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Titel

16. Januar 2023

Warum Pazifismus wichtiger denn je ist

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 4-22/1-23

Titel

Von Michael Schulze von Glaßer

24. Februar hat Russland einen Angriff auf die Ukraine begonnen – seit 10 Monaten tobt der Krieg nun schon: Zehntausende Menschen wurden getötet, hunderttausende verletzt und Millionen sind auf der Flucht. Die Bundesregierung hat wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffs eine „Zeitenwende“ angekündigt – hin in Richtung (zu noch mehr) Aufrüstung und Konfrontation: Der deutsche Militäretat soll dauerhaft ansteigen, der Bundeswehr wurden zusätzlich 100 Milliarden Euro für Aufrüstung genehmigt. Und die Ukraine werden schwere Waffen aus Deutschland exportiert.

Die reale Politik steht unseren Forderungen so deutlich entgegen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die DFG-VK und „die Friedensbewegung“ insgesamt sind scharfen Angriffe und einer leider häufig klischeebehafteten Berichterstattung ausgesetzt. Dabei zeigt der Krieg nur: Es gibt zum Pazifismus keine Alternative.

„Lumpen-Pazifisten“, so nannte „Spiegel“-Kolumnist Sascha Lobo diejenigen, die sich bei den diesjährigen Ostermärschen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aussprachen. Der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff bezeichnete die Organisator*innen der Ostermärsche pauschal als „fünfte Kolonne Putins“. Sie würden versuchen, die Ukraine zu schwächen. Für Protestforscher  Dieter Rucht war diese Aussage des Politikers laut „Spiegel-Online“ „blanker Unsinn“. 

Wir können dies bestätigen. So haben wir etwa in den vergangenen Jahren mehrfach vor der Botschaft der russischen Föderation in Berlin sowie vor den Konsulaten des Landes in verschiedenen Städten für Abrüstung – konkret etwa für den Erhalt des INF-Vertrags – demonstriert. 

Bei unserem Aktionstag gegen den Krieg in der Ukraine und die Aufrüstung am 19. November gab es abermals Proteste vor russischen Vertretungen. 

Und: Wir haben noch vor Kriegsbeginn bereits am 9. Februar in Berlin mit einer Friedensaktion an die russische Seite appelliert, zu verhandeln und den sich anbahnenden Krieg nicht weiter vorzubereiten. 

Wie viele Protestaktionen vor russischen Regierungseinrichtungen in Deutschland hat Herr Lambsdorff schon organisiert?

Der russische Überfall hat viele friedenspolitische Bemühungen der letzten Jahrzehnte zunichte gemacht

Mit dem Einmarsch Russlands am 24. Februar – und bereits 2014 mit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbas – hat Wladimir Putin nicht nur unendliches menschliches Leid verursacht, sondern auch friedenspolitische Bemühungen der letzten Jahrzehnte zunichte gemacht. Kriege brechen nicht aus. Vulkane brechen aus. Kriege hingegen sind menschengemacht. Sie haben – auf Fakten bezogen niedere und ablehnungswürdige – Motive und eine Vorgeschichte. Das bedeutet aber auch: Dieser Krieg wäre verhinderbar gewesen. Und eine an pazifistischen Grundsätzen und Vorstellungen orientierte Politik hätte diesen Krieg verhindert.

Denn dass es den aktuellen Krieg gibt, macht doch gerade das Versagen der europäischen Sicherheitspolitik deutlich – sowohl von russischer als auch von westlcher Seite. Es war doch gerade die Politik derjenigen, die den Pazifismus seit Februar angreifen, die es in 30 Jahren nach Ende des Kalten Kriegs nicht geschafft hat, dauerhaft Frieden in Europa herzustellen. Die Sicherheitsinteressen aller (!) osteuropäischer Staaten hätten beachtet und eine gemeinsame Sicherheitspolitik unter Einschluss Russlands geschaffen werden müssen. Der Abbau bis hin zu einem Verbot von Atomwaffen hätte vorangetrieben werden müssen, genauso wie ein strikter Rückbau von Waffenproduktion und -export. Das wäre nicht einfach gewesen – aber das sind Politik und Diplomatie eben häufig nicht. In den rund 50 Jahren des Kalten Kriegs von beiden Seiten gegeneinander propagierte und teilweise rassistische Feindbilder wurden nicht durchbrochen. 

Eine ideologiefreie Betrachtung ergibt, dass nicht nur die russische Seite Fehler gemacht hat, sondern auch die Nato ihre konfrontative Haltung gegen Russland nach dem Kalten Krieg kaum aufgegeben hat. Die Osterweiterung ist dafür ein Zeichen. Ebenso die bereits seit 2012 laufende Aufrüstung der Bundeswehr.

Diese hier nur kurz skizzierte Analyse steht nicht der klaren Feststellung entgegen, dass es Wladimir Putin ist, der den Angriffsbefehl gegeben hat und der für den Krieg verantwortlich ist. In unseren zahlreichen Veröffentlichungen zum Ukraine-Krieg haben wir den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands bereits scharf verurteilt. Und natürlich gehört jede und jeder, der solch ein Verbrechen begeht, vor Gericht gestellt.

Der Pazifismus und die Menschen, die ihn vertreten, sind aber nicht am Krieg schuld. Und wie die frühere EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann, die auch Mitglied bei uns ist, bereits im April sagte, ist es nicht gerecht, Menschen, die sich seit Jahrzehnten für Frieden einsetzten, vorzuwerfen, sie stünden auf der Seite Russlands.

Wir bleiben dabei: Keine Waffenlieferungen!

Seit Februar hat Deutschland 900 Stück der „Panzerfaust 3“ mit insgesamt 3 000 Geschossen, 500 Flugabwehrraketen „Stinger“, 100 000 Handgranaten, 30 000 Schuss Munition für 40-mm-Granatwerfer, 13 500 Schuss 155-mm-Artilleriemunition und vieles mehr an die Ukraine geliefert. Sogar schwere Panzer wie der „Mars“-Raketenwerfer und die „Panzerhaubitze 2000“ wurden an die Ukraine übergeben und werden von dieser im Kriegsgebiet eingesetzt. Der von der grünen Partei der heutigen Bundesaußenministerin Annalena Baerbock noch im letzten Wahlkampf verbreitete Grundsatz, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, ist damit ebenso endgültig obsolet wie die Bezeichnung „feministisch“ für diese neue deutsche Außenpolitik.

Natürlich befinden wir uns bei der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine in einem Dilemma: Die Menschen in der Ukraine werden angegriffen. Mit noch mehr Waffen können sie sich militärisch vermeintlich noch besser wehren. 

Damit ist bei vielen – auch bei der Bundesregierung – die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges verbunden: Man müsse nur genügend Waffen liefern, und schwuppdiwupp sei der Krieg beendet. 

Das ist eine Fehlannahme. „Frieden schaffen mit noch mehr Waffen“ funktioniert nicht – das haben zahlreiche westliche Militäreinsätze und großangelegte Waffenlieferungen in Konfliktregionen in der Vergangenheit immer wieder gezeigt. Und auch das Ende des Krieges in der Ukraine wurde von Befürwoter*innen der Waffenexporte schon häufig angekündigt, und immer und immer wieder erfüllte sich die Prophezeiung nicht. Das westliche Desaster in Afghanistan ist gerade mal ein Jahr her – und offensichtlich schon von vielen wieder vergessen.

Nicht alle russischen Soldaten stehen hinter der Kriegspolitik

Ein dramatischer politischer Beschluss, der zumindest in der Debatte um den Krieg in Deutschland zu mehr Reflexion geführt hat, war die Teilmobilmachung in Russland am 21. September: Erstmals wurde in der breiten deutschen Medienöffentlichkeit gezeigt, wer da überhaupt auf russischer Seite kämpft bzw. kämpfen muss. Natürlich ist das russische Militär der Angreifer. 

Das heißt aber nicht automatisch, dass alle russischen Soldat*innen hinter dem Einsatz stehen. Mittlerweile ist bekannt, dass Russland schon zu Kriegsbeginn auch Wehrpflichtige eingesetzt hat. Zudem sollen viele Soldat*innen schlecht oder gänzlich falsch informiert in den Einsatz geschickt worden sein; ihnen soll anfänglich etwa gesagt worden sein, dass es sich lediglich um eine Übung handele. Wie einseitig russische Medien über die „militärische Sonderoperation“ – allein diesen Krieg als solchen zu bezeichnen, steht in Russland unter Strafe – berichten, ist hinlänglich bekannt. 

Wenn nun russische Soldat*innen aufgrund von Propaganda und falscher Information in einen Krieg gedrängt oder gar gezwungen wurden und dort mit Waffen aus Deutschland getötet werden, ist das ein Problem. Und die Teilmobilmachung in Russland führte ab September zu einem Exodus junger Männer: Hunderttausende sollen in Nachbarländer geflohen sein, um nicht in der Ukraine töten zu müssen oder getötet zu werden. Es gab zahlreiche Anschläge auf Rekrutierungsämter und sogar bewaffnete Angriffe auf Rekrutierer*innen, die Verzweiflung bei vielen jungen Russen ist groß. Bis zur Teilmobilmachung fand das moralische Dilemma, welches entsteht, wenn Deutschland Waffen liefert, überhaupt keine Beachtung – nun immerhin ein klein wenig: Letztendlich werden mit den Waffen aus Deutschland Menschen getötet. 

Gemeinsam mit Connection e.V. und weiteren Friedensorganisationen fordern wir aktuell in einer Kampagne Schutz und Asyl in der Europäischen Union für Kriegsverweigerer*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine.

Wie viele Zweifler*innen und Soldat*innen, die eigentlich nicht kämpfen wollen, es in der russischen Armee gibt, ist nicht zu beziffern. Natürlich wird es auch viele Soldat*innen geben, die völlig hinter dem Einsatz stehen. Doch die Moral in Reihen des russischen Militärs soll schon seit April insgesamt schlecht sein. Nach den menschlichen- und den Geländeverlusten der letzten Monate dürfte sie darniederliegen. Dabei muss man sich immer bewusst sein: Wer im Militär – egal in welchem – den Befehl verweigert, dem drohen harte Konsequenzen. So sollen 60 russische Fallschirmjäger den Dienst verweigert haben – sie wurden entlassen, und ihnen drohen Strafanzeigen. Russische Deserteur*innen sollen aber auch schon erschossen worden sein.

Ebenfalls problematisch ist es, wenn auf ukrainischer Seite Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren, denen es aktuell verboten ist, das Land zu verlassen, dazu verpflichtet werden, eine Waffe – womöglich auch „Made in Germany“ – in die Hand nehmen zu müssen, um damit russische Soldat*innen zu töten. Wer deutsche Waffenexporte an die Ukraine billigt, nimmt all diese moralischen Dilemmata in Kauf – und letztlich noch mehr Tote.

Es steht ein lang anhaltender Konflikt zu befürchten

Auch wenn nicht klar ist, wie lange Wladimir Putin den Angriff auf die Ukraine führen will, so zeichnet sich ein langer Konflikt ab, der zunehmend brutaler wird. Nach zehn Monaten zeigt sich: Je länger die Kämpfe dauern, desto mächtigere Waffen werden eingesetzt.

Beim Angriff auf die Hafenstadt Mariupol im April setzte die russische Armee erstmals weitreichende Überschallwaffen ein. Es gibt Angriffe mit Raketen und ferngelenkten Drohnen – und auch der Einsatz von Atomwaffen scheint nicht mehr ausgeschlossen. Ebenso werden Massaker wie in Butscha wohl leider kein Einzelfall bleiben. Jeder Tropfen Blut, der in diesem Krieg vergossen wird, lässt eine Beilegung der Kämpfe in noch weitere Ferne rücken. Es ist nicht klar, welches Ziel Wladimir Putin nach den vielen Rückschlägen verfolgt – wann er die Waffen schweigen lässt.

Und was, wenn die ukrainische Seite dann einem Waffenstillstand nicht zustimmt und stattdessen ihrerseits versucht, die verlorenen Gebiete einschließlich der seit 2014 besetzten Gebiete in der Ost-Ukraine sowie die Krim zurückzuerobern? Und kommt es doch zu einem Waffenstillstand – da hat das Minsk-II-Abkommen gezeigt, wie brüchig dieser leider sein kann. Selbst wenn, was wir uns wünschen würden, der Krieg auf der Stelle endet, so wird der Konflikt noch Jahrzehnte andauern. Und je stärker beide Seiten hochgerüstet sind, desto grausamer wird jedes weitere Aufflammen sein. Waffenlieferungen werden diesen Konflikt nicht lösen. Das werden nur Verhandlungen.

Einmal in Umlauf gebrachte Waffen tauchen zudem immer wieder in Konflikten auf: Die von der Bundesregierung durchgeführten und geplanten Lieferungen an die Ukraine sind, soweit bekannt, nicht mit einer Rückgabepflicht nach Ende des Konflikts oder zumindest des Krieges verbunden. Bereits in anderen Konflikten tauchen immer wieder überraschend westliche Waffen auf, die ursprünglich an andere Gruppen geliefert wurden. In ihrem langen „Lebens“-zyklus sorgen die Waffen damit immer wieder für Leid und Tod. Waffenexporte sind unkontrollierbar und richten auch langfristig großen Schaden an.

Die Lieferung deutscher Waffen an die Ukraine birgt zudem die Gefahr, dass Deutschland selbst Kriegspartei wird; fern jeder völkerrechtlichen Definition liegt diese Bewertung auch an Wladimir Putin. 

Die Bundesregierung hat von 2014, dem Jahr der Krim-Annexion, bis 2020 bereits Waffenexporte in Höhe von 42 Millionen Euro in die Ukraine genehmigt. Wie viele davon tatsächlich geliefert wurde, ist öffentlich nicht bekannt. Bereits diese Lieferungen sowie die vieler weiterer westlicher Staaten, allein aus den USA gab es seit 2014 bis Anfang 2022 Lieferungen in Höhe von 2,7 Milliarden US-Dollar, haben nicht zu Frieden in der Region geführt. Und sie haben Wladimir Putin auch nicht von dem Versuch, die ganze Ukraine erobern zu wollen, abgehalten.

Wie schnell es gehen kann, vollständig in den Krieg hineingezogen zu werden, zeigte sich Mitte November, als bei einem Raketeneinschlag auf dem Gebiet des Nato-Staates Polen nahe der ukrainischen Grenze zwei Menschen starben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte umgehend Russland verantwortlich. Würde sich dies bestätigen, könnte der Nato-Bündnisfall eintreten: Dann würde zwischen der Nato und Russland Krieg herrschen.

Auch die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann machte umgehend Russland für die todbringende Rakete verantwortlich: „Das ist das Russland, mit dem hier einige offenkundig und absurderweise immer noch ‚verhandeln‘ wollen“, schrieb die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag auf Twitter. Schnell stellte sich aber heraus, dass es keine russische, sondern eine wohl verirrte ukrainische Flugabwehrrakete war, die in Polen eingeschlagen war. Selenskyj hielt an der russischen Täterschaft fest, selbst als schon die Nato von einer Rakete aus der Ukraine sprach. 

Die ukrainische Regierung hat durchaus ein Interesse daran, weitere Länder in den Konflikt zu ziehen. Das sollte man, bei aller Nachvollziehbarkeit der Situation der ukrainischen Regierung, nicht vergessen. Dabei würde ein direkter Krieg der Atommacht Russland mit der atomar bewaffneten Nato niemand helfen, denn dann wäre alles verloren.

Das Nein zu Waffenlieferungen mitten in einen Krieg hat die Bundesregierung am 27. Februar 2022 aufgegeben. Doch welchen Grundsätzen folgt die Bundesregierung nun in ihrer Waffenexportpolitik? Sie hat in all den Monaten des Ukraine-Kriegs nicht begründet, warum die Lieferungen an die Ukraine gerechtfertigt sind, Waffenexporte in andere Kriegsregionen hingegen weiter strikter gehandhabt oder gänzlich verboten werden. Bekommen bald auch die Kurd*innen in Rojava Waffen aus Deutschland, damit sie sich gegen die Mitte November wiederentfachten völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei, die noch immer Nato-Mitglied ist, wehren können? Gerade greift die Türkei sogar auf syrischem und irakischem Staatsgebiet an. Die Ukraine-Lieferungen könnten Türöffner für eine vollkommen enthemmte Waffenexportpolitik sein. Wenn die Bundesregierung in Zukunft Waffenexporte in andere Kriegsregionen ablehnt, muss sie sich wiederum den Vorwurf einer – womöglich rassistischen – Ungleichbehandlung gefallen lassen.

Wir helfen den Opfern des Krieges – gewaltfrei! 

All diese Argumente werden in der aktuellen Debatte kaum gehört. Ganz im Gegenteil werden deutsche Waffenlieferungen oft als alternativlos dargestellt. Wenn wir also keine Waffen liefern wollen, lassen wir die Menschen, die wegen des Konflikts leiden, dann im Stich? Nein! Wie helfen auf vielfältige Weise, und es gibt viele Wege, die Situation für die vom Krieg Betroffenen zu verbessern:

  • Viele unserer Mitglieder sind in der Flüchtlingshilfe aktiv: Sie sammeln Spenden, unterstützen bei der Vermittlung von Wohnungen an Geflüchtete und vieles mehr. Diese direkte Hilfe verbinden wir gleichzeitig mit den politischen Forderungen an Russland, Fluchtkorridore zu ermöglichen, und an die EU, weiterhin Schutzsuchende aufzunehmen.
  • Seit Beginn des russischen Einmarschs haben DFG-VK-Aktive in zahlreichen Städten unzählige Antikriegs-Proteste organisiert: Diese – vor allem die von uns mitorganisierten Proteste am 27. Februar in Berlin mit einer halben Million Menschen, am 13. März in zahlreichen Großstädten mit über einhunderttausend Menschen und am 19. November in über 30 Städten – waren nicht nur ein starkes Signal für Frieden, sondern haben auch zur Organisation der Hilfsmaßnahmen für die vom Krieg Betroffenen beigetragen. Und die Antikriegs-Aktionen gehen weiter: Am 24. Februar 2023, dem ersten Jahrestag des Kriegsbeginns, soll wieder für Frieden und Abrüstung demonstriert werden.
  • Wir unterstützen Soldat*innen, die desertieren, und setzen uns für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung ein: Kein Mensch darf dazu gezwungen werden, andere Menschen zu töten. Wir setzen uns daher politisch dafür ein, dass diejenigen, die nicht töten wollen, Schutz finden können – egal, welche Nationalität sie haben. Dafür läuft die bereits erwähnte Kampagne. Und im Mai haben wir zur Unterstützung russischer Kriegsdienstverweigerer*innen im Rahmen unseres Bundeskongresses 8 000 Euro an ein Projekt der finnischen Friedensorganisation Aseistakieltäytyjäliitto (AKL; deutsch: Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen) und der russischen Organisation Движение сознательных отказчиков (MCO; deutsch: Bewegung der Kriegsdienstgegner*innen)gespendet. Damit soll jungen Russ*innen dabei geholfen werden, sich dem Dienst im Militär zu entziehen.
  • Schon lange stehen wir mit russischen Friedensaktivist*innen im Kontakt: Wir versuchen, sie zu unterstützen, was angesichts der Repression der russischen Regierung gegen sie leider schwierig ist. Aufgrund der Aussetzung des Swift-Zahlungsverkehrs können wir gerade auch keine finanzielle Unterstützung leisten. Den Friedensstimmen aus der Zivilgesellschaft sowohl in Russland als auch in der Ukraine versuchen wir eine Stimme zu geben.
  • Wir schließen uns den Forderungen der „Ukrainischen Pazifistischen Bewegung“ an: Es muss einen sofortigen Waffenstillstand geben. (Die ausführlichen Forderungen sind hier nachzulesen: https://bit.ly/3XxyWJD
  • Das ist es, was wir als Friedensorganisation mit unseren begrenzten Kapazitäten und Mitteln leisten (Unser Jahresetat entspricht ungefähr dem Betrag, den die Bundeswehr 2016 dafür ausgegeben hat, ihre Werbung auf Pizzakartons drucken zu lassen.). Doch Alternativen zum gewaltsamen Widerstand gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine gibt es noch viele weitere: 
  • Auch wenn dies hierzulande bisweilen als ketzerisch angesehen wird: Man muss mit Wladimir Putin verhandeln. Das ist eine schwere und unangenehme Aufgabe, aber sie wird nötig sein, um den Konflikt zu beenden. Und Diplomatie und Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien fanden sogar bereits statt: Es gab einige Treffen zwischen der russischen und ukrainischen Regierung. Kriegsgefangene wurden bereits mehrmals ausgetauscht. Im Juli kam ein, wenn auch fragiles, Abkommen über Getreideausfuhren der Ukraine zustande. Bei Verhandlungen könnten Deutschland und die EU der Ukraine auch die Rücknahme westlicher Sanktionen als Verhandlungsmasse gegenüber Russland in die Hand geben.
  • Wirtschaftssanktionen sehen wir als ein Mittel an, um Druck auf die russische Regierung sowie Profiteur*innen und Unterstützer*innen des Krieges auszuüben; diese müssen aber möglichst gezielt sein. Wir bekommen auch mit, wie die aktuellen Sanktionen die Arbeit russischer Oppositioneller zum Erliegen bringen. Sanktionen dürfen dabei nicht unter dem Vorbehalt eigener wirtschaftlicher Interessen stehen. Wenn der Krieg durch Sanktionen beendet werden soll, darf auf eigene Nachteile keine Rücksicht genommen werden.
  • Wir begrüßen den vielerorts geleisteten gewaltfreien Widerstand in der Ukraine: Wer besetzt ist, der ist noch lange nicht besiegt. Und die Möglichkeiten einer Sozialen Verteidigung sind auch angesichts der geringen sprachlichen und kulturellen Barrieren zwischen den Angreifern und den Angegriffenen gut.
  • In der Ukraine mangelt es an vielem: Wirtschaftsbetriebe sind zerstört, im Dezember brach nach gezielten russischen Angriffen vor allem die Energieversorgung immer wieder zusammen, die medizinische Versorgung ist nicht gut, und viele Regionen im Land sind mit Munitionsresten und mit Minen verseucht; finanzielle und zivile humanitäre Hilfe sowie Munitions- und Minenräumung sind Unterstützungsleistungen, die aus Deutschland kommen sollten. Oder, um es salopp zu sagen: Es müssen nicht immer Waffen sein.
  • Was Soldat*innen und ihre Befehlshaber*innen in der Ukraine angerichtet haben, muss aufgearbeitet werden: Es gibt bereits Ermittlungen, um Kriegsverbrechen wie in Butscha aufzuklären, Täter*innen zu ermitteln und sie dann zur Verantwortung ziehen zu können – doch auch hier ist noch Luft nach oben und Unterstützung wäre wichtig.

Dies waren nur einige Beispiele für Alternativen zu den moralisch fragwürdigen Waffenlieferungen. Einige davon werden, auch von uns, schon umgesetzt, andere könnten intensiver verfolgt und weitere überhaupt erst einmal begonnen werden.

Doch nicht nur über die Art der Hilfen für die Menschen in der Ukraine wird aktuell gestritten, sondern auch über Änderungen in der deutschen Sicherheitspolitik.

Die Aufrüstung der Bundeswehr ist falsch! 

Am 27. Februar hat Bundeskanzler Olaf Scholz ein 100-Milliarden-Euro-„Sondervermögen“ für die Bundeswehr angekündigt. Zwei Wochen später hat das Bundeskabinett diesem größten Aufrüstungsprogramm für das deutsche Militär seit dem Zweiten Weltkrieg zugestimmt. Für dieses „Sondervermögen“ wurde eigens das Grundgesetz geändert und im Artikel 87 ein Absatz 1a „zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit“ eingefügt. Diese damit verfassungsrechtlich erlaubte „Sonderverschuldung“ soll helfen, das 2-Prozent-Ziel der Nato zu erreichen – und noch mehr. 

Die FPD-Politikerin Agnes Strack-Zimmermann verbreitete dazu im Bundestag und in den Medien die Falschbehauptung, die Bundeswehr sei in den vergangenen Jahrzehnten „kaputtgespart“ worden. Dies ist angesichts einer Erhöhung des Bundeswehr-Etats von 31,9 Milliarden im Jahr 2012 auf 50,3 Milliarden Euro im Jahr 2022, also ein Plus von 58 Prozent, eine glatte Lüge. Dass die Bundeswehr Probleme mit Waffen und anderer Ausrüstung hat, ist schlicht Misswirtschaft. Gerade eine Partei wie die FDP sollte lieber hier ansetzen, als noch mehr Geld in dieses olivgrüne „schwarze Loch“ zu werfen. 

Doch was soll die Aufrüstung der Bundeswehr sicherheitspolitisch überhaupt bringen? Zunächst einmal: Wenn es zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland kommen würde, wäre er wohl schnell – spätestens, wenn die erste größere Stadt einer Seite zu fallen droht – atomar. Dies sehen sowohl die Doktrin der Nato als auch die Russlands vor. Dann nützen einem auch Panzerverbände, Drohnen und andere konventionelle Waffen wenig. Lässt man dies außer Acht, wie es aktuell viele regierende Politiker*innen machen, muss man sich den aktuellen Zustand der russischen Streitkräfte vergegenwärtigen. Putins Armee ist bedrohlich und gefährlich, das zeigen die Bilder der Toten und der Zerstörung aus der Ukraine. Zudem verfügt Russland über chemische, atomare und wohl auch noch immer über biologische Waffen. Der Plan der russischen Regierung, die Ukraine binnen weniger Tage einzunehmen, scheiterte aber kläglich.

Die russische Armee hat unvorstellbare Grausamkeiten begangen – und war doch weitaus schwächer als erwartet. Und die selbstentfachte Kriegsmühle schwächt das russische Militär weiter. Mittlerweile soll Russland über 1 400 Panzer und rund 2 500 gepanzerte Fahrzeuge in der Ukraine verloren haben. Laut – immer mit Vorsicht zu betrachtenden – britischen Angaben sollen mehr als 90 000 russische Soldat*innen im Krieg gegen die Ukraine getötet, vermisst oder schwer verletzt worden sein. Selbst wenn die reale Zahl nur bei der Hälfte davon liegen würde, wären das enorme Verluste. Die Teilmobilmachung und das Zurückgreifen auf Waffen aus dem Iran zeigt, wie groß die Probleme des russischen Militärs sind. 

So es um die konventionellen Streitkräfte geht, sollten die Bundeswehr und die mit ihr verbündeten Armeen dagegen mit einer gewissen, sofern man dies in einem Krieg sagen kann, „Leichtigkeit“ ankommen. Die Bundeswehr weiter aufzurüsten, ist also nicht nötig, selbst die ukrainische Armee kommt gegen die russische Armee an. Und auch wenn sich Russland aktuell bemüht, seine Verluste zu kompensieren, wird dies Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte dauern. Und die ökonomische Lage des Landes wird eine Aufrüstung weiter belasten, auch da gibt es Grenzen.

Ein anderes Argument der Aufrüstungs-Befürworter*innen ist Abschreckung. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist vollkommen inakzeptabel und muss sofort beendet werden. Es muss aber auch klar gesagt werden: Die Ukraine wurde angegriffen, nicht die Nato. Daher zeigt der Krieg nicht, dass die aktuelle Abschreckung unzureichend wäre (falls man sich überhaupt auf die fragwürdige Abschreckungs-„Logik“ einlassen möchte). 

Die Nato gibt deutlich mehr für Rüstung aus als Russland. Und ob die Militärausgaben der Nato die Russlands nun um den Faktor 18 (wie es 2021 der Fall war) oder 18,5 (wie es bald der Fall sein könnte) übertreffen, wird Putin egal sein. Aber die Symbolik der Aufrüstung der Bundeswehr und der weiterer Staaten wird Folgen haben: Russland wird ebenfalls (weiter) aufrüsten. Damit ist letztendlich niemandem geholfen. Und weder der Krieg in der Ukraine, noch die Auseinandersetzung zwischen Russland und den Nato-Staaten ist damit gelöst. Ganz im Gegenteil wird die Aufrüstung zu mehr Konflikten und Kriegen führen. Jeder Euro, Dollar oder Rubel, der ins Militär fließt, fehlt im Kampf gegen Menschheitsprobleme wie die Corona-Pandemie, die Klimakatastrophe oder die Armut. 

Sicherheitspolitisch bringt die Aufrüstung der Bundeswehr also nichts; sie wird letztlich nur zu mehr Unsicherheit führen. Sie ist blinder und hirnloser Aktionismus und eine teure Geldverschwendung. Trotz der Milliarden-Spritze fordern Militärpolitiker*innen schon jetzt noch mehr Geld für die Bundeswehr.

Fazit: Warum Pazifismus gerade wichtiger denn je ist

Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, führt am Pazifismus kein Weg vorbei. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist ein Verbrechen. Und dennoch ist Aufrüstung als Reaktion darauf kein Sachzwang. Für Deutschland gäbe es zahlreiche Möglichkeiten, den Menschen in der Ukraine humanitär und gewaltfrei zu helfen.

Wer hingegen Friedensgruppen, wie es zahlreiche politische Kommentator*innen und regierende Politiker*innen in den vergangenen Monaten taten, vorwirft, für das Leiden in der Ukraine mitverantwortlich zu sein, verdreht die Tatsachen und verkennt zudem den globalen Charakter der Forderung nach Frieden und Abrüstung. 

Wenn wir bei unseren Aktionen unser Ziel „Militär abschaffen!“ ausdrücken, meinen wir damit nicht nur das „eigene“ Militär, sondern auch die chinesische Volksbefreiungsarmee, die Streitkräfte der Russischen Föderation, die US-Armee und eben alle! Wenn wir uns für Kriegsdienstverweigerung einsetzen, meinen wir damit, dass alle, wirklich überall alle (!) Soldat*innen ihre Waffen niederlegen sollen. Wir setzen uns schon immer dafür ein, das – wenn auch sicherlich noch weit entfernte – Ziel einer Welt ohne Militär und kriegerische Gewalt zu erreichen. 

Die Sicherheitspolitik der letzten 30 Jahre, diejenige ganz Europas einschließlich der Russlands und der Ukraine, hat dieses Ziel nicht verfolgt und ist dadurch gescheitert. Die Realpolitik war weiter auf Konfrontation aus, so wie sie es auch heute von allen Seiten tut. Nun heißt es zu verstehen, was falsch gelaufen ist, was falsch läuft und was daraus zu lernen ist.

Natürlich hat Russlands Krieg eine pazifistische Welt in weite Ferne gerückt. Das darf uns aber nicht daran hindern, sie weiter als Menschheitsziel anzustreben. Es sind ja gerade diejenigen, die sagen, dass eine pazifistische Welt unerreichbar ist, die durch ihre Aufrüstung, ihre Waffenexporte sowie ihre Kriege eben den Grund dafür liefern, warum wir diesem Ziel seit Langem kaum näherkommen. 

Dies gilt auch für Deutschland: Statt besonnen und rational zu analysieren, macht die Bundesregierung einen sicherheitspolitischen Schnellschuss nach dem anderen und verbaut einer friedlichen Zukunft damit langfristig den Weg. Mitte Dezember wurde der Kauf neuer F35-Tarnkappenbomber endgültig beschlossen, um auch in den nächsten Jahrzehnten die letzten in Deutschland gelagerten US-Atomwaffen einsetzen zu können. Das wird die gegenseitige Bedrohung mit Massenvernichtungswaffen zementieren. 

Wir sollten – und dürfen! – uns aber nicht lähmen lassen: Unsere Positionen – so sehr sie auch in der Kritik stehen – sind richtig. Wir haben die besseren Argumente. Wir müssen uns genug Gehör verschaffen. Dafür sind wir auf allen politischen Ebenen aktiv!

Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Das Töten und das Sterben müssen beendet werden. Militarismus, Bellizismus und Nationalismus muss Einhalt geboten werden.

Michael Schulze von Glaßer ist politischer Geschäftsführer der DFG-VK.

Kategorie: 2022, 2023, Pazifismus, Titel Stichworte: Pazifismus, Schulze von Glaßer, Ukraine-Krieg

25. November 2022

Der Planet brennt!

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 3/2022

Titel

Katastrophen, Krisen, Kriege…

Von Elmar Klink

Es ist mittlerweile überall augenfällig: Der blaue Planet Erde ist in Brand geraten. Und das nicht nur klimatisch, sondern auch politisch. Zur menschengemachten Klimakatastrophe addieren sich die nicht minder von Menschen erzeugten politischen Katastrophen: Krisen, Kriege, Weltflüchtlinge, 89 Millionen akut Hungernde, 650 Millionen Infizierte und 6,5 Millionen Tote durch die Corona-Pandemie, die eine moderne, wissenschaftsgestützte Medizin offenbar mit herkömmlichen Strategien nicht mehr in den Griff bekommt. Ist die Menschheit der Kapitulation nahe? Erstmals seit 1945 haben wir es beim Ukrainekrieg mit einem großen Krieg am Rande Europas zu tun, unter dessen Folgen die ganze Welt zu leiden hat: Energieverknappung, Lebensmittelpreise-Anstieg, Hyperinflation, drohende Hungerkatastrophen in Afrika und eine bedrohlich schwelende atomare Gefahr. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri stellt in seinem Jahresbericht 2022 fest, dass die offiziellen Entscheidungsträger sich angesichts häufender Krisenlagen auf verschiedenen Ebenen einer neuen Situation gegenübersehen, der sie so nicht mehr gewachsen zu sein scheinen. Krisen folgen nicht mehr bewältigbar nacheinander, sondern stellen sich gleichzeitig ein, ja gehen komplex noch auseinander hervor und bedingen sich gegenseitig. Was tun, wenn nicht das Übel an der Wurzel gepackt wird? 

Diese Frage ist die derzeit mit „brennendste“. Gerade der Ukrainekrieg Russlands gegen eine ehemalige Sowjetrepublik im westlichen Zugriff hat einen zusätzlichen Krisenmechanismus ausgelöst, den die übrigen Länder in ihrer auswachsenden Schwere nicht mehr ausreichend schultern und abfedern können. Im Gegenteil schüren viele westliche Länder als „Kriegspartei“ auf der Seite der Ukraine durch Milliarden-Dollar-Hilfen und ungeheure Waffenlieferungen den Brandherd noch, der sich immer weiter ausbreitet. 

Der Sensations-ZDF-Talker Markus Lanz und die von ihm eingeladene Journalist:innen- und Politiker:innen-Riege beruhigten sich in seiner Sendung Ende August einverständlich damit, dass man laut Völkerrecht ja keine Kriegspartei sei, wenn man einem überfallenen Land mit gelieferten Waffen zur Seite steht. Juristisch vielleicht nicht, aber faktisch ist man es. 

Sie scheinen (oder sind) völlig blind und taub für die tieferen Zusammenhänge des historischen Komplexes Russland – Ukraine – Westen (USA, Nato, EU). Die (militärische) Selbstverteidigung der angegriffenen Ukraine ist das eine und allein Sache dieser Nation, wie sie es anstellt und an wen sie sich dabei wendet. Sie nutzt dabei vorhandene und ihr angebotene Quellen und Wege, an entsprechende „schwere“ Gefechtswaffen zu kommen. Das andere ist, dass dies in ein Macht- und Kräftespiel zwischen dem Westen, also USA und Nato, und Russland um Hegemonie eingebettet ist. Indem der Westen in diesen militärischen Kampf von Anfang an von sich aus massiv und aktiv von außen durch Waffen, Streitkräfte-Ausbildung, militärische Aufklärung, Geld und Sanktionen eingriff, statt sich weiterhin auf Vereinte Nationen, Diplomatie und aktives Verhandeln zu konzentrieren, ist immer mehr Teil des Problems und Konflikts. Was anderes ist Ausweis von Kriegsparteilichkeit? Wie unterscheidet sich dies noch vom Nato-Bündnis-Beistand? 

Die Kriegspropaganda-Medienmaschine

Im Russland-Ukraine-Krieg stehen sich hochgerüstete konkurrierende Weltmächte gegenüber. Der Kampf der Interessen wird ausgetragen unter der ideologischen Prämisse westliche „Demokratie“ versus russische „Autokratie“, „Staatsdespotie“ und expansive Militärstrategie, als gäbe es letztere nicht auch auf Nato-Seite. Dies gipfelt etwa in dem haltlosen Satz, die Ukraine kämpfe auch für die Freiheit des Westens. Eine Wiederauflage der abenteuerlichen Struck-Doktrin von der Verteidigung deutscher Freiheit am Hindukusch. Dem wird westlicherseits aller gesellschaftlicher und politischer Diskurs untergeordnet. Und Menschen wie Lanz und die meisten seiner Gesprächs-Protagonist:innen erweisen sich objektiv als Pro-Kriegs-Partei, die diese ideologische Prämisse in die mediale Öffentlichkeit vermittelt und ihre Wirkung nicht verfehlt. Statt sich eine unabhängige Position und Distanz zu erarbeiten und bewahren, die nach allen Seiten fragt und hinterfragt, wie es sich für einen freien kritischen Journalismus geziemen würde. 

Ungefähr zwei bis drei Dutzend transatlantisch orientierte „Sicherheits-Expert:innen“, „Think-Tanker:innen“, Redakteur:innen aus großen Zeitungshäusern, Ex-Nato-Generäle, etablierte Publizist:innen und Politik-Repräsentant:innen von Union bis zu den Grünen bestimmen den öffentlichen Pro-Kriegs-Diskurs und geben sich bevorzugt in den TV-Talk-Studios von „Anne Will“, „Hart aber fair“, „Presseclub“, „maischberger“, „maybrit illner“, „Markus Lanz“ oder Phoenix-Runde die Türklinke in die Hand. Dass dabei auch auf die Leiterin der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung/Leibniz-Institut, Nicole Deitelhoff zurückgegriffen wird, zeigt lediglich, wie weit diese in den herrschenden Kriegsdiskurs verstrickt ist. Dezidiert kritische Stimmen aus Friedensforschung und Friedensbewegung werden einfach übergangen und unterdrückt. 

Lanz & Co. etwa betreiben schlicht gesagt einseitige „Kriegspropaganda“. Das kann kaum im Interesse öffentlich-rechtlicher Zielsetzung für ausgewogene Information, Berichterstattung, Diskussion und Meinungsbildung liegen, wofür die Allgemeinheit teure Rundfunkgebühren entrichtet.

Die, die diesen Krieg vom Friedensstandpunkt kritisieren und ablehnen und zivile Alternativen und gewaltfreie Strategien zur Konfliktbearbeitung vorzuschlagen wüssten, lassen sich nicht in den Sog westlicher Kriegs-Parteinahme hineinziehen. Es ist aus pazifistischer Sicht unmöglich zu sagen, man müsse einen Krieg gewinnen. Sie widersetzen sich dem moralischen Druck, aus „humanitären“ Gründen in den Pro-Kriegs-Tenor einzustimmen, auch wenn es sich aus ukrainischer Sicht um einen „Verteidigungskrieg“ handelt. Krieg, der wieder als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln betrieben und gutgeheißen wird, bleibt zu ächten. Das ist ein antizivilistischer europäischer Rückfall in Kriegs- und Gewaltbarbarei um Jahrzehnte, für den der Zweck die Mittel heiligt. Es entspricht der Zeitenrückwende bei der Energiekrisen-Bekämpfung zugunsten umweltschädlichem Fracking-Flüssiggas, Verlängerung von Atom- und Kohlekraftwerkslaufzeiten bis hin zum unglaublichen Versuch, Atomenergie trotz Tschernobyl und Fukushima plötzlich als „sauber“ und „nachhaltig“ zu zertifizieren, weil es eine neue nukleare Technologie gebe. 

Was der Westen auf Ukraine-Seite macht, ist faktisch nichts anderes als Kriegsparteilichkeit, schon rein, was die begleitende ideologische Kriegsrhetorik betrifft. 

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat darauf schon vor Längerem hingewiesen, dass man den sicheren juristischen Grund des Völkerrechts verlasse, wenn man im größeren Stil auch Soldaten der angegriffenen Seite an Waffen ausbildet und trainiert. Nichts anderes geschieht bereits und erwägt die EU laut ihrem Außenbeauftragten, Josep Borrell, zu intensivieren, indem man jetzt ein militärisches Ausbildungsprogramm für die ukrainischen Streitkräfte veranstaltet. Kurz vor dem russischen Überfall am 24. Februar hatten die EU-Außenminister bereits Pläne zur Ausbildung militärischer Führungskräfte der Ukraine gebilligt. Im Fall der EU-Mitgliedschaft der Ukraine, wofür sie inzwischen Kandidat ist, sehen Vertragsklauseln auch eine militärische Beistandspflicht vor, ähnlich dem Bündnisfall-Paragraphen des Nato-Vertrags. 

Der Westen handelt quasi gegen sich selbst, so wie in der Frage der Klimakatastrophe die ganze Welt gegen sich selbst handelt und nur zu halbherzigen unzureichenden Lösungen findet bzw. bereit ist, die aber das Unglück nicht abwenden werden. Das Unglück, das ist die rasante Erderwärmung, die täglich großflächige Abholzung der lebenswichtigen Regenwälder, die systematische Ausrottung der Tier- und Pflanzenvielfalt, auch Bio-Diversität genannt. Das Unglück, das ist auch das Abschmelzen der weltweit gebundenen Eisvorräte an den Polen und in den Gebirgen, verbunden mit einem drastischen Anstieg des Meeresspiegels. Das bedeutet „Land unter“ weiter Meeresanrainer-Regionen bis in 20, 30 Jahren. 

Ein alter Film, der heute (fast) Realität ist

Wir schreiben das Jahr 2022, 38 Jahre nach Orwells „1984“, 50 Jahre nach dem ersten alarmierenden Bericht des „Club of Rome“ über die „Grenzen des Wachstums“. 

1972/73 entstand ein Science-Fiction-Film mit dem Titel „… Jahr 2022 … die überleben wollen“. Er zeichnet visionär einen sehr ähnlich gearteten Zustand wie den, mit dem wir es heute real zu tun haben. Globale Umwelt- und Luftverschmutzung, Überbevölkerung, hungernde Massen, korrupte Konzerne, akute Ernährungsnöte. Frische Lebensmittel kosten horrende Geldsummen, saubere Luft ist den privilegierten oberen Zehntausend vorbehalten, die diese gegen hohe Eintritte stundenweise in Gewächshaus-Pavillons atmen dürfen. Der ozeanische Nahrungsmittel-Konzern Soylent kommt auf eine irrwitzige Lösung des Problems Überbevölkerung und Hungersnot: Jeder Mensch, der dies möchte, und Menschen ab einer bestimmten Altersgrenze können sich staatlich einschläfern lassen, was Menschen vor den Toren der Sterbeinstitute Schlange stehen lässt. Sie bekommen ein letztes Mal eine grandios-groteske Show geboten. Nachdem sie den Todestrunk eingenommen haben, wird ihnen auf großflächigen Leinwänden noch einmal vorgeführt, wie die Erde früher war und ausgesehen hat, als sie noch grün, fruchtbar, von Tieren in Meeren und an Land zahllos bevölkert war. Meeresküsten, Flüsse, Berge, weite, im Wind wehende Blumenwiesen, friedlich grasendes Wild, plätschernde Bäche, Wasserfälle – all das vergangene Schöne und Wilde der Natur. Dazu wird klassische Musik eingespielt, Beethoven – die Pastorale. Oder Händel, Mozart, Debussy…, was man sich erwählt. Nachdem das Gift sanft gewirkt hat und die Menschen tot sind, werden sie wie Mumien in Leichentücher eingewickelt an Terminals verfrachtet, wo sie in große Müllcontainer-Fahrzeuge geladen werden, die sie zu den Soylent-Fabriken bringen. 

Dort kippt man die Leichname in riesige Becken mit zersetzenden Flüssigkeiten… Einige Produktionsgänge weiter verlassen handliche Kekse im „Bahlsen“- und Knäcke-Format in Milliardenstückzahl auf Förderbändern die Produktionsanlage. Als Soylent-Kekse Grün, Orange oder Gelb werden sie auf Märkten günstig als Kraftnahrung angeboten und ihr hoher Energiegehalt als angeblich aus Meeresalgen gewonnen gepriesen. Ein Polizist, der an der Aufklärung eines Mordes an einem hohen Soylent-Funktionär arbeitet, kommt bei seinen Ermittlungen und aufgrund von Erkenntnissen aus den Soylent-Berichten dem Ungeheuren auf die Spur und brüllt die furchtbare Wahrheit am Ende des Films hinaus: Soylent ist Menschenfleisch! „Soylent Green“ – ein Film, der heute (fast) Gegenwart ist. Aber vernichten wir nicht auch schon auf industrielle Weise unsere Artgenossen, die Tiere, um uns massenhaft von ihnen zu ernähren, die wie wir Gefühle und ein Bewusstsein haben? Was ist mit Fast Food? Paul McCartney versicherte einmal: „Ich esse nichts, was zwei Augen hat.“

Die Erde wird zunehmend unbewohnbar

Soweit diese düstere, bedrückende Allegorie. Unser Planet brennt. Gerade in den letzten Jahren gingen weltweit riesige Waldflächen durch Brände und illegale Rodung etwa im Amazonas- und Kongobecken oder in den Regenwäldern Südostasiens verloren. Indonesien mit seiner riesigen 2-Millionen-Quadratkilometer-Inselfläche und 270-Millionen-Einwohnerschaft ist politisch zu den aufstrebenden neuimperialistischen Ländern zu zählen. Mit seiner explosiv wachsenden Bevölkerungszahl liegt es hinter China, Indien, USA und noch vor Brasilien an vierter Stelle. 

Waldbrände in den jahreszeitlich heißen Sommern treten nicht mehr nur dort auf, wo man sie für gewöhnlich wiederkehrend erwartet: Kanada, Westen und Südwesten der USA, Südeuropa, Mittelmeerraum, Griechenland, Australien. Auch Gebiete in Zentraleuropa, Frankreich, Deutschland, Skandinavien, Rumänien, ja auch in Sibirien sind zunehmend betroffen. Ansteigende Temperaturen auf über 40, sogar über 50 Grad Celsius in unseren Breiten und wochenlange Hitzewellen machen dies möglich. Eine direkte Folge der Erderhitzung. 

Extrem stellte es sich in diesem Jahr in Deutschland dar. Ausgetrocknete Böden, verdorrte Nutzpflanzen und Ernteschäden, Tiefstpegelstände in den großen Flüssen Rhein, Main, Elbe, Donau, ausgedehnte Waldbrände vor allem in Brandenburg und Sachsen. Wir erlebten die größte Dürre seit 500 Jahren, fast die Hälfte von Europa sei davon betroffen, so stellen es Forscher der EU-Dürrebeobachtungsstelle in einem neuen Bericht fest. Dies habe besonders negative Auswirkungen auf die Ernte von Sommerkulturen wie bei Mais und Sojabohnen. 

Die zu erwartende Missernte bei Kern-Getreidearten werden die ohnehin hohen Nahrungsmittel-Kosten noch zusätzlich steigen lassen. Das wird voraussichtlich eine mittlere Katastrophe für Landwirte und ärmere Verbraucher. Nach finanziellen „Entlastungen“ wird überall gerufen, aber entweder kommen die sehr Grundbedürftigen nicht in ihren Genuss oder sie schlagen dank unserer neoliberalen Finanzregierung einseitig gerade bei den Reicheren positiv zu Buche,. Dabei gälte es,å „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“, nicht nur von Lobbygruppen und eigener Klientel. Die zunächst geplante Gasumlage wäre ein absurdes Lenkungsinstrument gewesen, auf gestiegene Energiekosten noch eins drauf zu setzen – plus Mehrwertsteuer, von der der Staat profitiert. Die Folgen vor allem auch des deutschen Kriegsengagements in der Ukraine und die Berliner Sanktionspolitik gegen Moskau werden teuer. Wie lange machen die Menschen das mit? Denn das Land brennt. Krieg, Energie-, Ernährungskrise, Corona – alles hängt miteinander zusammen und voneinander ab. Es hilft nicht, nur an Symptomen herumzudoktern. Das System, das sehen und spüren wir immer mehr, ist todkrank. 

Ein neuer heftiger Corona-Herbst und -Winter könnte bevorstehen. Wir können die Massen totimpfen, das Virus verschwindet dadurch nicht und durchseucht jetzt die Bevölkerung. Täglich weiterhin zwischen fünfzig- und hundertausend Neuinfektionen in Deutschland. Mehr Impforgien erhöhen wiederum die unwägbare Mutanten-Gefahr, ein Teufelskreis. Noch immer sterben bundesweit pro Tag über 100 bis 200 Menschen an Covid-19 und das im Jahr drei der Pandemie! Ein Skandal. Pharma-Konzerne verdienen sich an neuen Impfstoffen für den Herbst wieder dumm und dämlich. Übergewinnsteuern? Vergesst es. Nicht mit einem Finanzminister der FDP. Covid-19 ist nicht harmlos, keine leichte Sommergrippe. Jeder achte Genesene leidet mehr oder weniger schwer an Long-Covid-Folgen, Teilnervenlähmungen, funktionellen Organbeeinträchtigungen, Sinnesausfällen, Fatigue-Syndrom, chronischem Erschöpft-sein, geschwächter Immunität usw. Die menschliche Gesundheitssubstanz schwindet. Menschenrecht auf menschenwürdige Gesundheit? Die Covid-Pandemie schafft ein riesiges Einfallstor für nächste Viren-Angriffe. Man erinnere sich, es sind im Zukunftsroman „Krieg der Welten“ von H.G. Wells nicht Atombomben, die außerirdische Marsianer bei ihrer Invasion der Erde zur Strecke bringen, sondern Mikroben… 

Der Planet brennt, die Zellen im menschlichen Organismus „brennen“, Wälder brennen, Städte brennen in der Ukraine. Unter schlecht isolierten Dächern über Mansarden fällt an heißen Tagen die Temperatur des Nachts nicht mehr unter 27 Grad. Schlaf-Sauna plus schlafloses Schäfchen-zählen. Ventilatoren waren ausverkauft, Heizlüfter für den Herbst sind es teilweise auch. 

Drastisch führen austrocknende Flüsse und Seengewässer vor Augen: Die Katastrophe ist da. Bei anhaltend 25 bis 30 Grad Wassertemperatur im Sommer verrecken die meisten Fische außer Hechte und Karpfen auch so, der Sauerstoffgehalt schwindet drastisch. Die Kreatur erstickt, Bäume geben auf ausgetrockneten Waldböden den Geist auf, den Rest besorgen Schädlinge. Der Waldzustandsbericht nach Dürren und Tornados fällt verheerend aus. Fast jeder dritte Baum hierzulande ist bedrohlich geschädigt, kämpft um sein Überleben. Nahrung für Flächenbrände. Erst sterben die Wälder, dann der Mensch. Die Erwärmung über Gebühr fördert giftiges Algenwachstum in Seen. Chemikalieneinleitungen in Flüsse bewirken das Übrige. 200 bis 400 Tonnen verendeter Fisch in der Oder, 25 bis 50 Prozent Verlust des gesamten Fischbestandes – und Experten streiten sich noch immer über mögliche Ursachen…  Das schafft keine einzelne Gift-Alge, vor allem nicht in einem Fließgewässer. Da sind Chemie und Mensch verursachend mit im Spiel. 282 illegale Abwasser-Kanäle in die Oder wurden bislang auf polnischer Seite gefunden. Deutsche und polnische Politikverantwortliche schieben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu. 

Es sind lediglich Symptome für das, was im Großen nicht mehr stimmt, hüben wie drüben. Wenn in der Ukraine ein AKW in die Luft fliegt, wird es für alle bitter. Wind und Fallout kennen weder Freund noch Feind. Das weiß man auch in Moskau. Noch immer sind Pilze auf süddeutschen Waldböden stark Caesium-belastet, vor allzu viel Verzehr wird gewarnt. Das sind die Folgen von Tschernobyl – vor 36 Jahren, damals in der Ukraine! Mehr als eine Generation liegt das nun zurück. In Fukushima leitet man jetzt große Mengen zurückgehaltenen radioaktiven Wassers „kontrolliert“ ab ins Meer. Industrie-Fangfisch aus dem Nordpazifik, sog. Alaska-Seelachs, sollte man nicht mehr bedenkenlos essen.

Der Sonnenbrand lässt Gletscher in Gebirgen beschleunigt schmelzen. Neueste Zahlen aus der Schweiz besagen, dass die dortigen Gletscherwelten zwischen 1931 und 2016, das sind gerade mal 85 Jahre, die Hälfte ihres Volumens eingebüßt haben. Ab 2016 ist nach dem Gletschermessnetz Glamos das Eis noch schneller geschmolzen, Bis 2022 ging das Volumen um weitere 12 Prozent zurück zu den schon 50 Prozent. An der Marmolada, mit 3 340 Metern der höchste Dolomiten-Gipfel, brechen ganze Eis- und Felswände infolge Erwärmung ab und gehen als Eis-Geröll-Muren zu Tal, Menschen und Tiere unter sich begrabend. 

Ein radikaler Wandel ist notwendig

Und den Regierenden fällt nicht mehr ein als „Entlastungspakete“. Leere Versprechungen, Hinhalte-Manöver, um die nervöse Stimmung in der Bevölkerung zu dämpfen. Hunger-Revolten scheinen gar nicht mehr so fern. Die ganze kurzsichtige Reparaturpolitik an der Mega-Maschine müsste „entlastet“ und entsorgt werden. AKW- und Kohleschleuder-Laufzeiten sollen der Kriegskrise wegen wieder verlängert werden und jeweils gut Zweidrittel-Mehrheiten der Bevölkerung befürworten das. 

„O Mensch gib acht“ (Nietzsche) – vor dir selbst. Man greift des einen Übels wegen wieder zum anderen und holt es zurück. Flüssiggas aus teurem, umweltschädlichem Fracking. Nichts drückt Kapitulation beim Klimaschutz deutlicher aus. Grüner Wasserstoff aus Kanada… Wir wissen, was wir vom „guten Willen“ der Politik(er:innen) zu halten haben. Die Wut ob ihres Versagens auf breiter Front wächst.

Als Friedensbewegung, als Pazifist:innen und Antimilitarist:innen sollten wir viel stärker als bisher in größeren Zusammenhängen denken, unsere Bündnisse organisieren – und radikaler handeln. Ganz in dem Sinne, dass sich dieses Wort vom lateinischen radix = die Wurzel ableitet, also: an die Wurzel gehend, von Grund auf. 

Elmar Klink ist seit 1971 Kriegsdienstverweigerer und war Mitglied im Verband der KDVer (VK, eine Vorläuferorganisation der DFG-VK). Von 1991 bis 2008 war er beruflich in der EAK (Evang. Arbeitsgemeinschaft für KDV und Frieden) tätig. In der ZivilCourage 2/2019 rezensierte er unter der Überschrift „Lebensthema Kriegsdienstverweigerung“ ausführlich die 2018 erschienene Autobiografie des langjährigen Vorsitzenden der Zentralstelle KDV Ulrich Finckh (Pimpf, Pfarrer, Pazifist. Bremen 2018).

Kategorie: 2022, Titel Stichworte: 202203, Pazifismus

30. Mai 2022

Die diplomatischen Möglichkeiten ausreizen

Titel

Rede bei der Kundgebung „Stoppt den Krieg“ am 13. März in Frankfurt am Main

Von Thomas Carl Schwoerer

Liebe Freundinnen und Freunde, in kürzester Zeit, seit gut zwei Wochen erleben wir eine Achterbahn der Gefühle. Die erste Erschütterung kam am 24. Februar mit Russlands Einmarsch in die Ukraine. Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Entsprechend haben wir sofort diesen Angriffskrieg und Präsident Putins Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen verurteilt. Wir verurteilen seinen Einsatz von Streumunition sowie den Beschuss eines ukrainischen Atomkraftwerks und mehrerer Städte. Wir fordern einen sofortigen Waffenstillstand und den Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine.

Zwei Tage später waren wir zunächst hocherfreut über die Frankfurter Kundgebung der 7 000 gegen diesen Krieg. Der Wermutstropfen bestand darin, dass vor allem Ukrainer den stellvertretenden DGB-Vorsitzenden ausgebuht haben, als er sich für Sanktionen, aber gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für Deeskalation aussprach. Der ukrainische Generalkonsul entriss ihm auf unfreundliche Art das Mikro.

Tags darauf, zeitgleich zur beeindruckenden und ermutigenden Berliner Kundgebung der Hunderttausenden, kam die zweite Erschütterung, die allerdings nicht mit der ersten zu vergleichen war: Kanzler Scholz hat eine massive Aufrüstung angekündigt. Sie nützt der Ukraine nichts. Und selbst im Rahmen einer militärischen Abschreckungslogik sind die 100 Milliarden Euro auch nicht annähernd nachvollziehbar. Eine weitere Aufrüstung der osteuropäischen Nato-Staaten beispielsweise kostet nie und nimmer eine solche Summe.

Bereits in den letzten zehn Jahren ist der Militär-Etat von knapp 32 Milliarden auf gut 50 Milliarden Euro gewachsen – ein Plus von 58 Prozent. Schon diese bisherige Hochrüstung sorgte nicht für Sicherheit: Der Etat aller Nato-Staaten zusammen ist schon heute 16-Mal höher als der Russlands. Das hat aber die massiven konventionellen und atomaren Streitkräfte Russlands nicht weniger gefährlich gemacht.

Diese 100 Milliarden sind nicht Sicherheit neu denken, sondern altes Denken, um mit Gorbatschow zu sprechen. Militärische Scheinlösungen haben in Afghanistan, Mali und gegen den Terror versagt.

Die 100 Milliarden wären viel besser in den Klimaschutz, die weltweite Pandemiebekämpfung und viele andere Herausforderungen wie Bildung für die junge Generation investiert, statt sie für volkswirtschaftlich unproduktive Ausgaben zu verschwenden.

Was die Waffenlieferungen an die Ukraine anbetrifft, sind sie zwar als solidarische Tat gemeint, die Zeit kauft, damit die Sanktionen gegen Russland greifen. Die Kehrseite dieser Medaille ist, dass der Krieg mit zunehmender Dauer immer brutaler wird. Zudem gelangen Rüstexporte erfahrungsgemäß in die falschen Hände. Außerdem sind die Lieferungen an die Ukraine ein Präzedenzfall für zukünftige Rüstungsexporte in Kriegs- und Krisenregionen – und das in einem Jahr, in dem die Ampel ein restriktives Rüstungsexportkontrollgesetz vorlegen will.

Es gibt eine große Hilflosigkeit und Angst in der Gesellschaft, auch unter Kindern und in Pflegeheimen. Dagegen hilft Orientierung: Stimmt es, dass die Diplomatie ihre Grenzen erreicht hat? 

Nein, die Möglichkeiten der Diplomatie, so engagiert sie betrieben wurde, wurden nicht ausgereizt. Der Westen hat Putins Kernforderungen nach Sicherheitsgarantien abgewiesen. Es wäre immer noch möglich, das zu revidieren, etwa zu sagen: Die Nato greift Präsident Selenskyjs Angebot der Neutralität der Ukraine auf und macht sie sich zu eigen, schließt also einen Nato-Beitritt aus. 

Schon vorher hat der Westen Fehler gemacht, indem er seit 1990 Russland nicht als gleichberechtigten Partner in die europäische Friedensordnung einbezog. Und indem er 2008 der Ukraine und Georgien die Nato-Mitgliedschaft in Aussicht stellte, damit Präsident Putins ausdrückliche rote Linie überschritt und ihn demütigte.

Das alles rechtfertigt nicht den brutalen russischen Einmarsch und dass sich Putin äußerst brutal zu nehmen versucht, was er vorher gefordert hat.

Das Vertrauen zu Präsident Putin steht auf einem Tiefpunkt, seine Glaubwürdigkeit hat massiv gelitten. Gerade deshalb würden Abrüstungsverhandlungen eine Chance darstellen: Schon im Kalten Krieg gelang es, durch Abrüstungsverhandlungen in kleinen Schritten Vertrauen aufzubauen. Generell führt – leider – kein Weg vorbei an Verhandlungen mit Putin.

Es gibt mehrere Anlässe zur Hoffnung: 1,5 Millionen Menschen haben die Petition der russischen Antikriegsbewegung unterschrieben. Sie und die ukrainische Friedensbewegung gilt es zu unterstützen, auch Einzelpersonen wie den Chefredakteur der Nowaja Gaseta und die russische Kriegsdienstverweigerer-Organisation OVD, denen wir unsere Solidarität versichert haben. Ermutigend ist außerdem, dass die russische Regierung international nahezu vollständig geächtet ist. 

Beeindruckend ist die Solidarität hierzulande mit Geflüchteten. Wir fordern auch Asyl für alle Menschen aus Russland, Belarus und der Ukraine, die den Kriegsdienst verweigern oder desertieren.

Ich komme zum Schluss. Hoffnung gibt, dass sich die junge Generation das Thema Krieg und Frieden zu eigen macht. Eine unerwartet hohe Anzahl junger Menschen hat sich für unsere Friedensmentor:innenausbildung angemeldet. Und vorletzten Donnerstag haben 170 000 an den Friedensdemos von Fridays for Future teilgenommen. Im Rahmen dessen haben Schüler:innen und Studierende geschrieben: „Wenn wie geplant jedes Jahr mehr als 2 Prozent in die Bundeswehr fließen, sind wir bald der drittgrößte Militärstaat, vor Russland. Wir wollen nicht in einer Welt voller Waffen leben, sondern in einer Zukunft ohne Krieg, Klimakrise, Armut und Hunger.“

In diesem Sinne: Vielen Dank für euren Langmut und die Teilnahme an dieser großartigen Demonstration.

Die Demonstration bzw. Kundgebung in Frankfurt a.M. am 13. März war eine von vier unter demselben Aufruf (https://stoppt-den-krieg.de) durchgeführten Veranstaltungen neben Berlin, Leipzig und Stuttgart, an denen 125.000 Menschen teilnahmen.

Bei der Kundgebung in Stuttgart sprach Jürgen Grässlin als Vertreter der DFG-VK vor 35.000 TeilnehmerInnen (https://bit.ly/3DoFnFW), in Berlin zwei AktivistInnen der Antimilitaristischen Aktion Berlin (Amab) in der DFG-VK (siehe nächste Seite).

Thomas Carl Schwoerer ist Mitglied im BundessprecherInnenkreis der DFG-VK. Hier veröffentlicht ist der Text laut Manuskript, tatsächlich gehalten wurde die Rede in verkürzter Form wegen der von den OrganisatorInnen vereinbarten Zeitbegrenzungen.

Kategorie: Titel Stichworte: 202201, Nato, Russland, Ukraine, Ukraine-Krieg

30. Mai 2022

„Aufstand statt Aufrüstung“

Titel

Rede bei der Kundgebung „Stoppt den Krieg“ am 13. März in Berlin

Von AktivistInnen der Antimilitaristischen Aktion Berlin (Amab)

Wir sind die Antimilitaristische Aktion Berlin. Wir sind assoziiert in der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsgegner*innen. Wir freuen uns sehr, heute vor so vielen Leuten hier reden zu dürfen. Vielen Dank, dass hier heute auch so Bewegungsstraßenköter und Basishoppel wie wir sprechen dürfen und nicht nur schicke NGOs mit Hauptamtlichen. Danke sehr. 

Wir fordern „Auftstand statt Aufrüstung“ und wir wollen ein paar radikale Überlegungen hier einbringen.

Wir verurteilen den Angriff der russischen Armee auf die Ukraine. Es ist empörend, dass immer noch nicht alle Teile der Friedensbewegung diesen Angriff verurteilen.

Doch Aufrüstung ist keine Lösung. Denn Aufrüstung löst heute keine Konflikte in der Ukraine und führt morgen nur zu weiterer Eskalation und Militarisierung.

Entgegen dem Gelabere von der angeblich kaputt gesparten Bundeswehr zeigen die Zahlen, dass der Wehretat in den letzten 20 Jahren bereits mehr als verdoppelt wurde. Wir schmeißen für Waffen längst wieder so viel Geld aus dem Fenster wie zur Zeit des Kalten Krieges.

Hat die Aufrüstung geholfen? Haben sich Putin und seine Hofnarren dadurch von dem Angriff auf die Ukraine abhalten lassen? Nein! Hat es geholfen, die Kriege in Afghanistan oder Mali zu beenden? Nein!

Derweil ist die Bundeswehr fast wöchentlich in den Schlagzeilen, weil sich regelmäßig massenhaft Einzelfälle beim Nazi-sein erwischen lassen. Kein Wunder: Die Bundeswehr wurde von Nazi-Generälen gegründet. Wehrmachtssoldaten prägten bis in die Achtziger die Schlagrichtung der Armee. Mehr Aufrüstung und mehr Soldat*innen bedeuteten vor allem, dass noch mehr Nazi-Prepper noch mehr Waffen klauen, um Leute, die nicht in ihr völkisches Weltbild passen, am Tag X zu erschießen.

Beachtet auch: Genau die Leute, die jetzt am lautesten nach Aufrüstung schreien,  erzählen seit über 20 Jahren das Märchen von Putin als lupenreinem Demokraten. Stellt euch vor, die deutschen Gazprom-Fans zum Beispiel in der SPD hätten bereits früher zu ernsthaften gewaltfreien Kampfmitteln gegriffen:

Zum Beispiel im Jahr 2000, als Grosny platt gemacht wurde. Oder 2006 nach dem Mord an Anna Politkowskaja. Oder beim Angriff auf Georgien, 2008. Oder 2004, 2008, 2012 und 2018 bei den manipulierten Präsidentschaftswahlen. Oder aber 2014 nach der Annexion der Krim. Glaubt ihr, wenn man die wirtschaftlichen Daumenschrauben schon damals angesetzt hätte, müssten wir heute hier demonstrieren? Nein!

Ein zweites gewaltfreies Kampfmittel, das wir viel zu selten einsetzen, sind offene Grenzen. Ja, wir sollten unsere Grenzen einfach öffnen. Es entzieht kriegstreiberischen Autokratien viel Potenzial, wenn die Leute einfach zu uns kommen können, weil ihnen zu Hause was nicht passt. Die Leute dort und anderswo können selber definieren, ob ihre Gesellschaft lebenswert und bleibenswert ist, und können selber entscheiden, wo sie leben wollen. 

Wenn wir oder die Gazprom-Fans in der Regierung definieren, was sicher oder lupenrein demokratisch ist, bleiben selbst Länder wie Russland, Afghanistan oder Ägypten auf der Liste sogenannter sicherer Staaten.

Drittens müssen wir selber aufständischer werden. Statt schicke Kampagnen zu machen, die irgendwelche Minimalforderungen stellen, brauchen wir  eine Soziale Verteidigung.

Auch das machen uns die Leute in der Ukraine vor. 2014 blockierten sie Truppen, die in den Bürgerkrieg zogen. Heute blockieren sie mit Demos russische Panzer.

Schaut euch eure Nachbarn und Kolleg*innen an: Das sind dieLeute, mit denen ihr Invasionen pazifistisch verhindern könnt. 

Organisiert euch, organisiert andere. Kleine Schritte, wie der selbstorganisierte autonome Kiezbeirat, sind erste Schritte zur Sozialen Verteidigung gegen die eigene Regierung oder aggressive Invasor*innen.

Wir von der Amab organisieren ein Workshop-Wochenende zu Kreativ-Protest mit Blick auf den Tag der Bundeswehr, um dort gemeinsam mit anderen Gruppen fantasievoll und widerständig protestieren zu können. Damit hoffen wir, unsere Widerständigkeit im Alltag zu erhöhen.

Aber bis dahin brauchen wir Sofortmaßnahmen gegen die Aufrüstung. Wir fordern: Aufrüstung stoppen! Bundeswehr abschaffen! Offene Grenzen jetzt sofort! 500 Milliarden Sofortprogramm für dezentrale erneuerbare Energien und deren gerechte Verteilung, damit niemand frieren muss! Und die Pipelines Nord Stream 1 und Druschba kappen!

Vielen Dank fürs Zuhören. 

Eure Antimilitaristische Aktion Berlin in der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsgegner*innen.

Kategorie: Titel Stichworte: 202201, Amab, Nato, Russland, Ukraine, Ukraine-Krieg

30. Mai 2022

Abrüsten statt Aufrüsten

Titel

Aktion gegen das 100-Milliarden-Euro-„Sondervermögen“ für die Bundeswehr

Mit einer spektakulären Aktion haben Friedensaktivist*innen der DFG-VK, den Naturfreunden, der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit und der Antimilitaristischen Aktion Berlin in Berlin gegen das von der Bundesregierung geplante Aufrüstungsprogramm für das Militär protestiert. Hochrüstung als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine führt nur zu weiteren Problemen und löst den Konflikt nicht.

Mehrere Soldat*innen in Tarnuniformen standen Mitte März vor dem „Showroom“ der Bundeswehr in Berlin und wurden von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Finanzminister Christian Lindner (FDP), Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) mit Geldscheinen überschüttet. Auch ein goldenes Gewehr wurde den Soldat*innen überreicht. Dabei zertrampelten die Politiker*innen Modelle einer Schule, eines Krankenhauses und eines Solarparks.

Mit der Straßentheater-Aktion protestierten mehrere Friedensgruppen gegen das von der Bundesregierung geplante 100 Milliarden Euro-Aufrüstungsprogramm für die Bundeswehr und das „2-Prozent-Ziel“ der NATO. Die Gelder für die Hochrüstung sollen am 16. März im Kabinett beschlossen werden.

Zu der Aktion erklären die beteiligten Gruppen:

„Der Etat der Bundeswehr ist bereits innerhalb der letzten zehn Jahre von 31,9 Milliarden Euro 2012 auf 50,3 Milliarden Euro im Jahr 2022 gewachsen – ein Plus von 58 Prozent. Die nun angekündigte weitere massive Aufrüstung ist politisch einfach falsch. Jeder Euro, Dollar oder Rubel, der ins Militär fließt, fehlt im Kampf gegen die eigentlichen Menschheitsprobleme wie die Corona-Pandemie, die Klimakatastrophe oder die Armut“, sagte Elvin Çetin von der DFG-VK.

Yannick Kiesel vom Bundesvorstand der Naturfreunde Deutschlands erklärte: Wir stellen uns „klar gegen die geplante Sonderinvestition in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Deutschland befindet sich weltweit bereits auf Platz 8, wenn es um die eigenen Rüstungsausgaben geht.“ Die Naturfreunde „fordern mehr Geld für unsere Schulen, Krankenhäuser, den Klimaschutz und die Hilfe für Geflüchtete, statt eine weitere sinnlose Aufrüstung voranzutreiben.“

Für die Women‘s International League for Peace and Freedom Deutschland äußerte die Ko-Vorsitzende Marieke Fröhlich: „Die zunehmende Militarisierung der deutschen Politik, unter anderem durch die horrenden Summen für eine Aufrüstung der Bundeswehr, stehen im direkten Gegensatz zur proklamierten ‚feministischen Außenpolitik‘. Eine Militarisierung der deutschen (Außen)politik wirkt langfristig Frieden und Gerechtigkeit entgegen, denn militärische Stärke kann weder grundsätzlich die Sicherheit von Menschen noch die Einhaltung von Menschenrechten garantieren. Im Gegenteil: Militarismus als politische Agenda trägt wesentlich zu Nationalismus und verschränkten Unterdrückungsmechanismen bei. Dies sind Gewaltformen, die sich insbesondere auf schon marginalisierte Personen auswirken – Frauen, von Rassismus betroffene Menschen, LGBTIQ. Machtpolitik und Aufrüstungsspiralen sind unvereinbar mit feministischen Ansätzen, deshalb fordern wir, dass der Fokus auf gendersensible Menschenrechte und die Sicherheit von Menschen gelegt werden muss.“ Jan Hansen von Amab erklärte: „Statt aufzurüsten sollten wir die Bundeswehr abschaffen! Dann könnte man auch die jährlich über 50 Milliarden Euro, die bisher über den Wehretat bei korrupten Firmen wie der Gorch-Fock-Werft oder bei Nazipreppern landen, einsparen. Und auf der anderen Seite wäre die Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen kein Problem mehr.“ 

Kategorie: Titel Stichworte: 202201, Amab, Nato, Russland, Ukraine, Ukraine-Krieg

30. Mai 2022

Dem Krieg die Menschen entziehen

Titel

Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure

Von Siglinde Cüppers

Wir sind bei den letzten Mahnwachen gegen den Ukraine-Krieg oft gefragt worden, was man denn tun könne. Daraus ist dann dieser Text entstanden zum Thema Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren.

Denn unabhängig von den unterschiedlichen Analysen zur Entstehung der Konflikte in der Ukraine, die in dem Angriffskrieg der russischen Armee eskalierten, kommt es jetzt darauf an, dem Krieg den Boden und die Menschen zu entziehen. Keine Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet und nicht noch mehr Geld für Kriegswaffen zu verschwenden – das fordern wir von der Regierung; die Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren – das müssen wir schon selber leisten.

Für Frieden und Abrüstung einzutreten und sich dem Krieg zu verweigern, ist keine neutrale Position. Es bedeutet, die militärische Sichtweise mit der Rechtfertigung von Krieg und Gewalt abzulehnen und stattdessen für Gewaltfreiheit einzutreten. Wenn der Krieg nicht verhindert worden ist, weil er politisch gewollt war, und wenn die Bilder von Not. Leid, Tod und Zerstörung über die Bildschirme gelangen, dann wird das Geschrei laut, mit noch mehr Waffen und Soldat*innen den Krieg angeblich schnell zu beenden. Als gerechter Krieg soll er angeblich Frieden bringen. Aber er führt zu weiterer Aufrüstung, noch mehr Toten und noch mehr Leid und Zerstörung und nutzt nur denjenigen, die von Rüstung und Krieg profitieren und ist die Vorbereitung für den nächsten Krieg.

Grafik: Wilfried Porwol

Den Krieg ablehnen und ihm den Boden entziehen

Als Pazifist*innen stellen wir uns an die Seite der Kriegsdienstverweigerer*innen und Deserteur*innen. Es gibt sie immer in allen Kriegen bei jedem Militär, auch jetzt im russischen und ukrainischen Militär.

Der größte Teil der Soldat*innen im russischen und ukrainischen Militär sind Wehrpflichtige zwischen 18 und 60 Jahren. In beiden Gesellschaften ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung sehr eingeschränkt. Für den Wehrdienst werden die Daten der wehrpflichtigen Männer erfasst, sie werden aufgefordert, sich in Einberufungsbüros zu melden. Dort wird ihnen der Pass abgenommen, stattdessen erhalten sie einen Wehrpass. Sie dürfen das Land nicht mehr verlassen. Viele von ihnen wollen sich am Krieg nicht beteiligen, haben aber oft keine andere Wahl. Wenn sie versuchen, sich der Einberufung zu entziehen, werden sie zwangsrekrutiert. Das bedeutet, die Wehrpflichtigen werden am Arbeitsplatz, aus ihren Wohnungen und von der Straße geholt und zwangsweise in die Kasernen verbracht. Oft wissen die Angehörigen nicht, wo sie geblieben sind. Familien werden getrennt. Seit dem 4. März findet die Mobilmachung in Weißrussland statt. Auch hier gibt es Wehrpflicht und wehrpflichtige Männer zwischen 18 und 60 Jahren werden massenweise einberufen zur Unterstützung der russischen Armee. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt es nicht. Wenn sie der Einberufung nicht folgen werden auch die weißrussischen Männer zwangsrekrutiert.

Zwangsrekrutierungen sind nach der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen eine massive Menschenrechtsverletzung. 

Unterstützung für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure

In der Ukraine gibt es die Ukrainische Pazifistische Bewegung, die sich für ein umfassendes Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine einsetzt und Kriegsdienstverweigerer unterstützt. 

In Russland gibt es die Bewegung für Kriegsdienstverweigerung in Russland. 

Wir können an unseren Wohnorten, bei Infoständen, Mahnwachen und Kundgebungen diese Organisationen bekannt machen. Wir können Mitbürger*innen, die aus der Ukraine, Russland, Belarus kommen darauf hinweisen, dass sie diese Bewegungen in ihren Herkunftsländern bei Bekannten, Verwandten und Freunden, die dort leben bekannt machen, damit darüber Kriegsdienstverweigerer und Deserteure Unterstützung bekommen. 

Wir können sie bitten, Kriegsdienstverweigern und Deserteuren dabei zu helfen, dem Militär zu entkommen, und ihnen unsere Hilfe anbieten.

Offene Grenzen für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer

Wir müssen offen für Kriegsdienstverweigerung und Desertion von allen Armeen und Kampfverbänden eintreten und dafür werben, dass die Grenzen für sie geöffnet werden und sie vor erneuter Einberufung und Verfolgung sicher sind. 

Recht auf politisches Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure

Kriegsdienstverweigerung und Desertion muss endlich als eigenständiger Grund für politisches Asyl anerkannt werden. Wer glaubwürdig Kriege beenden will, ermöglicht Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren Unterstützung und Zuflucht.

Kriegsdienstverweigerung auch hier!

Wir rufen die Soldat*innen der Bundeswehr auf, jetzt den Kriegsdienst zu verweigern. Wenn sie den Befehl für einen Kriegseinsatz in der Ukraine bekämen, müssten sie den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung im Kriegseinsatz stellen, und das ist dann nicht so einfach.

Siglinde Cüppers ist aktiv in der DFG-VK-Gruppe Flensburg.

Kategorie: Titel Stichworte: 202201, Asyl, Deserteure, KDV, Kriegsdienstverweigerung, Nato, Russland, Ukraine, Ukraine-Krieg

30. Mai 2022

Ebco-Erklärung zum Ukraine-Krieg

Titel

Solidarität mit Kriegsdienstverweigerern, Anti-Kriegs-Aktivisten und Zivilisten auf allen Seiten des Krieges

Erklärung des Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung/European Bureau for Conscientious Objection (Ebco)

Das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung (Ebco) drückt seinen Respekt und seine Solidarität mit allen mutigen Kriegsdienstverweigerern, Kriegsgegnern und Zivilisten aller Kriegsparteien aus und fordert Europa auf, ihnen konkrete Unterstützung zukommen zu lassen:

• Europa sollte aufhören, den Krieg direkt oder indirekt anzuheizen, und sich auf Diplomatie, Konfliktprävention und gewaltfreie Konfliktlösung konzentrieren. Als Bewegung der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen beklagen wir die vorbereitenden Handlungen in Friedenszeiten, die den Krieg ermöglichen: die Entwicklung, die Produktion und den Handel mit Waffen – einschließlich Atomwaffen – und die Ausbildung von Soldaten. In dieser Zeit sollten alle europäischen Länder ihre Grenzen öffnen und allen ukrainischen, russischen, weißrussischen und anderen Flüchtlingen den Flüchtlingsstatus gewähren, einschließlich, aber nicht nur, der Kriegsgegner und Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, sowohl Zivilisten als auch Soldaten, die den Dienst in den Streitkräften verweigern oder desertieren. Alle Flüchtlinge sollten uneingeschränkten Zugang zu Gesundheit, Wohnraum, Bildung und Beschäftigung erhalten. Die europäischen Universitäten sollten beispielsweise russische und ukrainische Studenten aufnehmen, die vor dem Krieg fliehen wollen, damit sie ihr Studium in Europa fortsetzen können.

• Russland und die Ukraine sollten allen Zivilisten, die aus den Konfliktgebieten fliehen, Zugang zu sicheren humanitären Korridoren gewähren und sich strikt an das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsbestimmungen halten, einschließlich des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung.

• Russland sollte alle militärischen Operationen einstellen und alle russischen Truppen aus der Ukraine abziehen. Die Zivilbevölkerung stirbt, und die russischen Truppen begehen Kriegsverbrechen. Russland sollte auch das harte Durchgreifen gegen unabhängigen Journalismus, Antikriegsproteste und Andersdenkende in Russland beenden.

• Die Ukraine sollte die Ausreisebeschränkung für alle männlichen Bürger zwischen 18 und 60 Jahren aufheben, die für die Zeit des Kriegsrechts verhängt wurde. Diese diskriminierende und rechtswidrige Beschränkung ist ein eklatanter Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit.

„Ebco verurteilt die russische Invasion in der Ukraine sowie die Nato-Osterweiterung aufs Schärfste. Ebco fordert die Soldaten auf, sich nicht an den Feindseligkeiten zu beteiligen und ruft alle Rekruten auf, den Militärdienst zu verweigern“, erklärte Alexia Tsouni, die Präsidentin des European Bureau for Conscientious Objection, am 15. März.

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30. Mai 2022

Global betrachtet

Titel

Pazifismus und Kriegsdienstverweigerung in kriegerischen Zeiten

Von David Scheuing

Es ist geschehen, was viele Pazifist*innen zu verhindern suchten: Erneut herrscht Krieg in der Ukraine, erneut ein Krieg in Europa. Der Wille zur Erklärung, zur Ursachensuche, auch zur Selbstreflexion ist allerseits groß, trotz all des Kriegsgetöses, der dramatisch vertieften Militarisierung der Öffentlichkeit, der Außenpolitik, der „Friedens“politik. 

Auch international beschäftigt der Angriffskrieg auf die Ukraine viele Aktivist*innen – von Einschätzungen des lateinamerikanischen Netzwerk Red Antimilitarista de América Latina y el Caribe (Ramalc) über Solidarität aus den USA bis hin zu ukrainischen Aktivist*innen selbst. 

Ich versuche mich an einer kleinen Darstellung der diversen Stellungnahmen, Positionen und Einschätzungen weltweit.

Vorahnungen, Kriegsgetrommel, Warnungen

In den Tagen vor Beginn der russischen Offensive hatte die Ukrainische Pazifistische Bewegung (UPM) noch dazu aufgerufen, dass beide Seiten sich dringend um die Beilegung der Spannungen bemühen sollten (19. Februar; https://bit.ly/3JXI2Jh).

Die Analysen weiter Teile der europäischen und internationalen Pazifist*innen sahen die gegenseitige Eskalationsdynamik und die drohende Gefahr eines nuklearen Krieges deutlich – seit Jahresbeginn wuchs von Woche zu Woche die Anzahl der Statements, Forderungen und Positionspapiere, das Blätterrauschen war gewaltig. Stellvertretend dafür nur die gemeinsame Stellungnahme der War
Resisters´ International (WRI)
 vom 10. Februar: https://bit.ly/3LhWJHs. In ihr drückt dieses größte Netzwerk der Pazifist*innen seine Verurteilung der Kriegsvorbereitungen der Nato und Russlands aus, „die derzeit militärische Reaktionen auf die aktuelle politische Krise in der Ukraine erwägen. Wenn ein Krieg ausbricht, wird er Tod, Zerstörung, Leid, Massenflucht, eine Wirtschaftskrise und viele andere Folgen mit sich bringen.“ 

Die praktischen Konsequenzen dieser Vorahnungen lassen sich nun betrachten.

Prompte Reaktionen

In den frühen Morgenstunden des 24. Februar begann mein Mobiltelefon zu vibrieren – eine E-Mail folgte der nächsten. 

Der Bund für Soziale Verteidigung (BSV) hatte ein erstes vorläufiges Statement verfasst, der erste dringende Appell der UPM wurde in viele weitere Sprachen übersetzt (auf Deutsch bei der DFG-VK Hessen: https://bit.ly/3tQ5H8T), ein erstes Statement der WRI erschien (https://bit.ly/3uxySfW). Viele weitere Statements sollten diesen ersten Reaktionen bis in die Abendstunden des ersten Tages folgen; diese sind auch über die Homepage der WRI zu finden. 

Hier stellvertretend ein Auszug aus dem Statement des lateinamerikanisch-karibischen Netzwerks Ramalc: „Wir lehnen die zwischenimperialistischen Bestrebungen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO) und der Nato ab, das ukrainische Territorium in ein Laboratorium für Zerstörung und Krieg zu verwandeln, und wehren uns dagegen. Wir lehnen die Massenrekrutierung junger Menschen ab, die gegen ihren Willen zur Teilnahme am Krieg gezwungen werden.“ (https://bit.ly/3IPHG6g), auch aus der russischen Zivilgesellschaft. 

Aktivist*innen haben eine beeindruckende Liste der unterschiedlichen Stellungnahmen veröffentlicht, die wirklich zur Lektüre zu empfehlen sind – leider über ein Google-Doc: https://bit.ly/3tSnnk4

Mittlerweile existieren eine ganze Reihe an Sammlungen diverser Stellungnahmen, hier sei auf die Liste des BSV verwiesen: https://bit.ly/3JUOC35

Ziviler Ungehorsam, Soziale Verteidigung und Kriegsdienstverweigerung

Herausgefordert von der Realität eines konkreten Krieges stellte die erschrockene Öffentlichkeit in den kommenden Tagen und Wochen an viele Pazifist*innen die immer wieder gleichen Fragen: Wie könnt ihr Pazifist*innen sein angesichts des Schreckens und der Gewalt? Wie würdet ihr denn den Krieg beenden? 

Sicherlich haben viele irgendwo zwischen introspektiver Reflexion und aufrechter Haltung die Mittel, Wege und Ziele der Sozialen Verteidigung ins Spiel gebracht (viele gelebte Beispiele davon auf den Seiten des BSV: https://bit.ly/3LrODfg) und sich mit denen solidarisch erklärt, die dem Kriege gewaltfrei widerstehen. 

Ganz in diesem Sinne die jüngste Erklärung der WRI „in Solidarität mit all denen, die dem Krieg gewaltfrei widerstehen“ (https://bit.ly/3NAA8Yo; auf Deutsch bei Connection e.V.: htps://bit.ly/3JSENmt). 

Berichte über erste „polizeiliche“ Gängelungen, Festsetzungen u.a. von Aktivist*innen in den besetzten Teilen der Ukraine, auf die ebenso schnell wieder die Freilassungen erfolgten, lassen hoffen, dass dies auch als Stärke der internationalen Vernetzung und dringlicher Alarmaktionen gesehen werden kann, müssen aber vor allem kritisch beobachtet und begleitet werden. Die Beschneidung der Rechte der Zivilgesellschaft durch die Handlungsuntersagung von bestimmten Parteien und die totale Mobilmachung bei gleichzeitig nicht nutzbaren Rechten auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine müssen ebenso unsere Kritik finden. 

Zudem sind die Aufrufe zur Desertion an alle beteiligten Soldat*innen unumgänglich – alles Kernaufgaben und Kernforderungen der DFG-VK. Connection e.V. ruft im Bündnis mit Pro Asyl nun die Bundesregierung auf, hier endlich klare Asylschutzgründe zu etablieren und Asyl zu gewähren (siehe: https://bit.ly/3JSncLv). 

Einen knappen Überblick über die derzeit geltende rechtliche Lage bietet Pro Asyl: https://bit.ly/3LIvRAL

Jenseits des direkten Krieges. 

Die Auswirkungen des Sanktionsregimes (bzw. der unterschiedlichen Regime) sind deutlich zu spüren, und die panischen Diversifizierungsversuche der verschiedenen europäischen Regierungen deuten schon auf die wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und diplomatischen Folgen hin, die mit ihnen einhergehen werden. 

Beim Internationalen Friedensbüro (IPB) begann vor Kurzem eine Veranstaltungsreihe der Arbeitsgruppe zu Afrika, die sich mit den Auswirkungen des Krieges auf den afrikanischen Kontinent beschäftigt. Beim ersten Webinar am 14. März sprachen die Teilnehmenden über die zu erwartenden Auswirkungen im laufenden Jahr und die daraus erwachsenden Instabilitäten, wie beispielsweise den Auswirkungen auf die Agrarmärkte: „Zweifellos rückt diese Situation die Sorge um die Ernährungssicherheit in Afrika in den Vordergrund, das in der Vergangenheit viele Ernährungskrisen erlebt hat“. 

Doch der Krieg betrifft viele weitere Dimensionen des Alltags, daher ist der Bericht sehr lesenswert: https://bit.ly/3tP5RgB

Kurz notiert:

Europa: Enaat, das europäische Netzwerk gegen Waffenhandel, hat Mitte März in Kooperation mit dem Transnational Institute TNIeine größere Studie zum „Neuen Wettrüsten“ der EU veröffentlicht. Der Bericht fasst die größeren Entwicklungen der Militarisierungsbemühungen der EU zusammen und expliziert die Folgen an drei konkreten Fallbeispielen (Irland, Frankreich, Niederlande). 

Gerade diese drei, für deutschsprachige Leser*innen eher ungewohnten Beispiele eignen sich sehr gut für ein besseres Verständnis der immer weiter ausgreifenden Militarisierungstendenzen der EU. (enaat.org)

Global: Unter den Schatten des Krieges sollte nicht vergessen werden, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung auch an vielen anderen Orten dieser Erde dramatisch eingeschränkt ist. 

Alljährlich erinnert die WRI mit einer Liste aller ihr bekannten verknasteten KDVler*innen an dieses Unrecht. Die Liste ist einsehbar und soll dazu animieren, sich für diese Menschen einzusetzen – in Wort (durch Briefeschreiben, Appelle unterzeichnen u.a.) und Tat (durch aktive Arbeit für die Rechte der KDVler*innen). Die aktuelle Liste findet sich hier: https://bit.ly/3r9gV6T

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30. Mai 2022

Zur Einordnung des Ukraine-Kriegs

Titel

Trotz des verbrecherischen Kriegs –
Sicherheit in Europa gibt es nur mit Russland

Von Andreas Zumach

Ein Angriffskrieg ist per se völkerrechtswidrig. Aber die russischen Invasionstruppen haben bereits in den ersten Tagen ihrer Operationen auf ukrainischen Boden auch gegen die Regeln des „humanitären Völkerrechts“ verstoßen, die einen größtmöglichen Schutz der Zivilbevölkerung im Krieg gewährleisten sollen. Die russischen Angriffe richteten sich zunehmend gegen Wohnviertel, zivile Infrastrukturen wie Strom-, Gas- und Wasserleitungen oder sogar Krankenhäuser. Wenn sich die Kampfhandlungen lange hinziehen, könnten ukrainische Städte dasselbe Schicksal erleiden wie Grosny, das 1995 im ersten Tschetschenien-Krieg von russischen Streitkräften weitgehend zerstört wurde. 

Wann dieses Ende kommen wird – und mit welchem Ergebnis – ist derzeit nicht vorhersehbar, Fest steht dagegen, wer diesen Krieg vom Zaun gebrochen hat. Präsident Wladimir Putin hat nicht nur den Angriffsbefehl gegen die Ukraine gegeben, er hat die Invasion auch von langer Hand vorbereitet, wozu auch Lügen und systematische Täuschungsmanöver gehörten. 

Westliche Diplomaten und höchstrangige Gesprächspartner wie Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz, die sich in den Wochen vor dem 24. Februar in direkten Gesprächen mit Putin und seinem Außenminister Sergei Lawrow um eine Deeskalation bemühten, wurden „eiskalt belogen“ und „ausgetrickst“, wie es die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock audrückte. Vor allem Lawrow hatte seinen Gesprächspartnern mehrfach versichert, ein Angriff auf die Ukraine sei „nicht geplant“. 

Putin hat aber nicht nur „den Westen“ vor den Kopf gestoßen. Auch in der Uno ist Russland heute so isoliert, wie es während der 77-jährigen Geschichte der Weltorganisation ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats noch nie gewesen ist. 

Im 15-köpfigen Sicherheitsrat schaffte es Moskau zwar noch, bei einer Dringlichkeitssitzung in der Nacht zum 26. Februar die Verabschiedung einer Resolution durch sein Vetorecht, das es als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates hat, zu verhindern. Aber die russische blieb die einzige Gegenstimme, während sich Indien, China und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) enthielten.

Das Scheitern der Ukraine-Resolution im Sicherheitsrat führte allerdings zu einer Dringlichkeitssitzung der Uno-Generalversammlung, auf der am 2. März von den 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen 141, also fast drei Viertel, für eine Resolution mit dem Titel „Aggression gegen die Ukraine“ stimmten. Auch die Emirate votierten jetzt mit „Ja“. In der Resolution forderte die Generalversammlung einen „sofortigen Waffenstillstand“ in der Ukraine, gefolgt von einem „sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Rückzug aller russischen Streitkräfte vom Territorium der Ukraine innerhalb seiner international anerkannten Grenzen“.

Gegen diese Resolution votierten in der außer Russland lediglich Belarus, Nordkorea, Syrien und Eritrea. Zu den 35 Staaten, die sich enthielten, gehörten neben China, Indien und Iran auch Staaten wie Kuba oder Nicaragua, die bei früheren Abstimmungen in der Generalversammlung oder anderen Uno-Gremien in der Regel die Position Russlands unterstützt hatten.

In der beschlossenen Resolution heißt es, „die militärischen Angriffe der russischen Streitkräfte“ hätten „ein Ausmaß erreicht, das die internationale Gemeinschaft seit Jahrzehnten in Europa nicht mehr erlebt“ habe. Die Regierung Putin wurde aufgefordert, ihre am 21. Februar verkündete und vom russischen Parlament ratifizierte „Anerkennung“ der beiden ostukrainischen Teilrepubliken Donezk und Luhansk wieder rückgängig zu machen. 

In der Generalversammlung fiel das Votum für diese Resolution und gegen die russische Invasion auch deshalb so deutlich aus, weil der Angriffsbefehl Putins noch während der Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrats erfolgt war, der am Abend des 23. Februar den Krieg noch im letzten Moment verhindern wollte. 

Verurteilung Russlands durch die UN-Generalversammlung

Eine solche Provokation, wie sie in der Geschichte der Vereinten Nationen ohne Beispiel ist, haben sehr viele Mitgliedsstaaten als schweren Affront der Regierung Putin gegen die Weltorganisation wahrgenommen. Wie groß die Empörung über das Verhalten der Vetomacht Russland war, zeigt die Tatsache, dass sich bei der zweitägigen Debatte in der Generalversammlung nicht weniger als 120 BotschafterInnen zu Wort gemeldet hatten.

Ein derart eindeutiger „Schuldspruch“ der UN-Generalversammlung ist bei einem internationalen Konflikt äußert selten. Laut Uno-Charta liegt die „Hauptverantwortung“ bei einer „Bedrohung“ oder gar dem „Bruch des Friedens und der internationalen Sicherheit“ eigentlich beim UN-Sicherheitsrat. Der kann „Maßnahmen zur Friedensschlichtung“ nach Kapitel 6 der Charta beschließen, oder sogar nach Kapitel 7 politische, wirtschaftliche oder militärische Zwangsmaßnahmen gegen den jeweiligen Friedensbrecher anordnen. 

Als der Sicherheitsrat diese Verantwortung 1950 während des Korea-Krieges nicht wahrnehmen konnte, weil er durch ein Veto der Sowjetunion blockiert und handlungsunfähig war, zog die Generalversammlung diese Zuständigkeit an sich. Am 3. November 1950 verabschiedete sie auf Antrag von USA und Großbritannien die Resolution 377 A („Uniting for Peace“). Darin wurde für den Fall einer blockierten Sicherheitsheitsrat-Resolution der Mechanismus einer „emergency special session“ geschaffen. 

Eine solche „Notstandssondersitzung“ der Generalversammlung hat es seit 1950 nur elf Mal gegeben; die elfte war nun die vom 2. März. Mit der Resolution zu Putins Krieg in der Ukrai-
ne hat die Generalversammlung überhaupt erst zum dritten Mal in der 77-jährigen Geschichte der Uno eines der fünf ständigen und vetoberechtigten Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrats verurteilt. 

Dabei traf es in allen drei Fällen die Regierung in Moskau. Ende März 2014 verurteilte die Generalversammlung mit 100 gegen elf Stimmen bei 58 Enthaltungen die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland. Bereits im Januar 1980 hatte sie ebenfalls mit großer Mehrheit die kurz zuvor erfolgte Invasion der damaligen Sowjetunion in Afghanistan verurteilt.

Im Gegensatz zu Russland bzw. der Vorgängerin Sowjetunion ist dies den drei westlichen Vetomächten im Sicherheitsrat – also den USA, Großbritannien und Frankreich – bislang noch nie passiert. Sie haben es dank ihrer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht noch immer geschafft, eine Verurteilung ihrer völkerrechtswidrigen Kriege oder ihrer Kriegs- und Besatzungsverbrechen zu verhindern. 

Das gilt zum Beispiel für den Vietnam-Krieg der USA (1964-1975), für Frankreichs Krieg in Algerien (1954-1962) oder für die britische Beteiligung am Irakkrieg von 2003. Als Südafrika den Versuch unternahm, diesen Krieg einer „Koalition der Willigen“ in einer Resolution der Generalversammlung als völkerrechtswidrig zu qualifizieren, konnte die damalige US-Regierung von George W. Bush diese Initiative mit massiven Drohungen gegen Pretoria im Keim ersticken.

Das Verhalten der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats wurde bislang nach sehr unterschiedlichen Maßstäben bewertet. Das ist scharf zu kritisieren, aber auf keinen Fall ein Grund, den Krieg gegen die Ukraine zu verharmlosen, zu entschuldigen oder gar zu legitimieren. Für diesen völkerrechtswidrigen und verbrecherischen Angriff gibt es nicht die geringste Rechtfertigung. 

Putins Propagandalügen vom „Genozid“ im Donbas oder der „Nazi-Regierung“ in Kiew sind ohnehin zu absurd. Das gilt allerdings nicht für Putins Hinweise auf die Völkerrechtsverletzungen westlicher Staaten, zum Beispiel im Fall des Kosovo-Kriegs der Nato, der ohne UN-Mandat begonnen wurde.

Angesichts dessen, was 1999 im Kosovo geschah, sind mehrere der Behauptungen falsch, die derzeit im Westen von der politischen Klasse wie auch von vielen Medien über den militärischen Überfall auf die Ukraine verbreitet werden. Denn Putin hat keinesfalls „den ersten Krieg gegen die europäische Friedensordnung“ angefangen oder „zum ersten Mal in Europa gewaltsam Grenzen verletzt“ und damit als Erster gegen die Uno-Charta, gegen die KSZE-Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 und gegen die Pariser „Charta für ein neues Europa“ von 1990 verstoßen. 

Mit dieser Argumentation wird verdrängt, dass die Nato bereits 1999 mit ihrem völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Serbien und Montenegro zum ersten Mal militärische Mittel zur Lösung politischer Konflikte eingesetzt hat. Und dass der Westen mit der Anerkennung der Sezession des Kosovo von Serbien das Prinzip aufgekündigt hat, wonach Grenzen nicht gewaltsam verändert werden dürfen.

Ernst zu nehmen ist auch die russische Kritik an Fehlentscheidungen der westlichen Staaten seit dem Ende des Kalten Krieges und insbesondere an der Tatsache, dass diese ihre – wenn auch nicht schriftlichen – Zusagen an Moskau, die Nato nicht nach Osten zu erweitern, nicht eingehalten haben.

„Realpolitische Einsichten und Abwägungen“

Jenseits der moralischen und völkerrechtlichen Ebene gibt es allerdings auch die Ebene realpolitischer Einsichten und Abwägungen. Auf dieser Ebene muss man leider feststellen, dass Putin mit der Invasion in der Ukraine in überaus brutaler Weise das getan hat, was der US-amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan bereits wenige Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion prophezeit hat. 

Die vorausschauende Analyse Kennans erschien in der New York Times vom 5. Februar 1997 unter dem Titel „A fateful error“ und lief auf eine dringende Warnung hinaus: „Eine Erweiterung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg.“ Eine solche Erweiterung werde nicht nur „die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Meinung anheizen“ und damit „negative Auswirkungen auf die Entwicklung der russischen Demokratie haben“. Sie werde auch, so Kennan weiter, „die Atmosphäre des Kalten Krieges in die Ost-West-Beziehungen zurückbringen und die russische Außenpolitik in Richtungen treiben, die uns entschieden missfallen werden“.

Kennan bedauerte insbesondere, dass diese Expansionsstrategie gegenüber einem Russland betrieben wird, das sich – unter einem Präsidenten Boris Jelzin – „in einem Zustand hoher Unsicherheit oder gar Lähmung befindet“. Aber noch bedenklicher sei, „dass es für diesen Schritt überhaupt keine Notwendigkeit gibt“. Warum sollte es in den Ost-West-Beziehungen, gab Kennan zu bedenken, „angesichts all der hoffnungsvollen Möglichkeiten, die das Ende des Kalten Krieges hervorgebracht hat, vornehmlich um die Frage gehen, wer sich mit wem – und implizit gegen wen – verbündet“. Und das im Hinblick auf einen „herbeiphantasierten, völlig unvorhersehbaren und höchst unwahrscheinlichen künftigen Konflikt“.

Ein Vierteljahrhundert später bleibt die Frage aktuell, was der Westen dazu beigetragen hat, dass ein „höchst unwahrscheinlicher Konflikt“ kein Phantasterei, sondern Realität ist. Kennan war kein Pazifist, kein Linker und auch kein Freund der Sowjetunion. Er hatte nach dem Zweiten Weltkrieg das Konzept der „Eindämmung“ gegen den gegnerischen Ostblock konzipiert. Ein Plan, der auf militärischer Ebene damals die Doktrin der „massiven Vergeltung“ beinhaltete, die der 1949 gegründeten Nato von ihrer Führungsmacht vorgegeben wurde. Diese Vergeltungsdoktrin sah vor, dass die USA selbst bei einem lediglich konventionellen Angriff sowjetischer Truppen gegen die Bundesrepublik oder andere Nato-Staaten sofort ihre strategischen Atomwaffen gegen Ziele in der Sowjetunion einsetzen sollten. 

Ende der 1960er Jahre wurde diese Doktrin durch die „flexible Antwort“ abgelöst, die bei einem Angriff sowjetischer Truppen zunächst „nur“ einen Gegenschlag mit in Westeuropa stationierten taktischen Atomwaffen vorsah.

Kennan wirkte von 1926 bis 1963 als Diplomat und zuletzt als außenpolitischer Chefberater der Regierung Kennedy. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er in Talin, Riga und Moskau stationiert gewesen, 1939 in Prag dann bis 1942 in Berlin und 1944/45 erneut in Moskau. Er sprach fließend Russisch und hatte – auch in Berlin – russische Geschichte studiert. Sein analytisches Verständnis für die russischen Sicherheitsbedürfnisse und -interessen beruhte auf seiner Kenntniss des Landes und speziell seiner historischen Traumata. 

Das unterscheidet einen intelligenten Veteranen aus Zeiten des Kalten Krieges von vielen Kommentatoren, die in den aktuellen Debatten über Russland und seinen Präsidenten Putin ohne historische Kenntnisse daherreden. Und dabei die Erfahrungen und Lehren aus der Ost- und Entspannungspolitik der sechziger und siebziger Jahre nicht etwa relativieren oder überprüfen, sondern vollständig entsorgen wollen. 

„Legitime russische Sicherheitsinteressen“

Aber nicht nur Kennan hatte in den 1990er Jahren vor einer Nato-Ost-erweiterung gewarnt. Auch andere Diplomaten und Politiker der USA mahnten damals an, die „legitimen Sicherheitsinteressen“ Moskaus zu berücksichtigen. 

Was die deutsche Debatte betrifft, so kritisierte im September 1995 Peter Glotz, vormals SPD-Generalsekretär, in einem „Spiegel“-Essay mit dem Titel „Saftige Dummheit“ die Osterweiterungspläne mit Argumenten, die bereits die Warnungen Kennans vorwegnahmen: „Das zieht eine neue, willkürliche Grenze durch Osteuropa, stärkt die großrussischen Kräfte in Moskau, gefährdet die Abrüstungsvereinbarungen mit Russland und schwächt die Entscheidungsfähigkeit des Bündnisses.“

Mit der Invasion in der Ukraine demonstrieren „die großrussischen Kräfte in Moskau“ nicht nur, dass sie sich durchgesetzt haben. Sie zeigen auch, dass sie zu vormals unvorstellbaren Risiken bereit sind. Wie steht es angesichts dessen um die „Entscheidungsfähigkeit“ des westlichen Bündnisses? 

Nach Artikel 51 der UNO-Charta hat die von Russland angegriffene Ukraine das Recht auf militärische Selbstverteidigung. Desgleichen erlaubt die Charta eine militärische Unterstützung durch Streitkräfte anderer Staaten, wenn diese von der Kiewer Regierung erbeten wird. Das wird allerdings nicht geschehen. Für die Nato-Staaten scheidet diese Option angesichts des Risikos einer nuklearen Eskalation aus. Deshalb wird auch die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine abgelehnt.

Jenseits der von der EU, den USA und anderen Staaten verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind daher Waffenlieferungen an die ukrainischen Streitkräften das einzige Mittel, um der Ukraine militärisch beizustehen. 

Die USA haben die ukrainischen Streitkräfte bereits seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 mit Waffen und militärische Ausrüstung beliefert. Seit Dezember 2021 haben auch andere Nato-Staaten, wie Großbritannien, Kanada und die Niederlande, mit Waffenlieferungen begonnen. Sie reagierten damit auf den bedrohlichen Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze. 

Deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine

Drei Tage nach Kriegsbeginn revidierte auch die deutsche Regierung ihre zuvor ablehnende Haltung und kündigte die sofortige Lieferung von Panzerfäusten und Luftabwehrraketen an die ukrainischen Streitkräfte an. Unter dem Druck der Ereignisse endete damit eine langjährige Debatte, in der das Pro und Contra immer stark von historischen Argumenten dominiert war. Bis zur Kehrtwende der Bundesregierung hatte insbesondere Außenministerin Annalena Baerbock deutsche Waffenlieferungen mit Verweis auf eine „besondere historische Verantwortung“ abgelehnt. 

Auch im Fall der Ukraine verwies Baerbock auf die über acht Millionen Menschen, die während des Vernichtungskriegs der Nazi-Wehrmacht gegen die Sowjetunion auf ukrainischem Boden getötet wurden. Dagegen argumentierte der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrey Melnik, genau umgekehrt. Gerade wegen dieser historischen Schuld habe Deutschland nunmehr eine „besondere Verantwortung“, seinem Land bei der „Selbstverteidigung gegen die heutigen Agressoren“ mit Waffenlieferungen beizustehen.

Baerbock brachte allerdings ein zweites Argument vor, das weitaus problematischer ist: Deutschland verfolge „traditionell eine restriktive Rüstungsexportpolitik“ und liefere „grundsätzlich keine Waffen in Spannung-und Krisengebiete“. Beide Behauptungen sind nachweislich falsch. 

Zum einen ist Deutschland nach dem Sipri-Report vom März 2021 der weltweit viertgrößte Rüstungsexporteur (nach den USA, Russland und Frankreich und noch vor China). Zum zweiten gingen umfangreiche Waffenlieferungen – entgegen der geltenden Rechtslage – nicht nur in Spannungs- und Krisengebiete wie die Türkei, sondern sogar an kriegsführende Staaten wie Saudi-Arabien, das militärisch im Jemen engagiert ist.

Jenseits einer militärischen Unterstützung sind wirtschaftliche Sanktionen das einzige Mittel, um auf einen Angriffskrieg zu reagieren. Im aktuellen Fall bleibt allerdings abzuwarten, was die Maßnahmen, die seit Beginn des Ukraine-Kkrieges von den USA, der EU und anderen Staaten gegen Russland verhängt wurden, mittel- und langfristig bewirken können – und wie hoch die Kosten für die sanktionierenden Länder sind. Dabei ist die große Frage, ob die Sanktionen die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machteliten des Landes derart hart treffen, daß sie sich von Präsident Putin abwenden. Und womöglich sogar so weit gehen, ihn durch eine andere Figur zu ersetzen, die den Krieg beendet, aber weiterhin ihre Privilegien sichert. 

„Regime Change“ in Russland?

Völkerrechtlich problematischer wäre die Kalkulation, dass die Sanktionsmaßnahmen die Bevölkerung schmerzen sollen, um sie gegen den heutigen Präsidenten aufzubringen. Was den berühmten „Regimewechsel“ bedeuten würde, den Putin dem Westen ohnehin als Ziel unterstellt. 

Eine solche Strategie wäre aber ohnehin nur dann erfolgversprechend, wenn es in Russland eine gut organisierte und handlungsfähige demokratische Opposition gäbe, die nach einem Sturz Putins die Regierung in Moskau übernehmen könnte, um sich anschließend durch Wahlen eine demokratische Legitimität zu verschaffen.

Leider gibt es derartige Oppositionskräfte nicht. Was aber kein Wunder ist angesichts der systematischen Repression und Ausschaltung oppositioneller demokratischer Personen, Gruppen und Organisationen, die von der Regierung Putin seit Jahren als „ausländische Agenten“ denunziert werden.

Seit dem Ende des Kalten Krieges ist zwar immer wieder von einer „Europäischen Friedensordnung“ die Rede. Doch so etwas gibt es nicht. Es gab bislang lediglich eine teileuropäische Friedensordnung und dies in dauernder Spannung und in den letzten mindestens 15 Jahren in zunehmender Konfrontation mit Russland. 

Doch eine nachhaltige , dauerhafte und möglichst spannungs-und störungsfreie Friedensordnung auf dem eurasischen Kontinent kann und wird es nicht geben ohne Russland und schon gar nicht gegen Russland. Dafür spricht alle historisch Erfahrung nicht nur aus den bald 33 Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer, sondern mindestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Nur wenn der Westen diese historische Erfahrung endlich akzeptiert und seine seit dem „Sieg im Kalten Krieg“ anhaltende Hybris endlich überwindet, besteht eine Chance für eine derartige Friedensordnung.

Andreas Zumach ist Journalist und langjähriges DFG-VK-Mitglied.

Kategorie: Titel Stichworte: 202201, Nato, Russland, Ukraine, Ukraine-Krieg, ZUmach

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