dahin aber galten aber für alle die mündlichen Gewissensprüfungen

Von Ihnen wunderbar illustriert: Herman fühlt sich während der Befragung vor dem Prüfungsausschuss wie in einem Höllenfeuer: „Das ist ein Inquisitionsverfahren.“

Sie zeigen anschaulich, wie Ihr Onkel sich mit Freunden berät und wohl nicht glauben kann, dass man sich auf diese Verfahren vorbereiten muss, um eine Chance zum „Durchkommen“ zu haben. Der Beratungsbedarf war groß und wurde auf vielfältige Weise befriedigt. 

1980 schrieb Hansjörg Martin das Jugendbuch: „Der Verweigerer“, in dem er die Geschichte von Wolfgang Bieber erzählte, der vor dem Prüfungsausschuss ganz ähnliche Erfahrungen macht wie Hermann einige Jahre vor ihm. Ihm wird bescheinigt, dass er nicht darlegen konnte, eine „gewissensgebundene Entscheidung“ getroffen zu haben. Ein Widerspruch bei der Prüfungskammer sei zulässig. Die Geschichte endet damit, dass Wolfgang empfohlen wird, Widerspruch einzulegen. „Das ist eine gute Übung in Demokratie! Außerdem bin ich fest überzeugt, dass Wolfgang es beim nächstenmal schafft!“ Hermann hat es, wie ich auch, nicht geschafft. Hermanns Klage vor dem Verwaltungsgericht war bereits terminiert. Er hat die Entscheidung nicht abwarten wollen. 

Ich bin durch eine negative Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu einem nicht staatlich anerkannten KDVer geworden. Wahrscheinlich war das der Grund, Herrn Martin zu schreiben, dass dieses Ende seiner Geschichte zu optimistisch sei. Meine eigenen Erfahrungen später als Beisitzer in einer Prüfungskammer hatten mir gezeigt, dass die Ablehnung mehr Regel als Ausnahme war. 

Am Ende gab es eine Fortsetzung der Geschichte von Wolfgang Bieber: „Die Gewissensprüfung. Der Verweigerer gibt nicht auf“. Am Ende dieser Geschichte ist nicht alles gut, aber Wolfgang hat sich von dem Gefühl, versagt zu haben und durchgefallen zu sein, befreit. Er ist sogar ein wenig stolz, dass er sich als KDVer positioniert hat. (Hinweis der Redaktion auf das Buch: Werner Glenewinkel: Die Gewissensprüfung. Der Verweigerer gibt nicht auf. Mit einem Nachwort von Hansjörg Martin. Reinbek bei Hamburg 1985)

Sie haben Hermanns Geschichte wieder ans Licht geholt. In dem ZivilCourage-Interview haben Sie darauf hingewiesen, dass Ihre Generation nicht mit der Wehrpflicht konfrontiert ist; dennoch möchten Sie, dass ein Bewusstsein darüber entsteht, dass bis zur Aussetzung der Wehrpflicht vor 10 Jahren „Opfer gebracht wurden“ und dass die fehlende Anerkennung der KDV immer noch ein Problem sei, unter dem viele junge Männer und auch Frauen in anderen Ländern leiden. 

In Ihrem Buch gibt es das Bild von einer Mauer, auf das Hermann und sein Freund mit roter Farbe geschrieben haben: Frieden schaffen ohne Waffen

Das könnte nicht nur als Vermächtnis von Hermann gelesen werden, sondern auch als Auftrag für die Zukunft, den Sie mit Ihrem Buch in die heutige (noch) wehrpflichtfreie Gegenwart transportiert haben. Für mich bedeutet das konkret dreierlei: 

Kriegsdienstverweigerung muss zum allgemeinen Menschenrecht werden. Das ist ein langer Weg, der bei Connection e.V. in guten Händen ist, aber viel mehr zivilgesellschaftliche Unterstützung braucht. 

Militärlogik muss durch eine Friedenslogik ersetzt werden, denn: „Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten.“ Die Grundsatzerklärung der DFG-VK braucht Vervielfältigung.

Wenn unsere Welt für Ihre Generation und meine Enkelkinder erhalten bleiben soll, dann müssen wir uns von einer militärischen Sicherheitspolitik verabschieden und Sicherheit neue denken. Dazu gibt es ein Szenario bis zum Jahr 2040, das viele Chancen und Möglichkeiten enthält, sich mit dem eigenen zivilgesellschaftlichen Engagement einzubringen (www.sicherheitneudenken.de).

Ihr Buch war für mich eine Einladung zu einem anregenden und berührenden Rückblick auf fünf Jahrzehnte KDV-Geschichte. Vielen Dank und herzliche Grüße von Werner Glenewinkel

Dr. Werner Glenewinkel ist Jurist und langjähriges Mitglied der DFG-VK. Von 2007 bis zu ihrer Auflösung nach Aussetzung der Wehrpflicht war er Vorsitzender der Zentralstelle KDV. Kontakt: werner.glenewinkel@t-online.de

Kategorie: Kriegsdienstverweigerung Stichworte: 202101, Brinkmann, Glenewinkel, Inquisition, KDV, Kriegsdienstverweigerung, Prüfungsausschuss, Wehrpflicht

25. März 2021

Der Atomwaffenverbotsvertrag gilt

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 4/2021

Antimilitarismus

Die rechtliche und politische Lage nach dem Inkrafttreten des Vertrages

Von Roland Blach

Die Zahlen

Kundgebung vor dem Kanzleramt in Berlin am 22. Januar (Foto: Uwe Hiksch)

Der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) ist am 22. Januar 2021 in Kraft getreten, nachdem dem Abkommen 51 Staaten beigetreten sind. Weitere Beitritte werden erwartet: die Staaten, die unterzeichnet haben und im Prozess der Ratifizierung sind (weitere 37 Staaten), sowie die Staaten, die ihre Unterstützung bereits kundgetan haben (weitere 50). 

Diese 138 Staaten stellen über 70 Prozent der Staaten weltweit dar – eine klare Mehrheit. Weitere 17 Staaten sind unentschieden, und 42 Staaten sind dagegen. Von diesen 42 Staaten sind 9 Atomwaffenstaaten und 32 solche, die unter dem sogenannten nuklearen Schirm stehen. Diese 32 Staaten sind besonders gefragt, weil sie laut Nichtverbreitungsvertrag (NVV) als Nicht-Atomwaffenstaaten gelten und sich damit dazu verpflichtet haben, auf Atomwaffen zu verzichten. 

Die rechtliche Situation

Nach dem Inkrafttreten des AVV wird der Vertrag völkerrechtlich gültig. Damit kann man sagen, dass Atomwaffen nach internationalem Recht verboten sind. Allerdings sind die Bestimmungen des Vertrags zunächst nur für die Vertragsstaaten verbindlich. Nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge müssen auch Unterzeichnerstaaten, die noch nicht ratifiziert haben, die Bestimmungen einhalten. Alle Staaten, die den Vertrag noch nicht unterzeichnet haben, müssen das nicht. 

Der Vertrag schafft durch das Inkrafttreten und die Beitritte vieler Staaten eine Norm. Atomwaffen werden dadurch immer mehr stigmatisiert. Das haben wir mit anderen Verbotsverträgen bereits erfahren, siehe den Landminen-Vertrag oder die B- und C-Waffenkonventionen. 

Auch wenn Hersteller- oder Besitzerstaaten dem Vertrag nicht beitreten, wird es zunehmend schwierig, Atomwaffen zu rechtfertigen. Sie werden als „kontroverse“ Waffen bezeichnet – ein Begriff, der das Verhalten von Finanzinstituten und Firmen nachhaltig ändern kann. 

Um zu verhindern, dass diese Norm zum Gewohnheitsrecht wird, müssen die Gegner des AVV ihren Widerstand immer wieder geschlossen öffentlich erklären („persistent objection“). Kürzlich erst hat die Nato eine solche Erklärung abgegeben. Deswegen ist es besonders wichtig, dass ein Dialog in der Nato über die Zukunft der Atomwaffenpolitik entsteht. 

Dialog in der Nato

Im Nordatlantikvertrag gibt es keine Erwähnung von Atomwaffen – also ist es rechtlich nicht unerlässlich, dass die Nato eine „nukleare Allianz“ bleibt. 

Das immer wiederholte Statement „Solange Atomwaffen existieren, bleibt die Nato eine nukleare Allianz“ kann auch anders herum verstanden werden: Solange die Nato eine nukleare Allianz bleibt, werden Atomwaffen weiterhin existieren. Das ist ein Teufelskreis. 

Europa spielt eine Schlüsselrolle in der Blockade der Abschaffung von Atomwaffen, wenn man die weltweite Situation betrachtet. Afrika, Lateinamerika, Zentralasien und der Südpazifik sowie Teile Südostasiens bilden atomwaffenfreie Zonen. Hier findet man die meisten AVV-Unterstützerstaaten. Europa hat die meisten Gegnerstaaten, nicht zuletzt wegen der vielen Nato-Mitgliedsstaaten. 

Deutschland hat oft erklärt, Rüstungskontrolle und Abrüstung in der Nato voranbringen zu wollen. Auch wenn die Bundesregierung sich nicht dazu in der Lage sieht, dem AVV beizutreten, kann sie einen Dialog über die nukleare Teilhabe und die künftige Rolle der Atomwaffen in der Nato anschieben. 

Was kann Deutschland jetzt machen?

Die politischen Verhältnisse im Bundestag geben momentan keinen Beitritt zum AVV her. Aber der Weg kann noch geebnet werden, wenn die folgenden Maßnahmen unternommen werden: 

● Deutschland könnte zunächst erklären, die Wahrnehmung über die Bedrohung durch nukleare Abschreckung, die die Mehrheit der Staaten teilt, anzuerkennen. 

● Dabei kann die Bundesregierung versichern, dass Deutschland langfristig auf eine Sicherheitspolitik auf der Grundlage der nuklearen Abschreckung verzichten will, weil eine solche nicht nachhaltig ist. 

● Die Verpflichtung aller Staaten unter Artikel VI des NVV, sich für die nukleare Abrüstung einzusetzen, wurde durch den Aktionsplan 2010 konkretisiert. 

● Ein Aktionspunkt ist die Reduzierung der Rolle von Atomwaffen in der Atomwaffenpolitik von Staaten. Die Bundesregierung sollte einen Plan formulieren, wie dieser Aktionspunkt konkret in Deutschland verfolgt wird, besonders in Bezug auf die nukleare Teilhabe. 

● Der öffentlich erklärte Widerstand der Bundesregierung gegen den AVV kann zurückgenommen werden, und die Bundesregierung kann prüfen, ob Deutschland dem Vertrag künftig beitreten kann und was dafür notwendig ist. 

● Eine Teilnahme als Beobachterstaat an den Staatenkonferenzen zur Überprüfung des AVV würde den Dialog mit den AVV-Staaten ermöglichen. 

Aktuelle Wirksamkeit des Vertrags

Der AVV wirkt sich seit dem 22. Januar 2021 noch stärker aus als zuvor, weil er dann Teil des Völkerrechts ist. Atomwaffen gehören damit zu der Klasse der „kontroversen“ Waffen. Der AVV hat die Abrüstungsdebatte bereits verändert und wird seine Wirkung mit dem Inkrafttreten weiter verstärken. 

Seit dem Tag des Inkrafttretens ist der AVV für seine Vertragsstaaten verbindliches Recht und muss durch nationale Maßnahmen umgesetzt werden. Beispielsweise hat das irische Parlament bereits ein Gesetz verabschiedet, das jegliche unter dem Vertrag verbotene Aktivität unter Strafe stellt. 

Bereits jetzt diskutieren Firmen und Finanzinstitute über den neuen Status von Atomwaffen durch den Verbotsvertrag. Firmen wie Airbus, MAN und Thyssen-Krupp sind im Atomwaffengeschäft involviert und können dadurch mehr in die Kritik geraten. 

Die Finanzierung von Atomwaffen wird durch das Verbot der unterstützenden Tätigkeiten (Artikel 1 lit. e) mittelbar untersagt. Finanzinstitute und Banken in Vertragsstaaten können keine Kredite an Hersteller von Atomwaffen und Trägersystemen vergeben oder anderweitig in diese investieren. 

Schon heute haben globale Banken ihre Richtlinien in Bezug auf Atomwaffen angepasst und dabei explizit auf den AVV verwiesen, auch in Staaten wie Deutschland, den Niederlanden und Belgien. 

Das Tabu gegen den Einsatz von Atomwaffen wird mit dem AVV gestärkt. Das kann auf das Verhalten von Staaten, die noch nicht beigetreten sind, Auswirkungen haben. 

Beispielsweise werden künftig explizite und implizite Drohungen mit Atomwaffen nicht ohne scharfe Kritik der Vertragsparteien ausgesprochen werden können. Die Strategie der nuklearen Abschreckung wird in bisher ungekanntem Ausmaß unter Rechtfertigungsdruck kommen. 

Roland Blach ist Geschäftsführer des DFG-VK-Landesverbands Baden-Württemberg.

Kategorie: Antimilitarismus, Atomwaffen Stichworte: 202101, Abrüstung, Atomwaffen, Atomwaffensperrvertrag, Nato, Nordatlantikvertrag, Rüstungskontrolle, Völkerrecht

25. März 2021

Profiteure der Abschreckung

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ZivilCourage 4/2021

Antimilitarismus

Die Grenze zwischen Mexiko und den USA

Von Maria-Eugenia Lüttmann-Valencia

Demonstration vor der Waffenschmiede Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar (Foto: Stefan Philipp)

Seit etwa 1990 wird an der Grenze zwischen den USA und Mexiko, der „Southern Border“ oder „La Frontera del Norte“, die katastrophale bürgerkriegsähnliche Situation Mexikos und die anderer Länder Lateinamerikas sichtbar: Tausende Menschen stehen an dieser Grenze – Schleppern ausgeliefert, nach langem Fußmarsch, vielen Entbehrungen und Erniedrigungen – und ersuchen um Asyl in den USA. Sie stehen dort, weil der Zusammenbruch lateinamerikanischer Staaten durch Korruption, Straflosigkeit, Verfall der Wirtschaft und die allgemeine todbringende Gewalttätigkeit ihnen jegliche Perspektiven auf ein normales Leben in der Heimat genommen hat. 

Doch das stimmt nicht für alle: Denn es gibt viele Profiteure an dieser Grenze. Hier ist das entstanden, was US-Amerikaner politisch eine „revolving door“ nennen – eine Drehtür für Schlepperbanden, Drogenhändler, Waffenhersteller und Waffenhändler. Für Drogenproduzenten und -händler hat der enorme Drogenkonsum in den USA einen überaus lohnenden Markt eröffnet, der auch noch durch Frauenhandel und Prostitution für US-amerikanische Kunden in grenznahen Städten Mexikos erweitert wird. 

Auf der US-amerikanischen Seite versorgen sich ganze Drogenkartelle mit Waffen. Vor allem aber eröffnet diese Situation einen lohnenden Markt für US-amerikanische und internationale Waffenproduzenten. Seit einigen Jahren errichten bekannte Waffenschmieden in den grenznahen US-Staaten – dem sog. „Gun Belt“ – immer mehr Niederlassungen und Waffenläden. 

Eine Flut von Waffen schwappt über die Grenze, schürt den Konkurrenzkampf der Drogenkartelle und die allgemeine Kriminalität. Im besonderen Fall Mexikos hat sie mittlerweile eine Welle der Gewalt über das ganze Land gebracht. Die Zahl der Opfer durch Kleinwaffen geht in die Hunderttausende, dazu kommen Tausende von Verschwundenen, deren Schicksal niemand kennt. 

Der Zusammenbruch der Infrastruktur – auch als Folge des Einsatzes von Kleinwaffen – führt zu Versorgungsproblemen, zu Hungersnot und Verelendung. Der korrupte mexikanische Staat, selbst in Drogengeschäfte verwickelt, versucht jede Berichterstattung zu unterbinden, politische Repression ist an der Tagesordnung. Straflosigkeit macht sich breit, Menschenrechtsverletzungen bleiben ungesühnt, davon kündet die Zahl ermordeter Journalisten  und Frauen.

Stimmenfang mit fremdenfeindlichen Sprüchen

Die Migrationsbewegung in ganz Lateinamerika wurde medial erst sichtbar, als (jetzt: Ex-)US-Präsident Trump während seiner Wahlkampagnen im Jahr 2016 an dieser dünnen Linie zwischen dem – aus Sicht der Flüchtlinge „erträumten Paradies“ – USA und Mexiko in besonders krasser Weise mit stimmenheischenden und extrem fremdenfeindlichen Sprüchen auf Wählerfang ging. Unter seinen Anhängern schürte dies Furcht vor Überfremdung, Jobverlust und die Angst vor Vergewaltigungen und Verbrechen durch Latinos. 

So sehr Trump sich damit zum Retter der Nation gerieren wollte, hat er sich doch lediglich in die politische Tradition seiner Vorgänger gestellt, die weit in die Geschichte der USA reicht. Aus der Sicht des Journalisten und Buchautors Daniel Denvir krönte Trump mit seinem Spruch „build the wall“ und seinen deklassierenden Äußerungen über Ausländer offen und unverblümt ein ganzes Jahrhundert einer nativistischen Ideologie in der Politik der USA. Im Bestreben, die USA als weißes Land für weiße Menschen zu sichern, haben alle Vorgänger Trumps, so Denvir, bereits mehr Mauern, Zäune und Käfige gebaut, als er selbst je hätte bauen können. 

Große Teile der Grenze haben sich bereits seit Jahren mit dem „fencing“ (Zaun, Umzäunung) unterschiedlichster Gestalt „bewährt“. Seit 1924 haben alle US-Regierungen Maßnahmen erlassen, um die Grenze mit bürokratischen und zunehmend paramilitärischen Abschottungsprogrammen zu kontrollieren.

In der Border Enforcement Zone, einem 100 Meilen umfassenden Grenzbereich im Innern der USA, werden rund zwei Drittel der US-Bevölkerung überwacht und kontrolliert. Dies ist ein Bereich, in dem eine Reihe von Behörden wie die hochgerüstete Border Patrol, die gewaltbereite Polizei und auch die militärisch ausgerüstete National Guard besondere Rechte haben. 

Zudem zeigen die Profile einiger Baufirmen, wie Lobbyismus in der Bauindustrie aus politisch eskalierten Situationen Profit zu schlagen versteht: mit gezielten Parteispenden, deren Höhe entscheidend die Empfehlung für eine bestimmt Firma bei der zuständigen Behörde beeinflusst. 

Die Unverfrorenheit Trumps zeigte sich 2018, als er medienwirksam neue Abschnitte des Zauns an der mexikanischen Grenze als Teile seiner „wunderbaren Mauer“ einweihte. Dabei wusste er zu verschweigen, dass es sich dabei um Projekte handelte, die seine Vorgänger Bush und Obama schon lange angeordnet und bezahlt hatten, die aber erst in seiner Amtszeit abgeschlossen wurden. Allem Anschein nach wird Trumps Mauer nicht die gesamten 2000 Meilen erfassen, sondern lediglich 200. 

Waffenlieferungen an Mexiko und das Drogengeschäft. Trumps Politik hat ein mediales Vergrößerungsglas auf das Problem der illegalen Einwanderung über die mexikanische Grenze in die USA gelegt und die Furcht vor der immensen „kriminellen Energie“, die damit importiert werde, aufkommen lassen. Das ist eine machtpolitische Taktik, die geschickt mit der vorhandenen xenophoben Grundstimmung seiner Wähler spielte. 

Mit keinem Wort wird dabei der Gegenfluss aus den USA nach Mexiko erwähnt: Die gewaltige, täglich den Tod bringende Flut von Waffen, die sich aus den USA und aus anderen Ländern nach Mexiko und nach ganz Lateinamerika ergießt, ist eine sprudelnde Einnahmequelle für die US-amerikanischen und internationalen Waffenschmieden, die sich aus dem Schwarzgeld des Drogenverkaufs nährt. 

John Lindsey-Poland, Menschenrechts- und Demilitarisierungsaktivist, betont, dass die Waffen aus den USA primär an mexikanische Behörden verkauft werden, an Ministerien der Verteidigung und der Marine, die dafür verantwortlich zeichnen, Mit welchen undurchsichtigen Machenschaften die Waffen ihren Weg in die Hände von Kriminellen nehmen, ist schwer zu ergründen. Zuverlässige Quellen schätzen, dass gegenwärtig ca. 20 Millionen Waffen in Mexiko im Umlauf sind. 

Dazu gehören, dank der liberalen Waffengesetze in den USA und wegen fehlender Kontrollen beim Verkauf und beim Zoll, ganze Arsenale, die von sog. „Strohkäufern“ (US-Bürgern) direkt in den USA erworben werden. Hinter der Grenze bringen sie hohen Gewinn. Mit all diesen Waffen werden Korruption und Gewalt befeuert und Straflosigkeit in Mexiko erzwungen. Die Mordrate erreicht jedes Jahr immer größere Ausmaße. Darin sehen Experten die Ursache dafür, dass so viele Menschen in die „sicheren“USA einwandern wollen. 

Der Anthropologe Howard Campbell, Professor an der Universität Texas in El Paso, beschreibt den Drogenhandel als eine illegale Form von Kapitalanhäufung, die mit maßlosem Konsumismus Reichtum zelebriert, gefördert durch Neoliberalismus und korrupte Absprachen mit staatlichen Behörden. Letztendlich sei der Drogenhandel integraler Bestandteil des US-amerikanischen und des mexikanischen Wirtschaftssystems geworden. Der Grenzraum sei, so Campbell, ein fließender transnationaler Kulturraum, in dem rivalisierende Kräfte um Bedeutung, Wert und Kontrolle von Drogen kämpfen.

Militärische und elektronische Abschottung der Grenze

Im Jahr 2003 wurde im Auftrag des Pentagons ein Bericht erstellt, der die Bedrohungen der USA durch klimatisch bedingte Migration aufgrund von Katastrophen wie Dürren oder Orkane feststellen sollte, mit dem Ziel, die „Grenzen so auszubauen, dass hungerleidende Migranten aus den Karibischen Inseln, Mexiko und Südamerika von einem Grenzübertritt abgehalten würden. Dieser milliardenschwere Prozess war zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits seit 1994 im Gange, dank einer stetigen Aufstockung des Grenzschutzpersonals und der militärischen Bewaffnung desselben. Nach 9/11 suchte man die Unterstützung israelischer Unternehmen bei der Grenzsicherung und genehmigte Überwachungsflüge mit Hermes Drohnen der Firma Elbit Systems.

Neu war aber, dass 2006 der Kongress die Ausrüstung der 700 Meilen langen Grenze zwischen Arizona und Sonora mit elektronischer Überwachungstechnologie, genannt SBINet, genehmigte. Fünf Jahre später gab man dieses System auf und die Zoll- und Grenzpolizei CBP wandte sich 2012 erneut an Elbit. Für 145 Millionen US-Dollar wurde 2014 die Südgrenze Arizonas mit einem integrierten System aus elektronischen Wachtürmen und mit radarbestückten Zeppelinen, Bodensensoren und Gesichtserkennungssoftware ausgestattet – alles, wie der Hersteller betonte, in Gaza felderprobte Produkte. 

Mit der Aufstellung des „University of Arizona’s Global Advantage Program“ mit den intendierten „Tech Parks“ nahm die Synergie der seit Langem existierenden Zusammenarbeit israelischer und US-amerikanischen Waffenhersteller eine neue Gestalt an. Stephen Graham, Professor für Urbanismus, schreibt, dass der so entstehende Sicherheits- und Militärindustriekomplex beide Länder wie mit einer Nabelschnur derart verbindet, dass man es eigentlich als ein einziges „diversifiziertes transnationales Gebilde“ betrachten kann.

Der Journalist Jimmy Johnson prägte dafür den Begriff der „Palästina-Mexiko Grenze“. Jeff Halper, israelischer Friedensaktivist und Professor für Anthropologie, befürchtet, dass damit nicht nur israelische Technologie, sondern auch „der Sicherheitsstaat“ sich in der ganzen Welt breit macht, ein Gemenge aus Praktiken, die den Krieg „reframen“: Die Polizei wird militarisiert, das Militär bekommt Polizeiaufgaben. Halper nennt das den Missile-Komplex, ein Akronym für „military, internal security, intelligence and law enforcement“. Israel verbreite so ein Kontrollsystem des „Global Palestine“

Will Parrish von der Zeitschrift „The Intercept“ schreibt, dass diese Art der Militarisierung hohe Profite für Technologie- und Verteidigungsunternehmen verspricht. Führende Firmen mit Grenzsicherungsaufträgen wie Lockheed Martin und Startups wie Andúril Industries versorgen neben israelischen Herstellern diesen wachsenden Markt mit IT und Überwachungssensoren, vor allem in Grenznähe. Seit 2016 wirbt der Staat Arizona mit den Tech-Parks für die Ansiedlung weiterer Waffenkonzerne. Die Abschottung wird konsolidiert: Begriffe wie „cyber-physical wall“ (eine zunehmend an Computern fernkontrollierte Wallanlage) oder „border security“ blenden erfolgreich aus, worum es hier geht: Menschen, die in ihrer Verzweiflung Schutz suchen.

US-Rüstungsproduktion in Mexiko

Aufgrund der niedrigen Löhne ist Mexiko seit langem ein attraktiver Produktionsstandort für die US-Industrie. Seit den 90er Jahren haben US-Rüstungsunternehmen in der Grenzregion Mexikos – im Rahmen der Nadib (North American Defense Industrial Base) – sog. „Maquiladoras“ eingerichtet, was man mit „Verarbeitungs- und Montagewerke“ übersetzen könnte, um dort Teile für militärische Produkte herstellen zu lassen. Zu diesen Firmen gehören z.B. Emerson Space, GE Aerospace, Stuart-Warner, General Dynamics, TRZW, Westinghouse und Rockwell International u.a. 

Besondere Handelsabkommen zwischen beiden Staaten erlauben den USA, Material und Fertigteile zollfrei ein- und auszuführen. Die Endmontage all dieser militärischen und grenzsichernden Teile erfolgt „aus Sicherheitsgründen“ in den USA, wo dann auch erst der Mehrwert entsteht. 

Das Nafta-Abkommen von 1994 hat den Firmen diese Möglichkeiten eröffnet und den Arbeitern Prosperität vorgegaukelt. Politisch herrschte die Vorstellung, man könne durch abschreckende Abschottung Migranten auf der mexikanischen Seite halten und ihnen Arbeitsplätze zu Löhnen anbieten, die den Auftraggebern vielfach bis zu 90 Prozent Kosteneinsparung bringen. Die Arbeits- und Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft – oft gestrandete Migranten und Migrantinnen – stellen offenkundige Verletzungen der Menschenrechte in vielfacher Hinsicht dar, auch von mexikanischer Seite her. 

Gewalt gegen Migranten, Opfer der Abschottung

Die Aclu (American Civil Liberties Union) registrierte in den letzten Jahren eine steigende Zahl von verhafteten und abgeschobenen Migranten durch die Zoll- und Einwanderungsbehörde ICE. Die Aclu weist darauf hin, dass die Behörde dabei das von der 4. Ergänzung der US-amerikanischen Verfassung garantierte Recht auf Gleichbehandlung missachte, u.a. das Recht auf Anhörung und auf einen fairen Prozess. 2010 hat der Sender NPR (National Public Radio) einen Bericht darüber ausgestrahlt, wie Senator Russell Pearce das Einwanderungsgesetz in Arizona mit Hilfe großer Organisationen (z.B. die National Rifle Association und die National Shooting Sports Foundation) auf den Weg brachte und das zu einem „vielversprechenden neuen Markt“ für die private Gefängnisindustrie wurde.

Um Familien abzuschrecken, trennt die Border Patrol seit 2017 systematisch Kinder vom Säuglingsalter an von ihren Angehörigen und übergibt sie in die Obhut der Office of Refugee Resettlement (ORR). Bis Oktober 2020 waren insgesamt 5 000 Familien betroffen und 2 654 Kinder. Diese wurden auf 17 Staaten in 121 Unterbringungszentren verteilt. Viele der Kinder konnten inzwischen ihren Eltern zurückgegeben werden. 

Menschen suchen Schutz in den USA und nehmen dafür lange Wege der Entbehrung und Erniedrigung in Kauf, erleiden Verluste, Hunger und Krankheit. Wenn sie es über die Grenze schaffen, erwartet sie fast überall die gnadenlos trockene Wüste. Ohne Orientierung verirren sie sich, kaum jemand überlebt bei sengenden Temperaturen länger als 48 Stunden. Sich an die Border Patrol zu wenden, scheidet wegen der Gefahr der Verhaftung und Ausweisung aus. Hilfe in medizinischen Einrichtungen bleibt außen vor, da sie von der Border Patrol überwacht werden. Experten schätzen, dass in den letzten 20 Jahren ca. 7 000 Menschen dort umgekommen sind, räumen aber ein, dass die reale Zahl sehr viel höher sein dürfte.

Der Tod als Abschreckungsinstrument, die Wüste als Waffe, das ist ein erklärtes Mittel der Abschottungspolitik der US-Regierung. Wie bei der „Alliance for global Justice“ nachzulesen ist, war 2010 in einem Bericht des „Congressional Research Service“ offen davon die Rede, mit der „new policy“ der Militarisierung urbaner Grenzabschnitte Migrantenströme in „geographisch harschere“ und abgelegene Gebiete zu leiten, um sie von einem Grenzübertritt abzuhalten. Schon im „Border Patrol Strategic Plan: 1994 and beyond“ wurde diese Art der Abschreckung als geeignetes Mittel festgeschrieben, um die Sicherheit der Nation zu gewährleisten. 

Hilfe kommt aber von Seiten zivilgesellschaftlich engagierter Freiwilliger, meist aus christlich orientierten Kreisen. Einer der Gründer des „Sanctuary Movement“, Reverend John Fife, organisierte ein Netzwerk, das schon in den 90er Jahren den Hilfesuchenden durch Aufstellung von Wasserkanistern vor dem Verdursten bewahrte und Verletzten Kirchenasyl bot. Später kamen die „Samaritans“, „No more deaths“ und „The Tucson Samaritans, Humane Borders“ hinzu, die es als ihre Pflicht empfinden, dort einzuspringen, wo der Staat versagt. 

Viele dieser Freiwilligen werden von den Behörden verfolgt, wie der Leiter der Gewerkschaft der Grenzpolizei offiziell und unverhohlen 2020 in Fox News äußerte. So geschehen, z.B. an den 23-jährigen Shanti Sellz und Daniel Strauss, die während der extremen Hitzeperiode 2005 drei Schwerverletzte zur ärztlichen Versorgung in eine Kirche brachten. Wegen Schmuggel und Verschwörung wurden sie angeklagt und zu 15 Jahren Haft verurteilt. 

Die zunehmend militarisierten Abschottungsprogramme der US-Regierung an dieser Grenze nahmen vor bald 100 Jahren ihren Anfang, nichts weist darauf hin, dass sie nicht auch in Zukunft weiter bestehen werden. Trump war lediglich ein Zaungast in diesem Geschehen. Die US-Außenpolitik wird weiterhin von den Grundsätzen der Monroe- und Adams-Doktrinen und vom Nativismus bestimmt.

In diesem Beitrag wurde der Versuch unternommen, ein Teil der sehr unterschiedlichen Faktoren darzustellen, die die Situation an der Mexiko-USA-Grenze im Augenblick kennzeichnen. Drei Elemente, die sich gegenseitig bedingen, sind diesen zwei Staaten gemeinsam und besonders konfliktträchtig, wenngleich sehr unterschiedlich ausgeprägt: Der Drogenhandel, der Waffenhandel und die Verletzung der Menschenrechte von Migranten. 

Wir bei GN-STAT (Global Network – Stop The Arms Trade; www.gn-stat.org) nehmen besonders den Waffenhandel in den Blick. Der fordert auf beiden Seiten fast die gleiche Anzahl an Opfern. Es erscheint uns wichtig, sie nicht lediglich zu beklagen, sondern das Tun und Walten der Verursacher, also der Waffenhersteller und die Wege des Vertriebs und Handels und besonders, des illegalen Exports offen zu legen.

Maria-Eugenia Lüttmann-Valencia, aufgewachsen in Mexiko, studierte Geschichte und Romanistik an der Universität Heidelberg. Sie ist Dolmetscherin und Übersetzerin und Mitarbeiterin beim Rüstungsinformationsbüro (RIB e.V.) Freiburg, dort recherchiert und übersetzt sie für die internationale Website von GN-STAT ins Deutsche und ins Spanische. Sie ist Mitglied im Heidelberger Friedensratschlag.
Die DFG-VK arbeitet mit GN-STAT und RIB e.V. eng zusammen.

Kategorie: Antimilitarismus Stichworte: 202101, Abschreckung, Kleinwaffen, Mexiko, Migration, USA, Waffenlieferung

25. März 2021

(Kein) Urteil „Im Namen des Führers“ …

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ZivilCourage 4/2021

Titel

Strafrecht gegen antimilitaristische Umwandlung eines Nazi-Kriegerdenkmals

Von Wilfried Porwol

Rückseite des in ein Friedensmahnmal umgewandelten Nazi-Kriegerdenkmals in Kalkar (Foto: Wilfried Porwol)

Nein, natürlich wurde das Urteil gegen mich wegen „gemeinschädlicher Sachbeschädigung“ vom Amtsgericht Kleve am 7. Dezember „Im Namen des Volkes“ gefällt. 900 Euro Geldstrafe, ersatzweise 30 Tage Haft für meine künstlerische Umgestaltung des Nazi-Kriegerdenkmales in Kalkar in ein Friedensmahnmal. 

Es ging bei diesem Prozess im größten, aber unter Coronabedingungen mit nur acht zugelassenen Besuchern gefüllten Verhandlungssaal ausschließlich um meine erste kreative Umfunktionierung dieses unsäglichen Monstrums vom 27. Juli 2019. 

Nach der Verlesung der Anklage durch den Staatsanwalt konnte ich ausgiebig zu meinen Beweggründen Stellung nehmen. Sogenannte Kriegerdenkmale aus dieser Zeit, wie das in Kalkar von 1936, hatten vor allem einen Zweck: die Verbreitung des nationalsozialistischen Heldenmythos zur ideologischen Vorbereitung auf den bereits geplanten faschistischen Eroberungskrieg. Dazu wurde die Trauer der Angehörigen der gefallenen Soldaten des Ersten Weltkrieges instrumentalisiert. Das Kalkarer „Denkmal“ war „Unseren Helden“ 1914 bis 1918 gewidmet, wobei die beiden Jahreszahlen durch ein eisernes Kreuz verbunden waren. Eine besondere Ehre wurde den toten „Helden“ aus Kalkar, darunter 4 jüdischen Bürgern, durch die Inschrift auf der Rückseite erwiesen. Dort stand und steht: „Mögen Jahrtausende vergehen, man wird nie von Heldentum reden können, ohne des deutschen Soldaten im Weltkrieg zu gedenken“, ein Zitat aus Hitlers „Mein Kampf“ , wie der Historiker Dr. Hans Hesse 2014 herausfand. 

Als Chronik der Schande erwies sich der Umgang der Stadt Kalkar mit diesem NS-Monstrum nach dem Zweiten Weltkrieg. Da gab es die Direktive Nr. 30 des Alliierten Kontrollrates von 1946, die Gesetzeskraft für ganz Deutschland hatte und die bis zum 5. Mai 1955 gültig war. In ihr wurde der Abbau aller kriegsverherrlichender Denkmäler aus der NS-Zeit verfügt. Der Kriegstoten sollte auch weiterhin gedacht werden können, aber in würdevoller Weise ohne deren Instrumentalisierung durch den NS-Staat. 

Dies wurde in der Nachbarstadt Goch entsprechend durchgeführt, während die Verantwortlichen in Kalkar das über Jahre hinweg mit krimineller Energie hintertrieben. In illegaler Weise wurde so das Nazi-Kriegerdenkmal in Kalkar konserviert. Doch das schien den Entscheidungsträgern der Stadt Kalkar noch nicht zu reichen. War es nur ein unfassbares Maß an Dummheit und Ignoranz? Sie ließen die Nazi-Propagandastätte 1983 erweitern durch die Jahreszahlen 1939 und 1945, die ebenfalls mit einem Eisernen Kreuz verbunden wurden. 

Es war damit nicht nur ein Relikt aus der Nazizeit, sondern es bekam den Status eines gegenwärtigen offiziellen „Denkmals“ mit kriminellem nationalsozialistischem Inhalt. Eine ungeheure Verhöhnung der Kriegsopfer durch das Hitlerzitat, insbesondere der im Ersten Weltkrieg als Soldaten gefallenen jüdischen Bürger Kalkars, deren Verwandte nur wenige Jahre nach Errichtung dieses Schandmales in die Gaskammern getrieben wurden. 

Eine skandalöse Glorifizierung des verbrecherischen rassistischen Vernichtungskrieges der Wehrmacht, der zum Einsatzprogramm zählenden Massenhinrichtungen an der Zivilbevölkerung, der Geisel- und Gefangenenerschießungen, der systematischen Vergewaltigungen und der tätigen Beihilfe bei der millionenfachen Ermordung der jüdischen Bevölkerung aller besetzten Gebiete.

Auch nachdem schon bekannt war, dass die Inschrift auf der Rückseite ein Hitlerzitat war, ließen die Verantwortlichen der Stadt Kalkar dieses Gebilde – ein schützenswertes Denkmal im Sinne des Denkmalschutzes war es nicht – weiterhin über Jahre hinweg ohne sichtbare Distanzierung in der Öffentlichkeit stehen und wirken. Sie schufen damit einen potenziellen Wellness-Ort für gewaltbereite Neonazis. 

Nach meinen Ausführungen zum Charakter und zur Funktion dieses faschistischen Steinhaufens konnte ich mein Konzept zur künstlerischen Umgestaltung dieses Monstrums erläutern, zur Einfärbung des martialischen Reichsadlers in Regenbogenfarben, zur Überschreibung der kriegsverherrlichenden Aussage mit Friedensbotschaften und zur Anbringung des Schriftzuges „Nie Wieder Krieg – Nie Wieder Faschismus“ über dem Hitlerzitat. 

Mein Anwalt überreichte dem Gericht eine Stellungnahme von Valentina Vlasic, Kunsthistorikerin und Kuratorin des renommierten Museum Kurhaus Kleve. In ihrer Stellungnahme plädierte sie dafür, dass meine künstlerische Sprayaktion nicht als Sachbeschädigung angesehen werden sollte, „sondern als subversiv performativen Akt, der politisches, also kritisches und interventionistisches Potenzial besitzt und sogar Aspekte der Street Art und Performance Art, sogar des Happenings in sich vereint.“ Sie stellte meine Arbeit in eine Reihe mit Aktionen der Künstler Banksy, Naegeli und Beuys.

Staatsanwalt und Richter äußerten durchaus Verständnis für meine Motivation. Ja, es gab sogar verhaltene Kritik vom Staatsanwalt an der Untätigkeit der Stadt Kalkar, dass diese das „Denkmal“ 1946 nicht abgebaut sich nicht genügend mit der Sache auseinandergesetzt hätte. Doch im krassen Gegensatz dazu sein Strafantrag: Bei dem Kalkarer Kriegerdenkmal handele es sich dennoch um ein Denkmal, mit dem auch Kriegstote geehrt würden, auch wenn es nicht unter Denkmalschutz stehe. Es sei halt das Eigentum der Stadt Kalkar, und nichts würde meine Aktion rechtfertigen, also müsse bestraft werden wegen „gemeinschädlicher Sachbeschädigung“ und zwar mit 30 Tagessätzen.

Mein Anwalt verwies auf das deutlich drastischere Vorgehen gegen Denkmäler in USA und England, wo solche, die Unrecht glorifizierten, mehrfach in jüngster Zeit gestürzt wurden. Er stellte die Nicht-Nachvollziehbarkeit heraus, dass Holocaustleugner bestraft würden, aber die Rechtsordnung darauf bestehe, ein Zitat von Adolf Hitler wieder herzustellen. 

Damit hatte der Amtsrichter Thomas Staczan allerdings kein Problem: Er folgte dem Antrag des Staatsanwaltes. Eigentum beschmieren – so sein Kunstverständnis – ginge gar nicht, und wenn es sich um ein Denkmal wie in Kalkar handele, dann sei das eben nicht nur eine einfache Sachbeschädigung, sondern eine gemeinschädliche. Also: 30 Tagessätze, und dann kämen ja später auch noch die Reinigungskosten der Stadt Kalkar auf mich zu. 

Fazit: Die Übermalung eines öffentlich zur Schau gestellten Hitlerzitates ist also gemeinschädlich, die Wiederherstellung der Nazi-Propaganda dagegen ist gemeinnützlich. Ein Urteil, das doch ehrlicherweise nicht „im Namen des Volkes“, sondern „im Namen des Führers“ verkündet hätte werden sollen. Ein Schandurteil zum Schutze eines NS-Schandmals. 

Die Berufung dagegen ist schon eingelegt. Das Ganze wird dann vor dem Landgericht neu verhandelt werden. Der Kampf auf der juristischen Ebene geht also weiter. Mich erwarten in der nächsten Zeit noch zwei weitere Anklagen und Verhandlungen vor dem Amtsgericht Kleve wegen meiner zwei weiteren künstlerischen Interventionen am Kalkarer NS-Steinhaufen, dazu dann – wenn keine Freisprüche erfolgen – die entsprechenden Berufungsprozesse. 

Sehr erfreulich, wichtig und wohltuend bei der ganzen Auseinandersetzung: die große Solidarität, die Mahnwache vor dem Gericht, organisiert von meinen Mitstreiter*innen aus dem Landesverband und den niederrheinischen Gruppen der DFG-VK, viele Freund*innen und Unterstützer*innen aus Kleve und Umgebung, die sich trotz Schmuddelwetter und Corona vor dem Gericht einfanden, um mir ihre Solidarität zu bekunden. Die sehr ausführliche und durchweg positive Berichterstattung in den Medien, u.a. im überregionalen Kulturteil der „Neue Ruhr Zeitung“ tragen zur Skandalisierung sowohl des unsäglichen Nazi-Monstrums in Kalkar, wie auch des Gerichtsurteils bei, durch das ein solches Gebilde geschützt wird. Mittlerweile ist ein Bürgerantrag an die Stadt Kalkar gestellt worden, den unerträglichen kriegsverherrlichenden Steinhaufen zu beseitigen. 

Und weiter geht es, überall im Lande existieren noch solche sogenannten Denkmäler und Menschen, die das nicht länger hinnehmen wollen.

Wilfried Porwol ist langjähriges DFG-VK-Mitglied und aktiv in der Gruppe Kleve. Der studierte Kunstlehrer ist als Maler, Zeichner und Grafiker tätig.

Kategorie: Antimilitarismus Stichworte: 202101, Amtsgericht, Anklage, Anwalt, Denkmal, Kalkar, Kriegerdenkmal, Nazizeit, Propaganda, Sachbeschädigung, Staatsanwalt, Strafrecht

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