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Pazifismus

17. Januar 2023

„Eine Supermacht Europa verhindern“

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 4-22/1-23

Ukraine-Krieg

Zur Rolle der USA in der Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs

Von Urania Grudzinski

Von den drei atomaren Großmächten USA, China und Russland streben die USA offen die globale Vorherrschaft auf allen Ebenen an, in Strategiepapieren des Pentagon „Full Spectrum Dominance“ genannt. („Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Weltherrschaft.“ Zbignew Brzezinski, Chefberater von fünf US-amerikanischen Präsidenten)

Mit großem Abstand sind sie die am meisten hochgerüstete Nation der Welt mit etwa 800 ausländischen Militärstützpunkten in mehr als 70 Ländern und knapp 40 % der weltweiten Rüstungsausgaben. Nach 1990 forcierten sie die Aufnahme weiterer 14 Länder in die Nato, nach dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien wurde der größte europäische US-Militärstützpunkt im Kosovo eingerichtet wie auch weitere in anderen Ländern. Im Dezember 2001 kündigten die USA einseitig den seit 1972 bestehenden ABM-Vertrag, am 1. Februar 2019 den INF-Vertrag. (Anm. d. Red.: ABM = Anti-Ballistic Missiles; Rüstungskontrollvertrag zwischen den USA und der Sowjetunion. INF = Intermediate Range Nuclear Forces; Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme zwischen den USA und der Sowjetunion)

„Amerika muss auf globaler Ebene stets die Führungsrolle übernehmen. Die Vereinigten Staaten werden Militäraktionen nutzen, wenn notwendig auch unilateral (Anm. d. Red.: im Alleingang), wenn unsere Kerninteressen es erfordern“, so US-Präsident Obama Ende 2014 in einer Grundsatzrede an der Militärakademie in West Point. 

Solche unilateralen, völkerrechtswidrigen Militäraktionen und Kriege der USA, offen oder verdeckt, gab es seit 1945 dutzendweise. Eine weitere Art von Einsätzen erläutert George Friedmann, us-amerikanischer Geostratege, Politologe und Sicherheitsexperte, Begründer der Stratfor-Denkfabrik, die auch als „Schatten-CIA“ bezeichnet wird. 

Wer wenig Zeit hat, weiß nach diesem Zitat Bescheid: „Die USA kontrollieren alle Weltmeere. Keine Macht hat das jemals getan. Daher können wir in andere Länder einmarschieren, aber sie können nicht bei uns einmarschieren. Das ist eine sehr schöne Sache… Das Ziel der us-amerikanischen Politik ist es, eine europäische Supermacht und die Annäherung zwischen Deutschland und Russland zu verhindern… Am besten wäre es, wenn beide Länder sich gegenseitig schwächen. Ich empfehle eine Technik, die von Präsident Ronald Reagan eingesetzt wurde gegen Iran und Irak: Er unterstützte beide Kriegsparteien! Dann haben sie gegeneinander und nicht gegen uns gekämpft. Das war zynisch und amoralisch, aber es funktioniert. Man muss die Rivalitäten unter den Einheimischen schüren und Waffen in die Ukraine liefern.“ (Vortrag vor dem Council of Chikago am 4.2.2015, komplette Rede über seniora.org oder youtube)

Beeinflussung der Ukraine in Richtung Westen und Förderung von Russenfeindlichkeit

In der Öffentlichkeit ist wenig bekannt, dass die USA mittels ihres Auslands-Geheimdienstes CIA bereits seit den 1950er Jahren in der Ukraine aktiv waren. Vor allem mit Hilfe von Mykola Lebed, von der Gestapo ausgebildet und ehemaliger Sicherheitschef des faschistischen Nationalisten Stepan Bandera, wurde im Kalten Krieg Einfluss auf die Ukraine genommen. 

Unter Ronald Reagan und seinem Wahlkampfmanager und späteren CIA-Chef William Casey wurden die verdeckten Programme zur Meinungsbeeinflussung in eine gemeinnützige Stiftung namens „Nationale Stiftung für Demokratie“ (NED) ausgelagert, die formell eine private Einrichtung war, aber vom Außenministerium finanziert wurde. 2012 ließ die Stiftung 3,4 Millionen Dollar zur „Demokratieförderung“ in die Ukraine fließen. Nach 1991 investierten ie USA insgesamt fünf Milliarden Dollar für den „Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie“.  

Wahlbeeinflussung zugunsten westlich orientierter Politiker

Nach der Unabhängigkeit der Ukraine schossen diverse US-Institute wie Pilze aus dem Boden.  Mit viel Geld und medienwirksamen Auftritten wie z.B. auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 wurden die westlich orientierten Oppositionspolitiker Petro Poroschenko, Arsenij Jazenjuk und Vitali Klitschko über die Jahre unterstützt.

So erhielt beispielsweis eein „National Democratic Institute for International Affairs“ 370 000 Dollar für Wahlbeobachter, die die Wahl des Milliardärs Poroschenko im Mai 2014 laut NED „freier und sicherer“ machen sollten. Präsident Poroschenko versprach dafür bei Amtsantritt, für die Mitgliedschaft der Ukraine in die Nato zu kämpfen, für die es zum Zeitpunkt seiner Wahl keinerlei Mehrheit in der Bevölkerung gab. 

In der Verfassung von 1991 war Neutralität der Ukraine verankert. 

Als „Schokoladenkönig“ führte Poroschenko entgegen seinem Versprechen die Unternehmens-Geschäfte weiter und konnte sich entsprechend mangelhaft den dringenden Problemen des Landes widmen. Inzwischen steht er unter Anklage mit mehr als 20 Ermittlungsverfahren, u.a. wegen Korruption. 

Illegaler Putsch in der Ukraine im Februar 2014

Im November 2013 weigerte sich der rechtmäßig gewählte Präsident der Ukraine, Wiktor Janukowytsch, ein Russland ausschließendes Assoziierungsangebot mit der EU zu unterzeichnen. 

Im Januar 2014 kam es zu Unruhen und Demonstrationen auf dem zentralen Maidanplatz in Kiew. Janukowytsch unternahm konkrete Schritte zur Entspannung der Lage. Seine Regierung trat zurück und er bot den Oppositionsführern an, in den verbleibenden Monaten bis zur Wahl 2015 die Macht zu teilen, alles sah nach Kompromiss und Entspannung aus.

Überraschend kam es am 18. Februar zu massiven Gewaltausbrüchen, mehrere tausend Menschen drangen zum Parlamentsgebäude vor. Durch Gewalttäter des rechten Sektors wurde die Parteizentrale von Janukowytsch mit Molotowcocktails attackiert, Polizisten wurden mit Steinen beworfen und Autos in Brand gesteckt. Es gab Tote auf beiden Seiten und viele Verletzte. 

Regierungswechsel durch Scharfschützen

Wie der deutsche Korrespondent Moritz Gathmann berichtete, waren am Morgen des 20. Februar 2014 aus der Westukraine Busse mit militanten Extremisten angekommen, die dort am Vortag aus einer Kaserne Waffen gestohlen hatten. Sie stürmten zusammen mit Kämpfern der Opposition die Polizeibarrikaden. Zusätzlich schossen bis heute nicht identifizierte Scharfschützen, offenbar Berufskiller, sowohl auf Demonstranten als auch auf Sicherheitskräfte und richteten ein Blutbad an.

Jede Seite musste annehmen, die andere schieße auf sie: Chaos, Wut  und Gewalt eskalierten weiter. Wiktor Janukowytsch floh nach Russland und bat um Asyl. (FAZ, 6.3.2014: Schüsse in den Rücken. Canadian School of Polital Studies, University Ottawa: The Snipers Massacre on the Maidan in Ukraine, 3.9.2015, S.65)

Eine Übergangsregierung von vormals Oppositionellen und anderen Nato-Befürwortern wurde installiert. Einer ihrer ersten Erlasse war, Russisch als Amtssprache abzuschaffen.

Inzwischen muss auf Basis der verfügbaren historischen Berichte und Dokumente davon ausgegangen werden, dass die USA den Putsch organisiert hatten. Der frühere CIA-Offizier Ray McGovern: „Es war ein vom Westen gesponserter Putsch, es gibt kaum einen Zweifel daran. Die USA haben die Regierung in der Ukraine gestürzt, und Viktoria Nuland hat im Außenministerium die Fäden gezogen, zusammen mit dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt.“ Belegt wird diese Darstellung u.a. durch ein abgehörtes Telefonat der beiden letztgenannten Personen, in dem es zu dem irritierenden Ausspruch der Nuland kam: „Fuck the EU“.  (Rheinische Post online, 6.3.2014: Abgehörtes Telefonat sorgt für Aufsehen.)

Diese Sachverhalte werden z.B. in den Bestsellern „Wir sind immer die Guten“ der freien Journalisten Bröckers/Schreyer und „Eiszeit“ von Prof. Dr. Krone-Schmalz sowie in „Illegale Kriege“ des unabhängigen Schweizer Historikers und Friedensforschers Dr. Daniele Ganser weitgehend übereinstimmend erläutert und mit umfangreichen, präzisen Quellenangaben verifiziert. Die gängigen Medien berichten selten über diese Vorgänge, verbreiten Fake-News bis zur Tatsachenverdrehung ins Gegenteil. Über den Boxer und Oppositionspolitiker Vitali Klitschko glaubte die Bildzeitung sofort nach dem Massaker zu wissen, dass es Sicherheitskräfte von Präsident Janukowitsch waren, die in die Menge geschossen hätten. Dabei war der bereits zurückgetreten und konnte nun wirklich kein Interesse an einer Eskalation haben. („Die Welt darf nicht zuschauen, wie ein Diktator sein Volk abschlachtet.“  Die Klitschko Kolumne, Bild, 20.2.2014) 

Ina Kirsch, Ex-Direktorin des European Centre for a Modern Ukraine: „Viele der Demonstranten waren bezahlt. Es gibt Leute wie den US-Milliardär George Soros, die Revolutionen finanzieren. Soros hat auch den Maidan unterstützt, hat dort Leute bezahlt – die haben in zwei Wochen auf dem Maidan mehr verdient als während vier Arbeitswochen in der Westukraine.“ 

Legale Sezession der Krim

Namhafte Staats- und Völkerrechtler sind der Ansicht, dass es sich nicht um eine Annexion, also den gewaltsamen Gebietserwerb eines Staates auf Kosten eines anderen, handelte. Eine Sezession ist die Loslösung einzelner Landesteile aus einem bestehenden Staat mit dem Ziel, einen neuen souveränen Staat zu bilden oder sich einem anderen Staat anzuschließen. Z.B. ist dies möglich, wenn eine neue Regierung eine ethnische Gruppe maßgeblich benachteiligt. 

Der deutsche Staatsrechtsprofessor Karl Albrecht Schachtschneider stellt fest: „Es handelt sich klar um eine Sezession, nicht um eine Annexion. Nach dem Putsch und der gewaltsamen Übernahme durch aufständische Kräfte in Kiew hat die Krim das Recht gehabt, ein Referendum durchzuführen und sich Russland anzuschließen.“ (Siehe auch Wikipedia, UN-Charta, Art.1, 2, 51  Selbstbestimmungsrecht der Völker)

Bürgerkrieg und Aufrüstung der ukrainischen Armee

Nach dem gewalttätigen, völkerrechtswidrigen Putsch in Kiew wollten weite Teile der Bevölkerung im Osten und auf der Krim die neue Regierung nicht anerkennen und erklärten ihre Autonomie zu Volksrepubliken. 

Danach eskalierte der Konflikt zu einem bewaffneten Bürgerkrieg, die US-/Nato-Regierungen taten wenig Effektives, um die Abkommen Minsk I und II über einen Waffenstillstand und eine friedliche Wiedervereinigung zu forcieren. Der 2019 mit dem Wahlversprechen, Frieden zu schaffen, angetretene Präsident Selenskij machte im März 2021 eine 180-Grad-Wende und erließ ein Dekret zur militärischen Rückeroberung der Krim und der Donbas(s)-Region (Anm. d. Red.: Donbas, ukrainisch Донбас; Donbass, russisch Донбасс). Die Truppen wurden zur größten europäischen Landstreitmacht aufgerüstet, von USA/Nato mit Ausbildern und Waffen versorgt, die rassistischen Asow-Brigaden und andere paramilitärische und kriminelle Banden waren ebenfalls willkommen. 

Im Dezember 2021 forderte Russland ultimativ Verhandlungen über das Ende der Kampfhandlungen, denen inzwischen etwa 14 000 ZivilistInnen zum Opfer gefallen waren, sowie über die russischen Bedenken zu einem Nato-Beitritt der Ukraine. Statt auf diese Bemühungen der russischen Regierung einzugehen, wurde eine Offensive der ukrainischen Zentralregierung auf Donesk und Luhansk gestartet. Die OSZE registrierte, dass die Attacken an der Front auf die „Volksrepubliken“ seit Anfang Februar massiv zunahmen, von einem Dutzend Waffenstillstandsverletzungen in den Monaten zuvor auf über 1 000 pro Tag. Daraufhin erkannte die Russische Föderation die beiden „Volksrepubliken“ an, schloss mit ihnen ein Verteidigungsbündnis und marschierte am 24. Februar 2022 ein.

Der geopolitische Zusammenhang ist wichtig

Mit diesem Text soll keineswegs der russische Angriff gerechtfertigt, aber in einen globalen, geopolitischen Zusammenhang gestellt werden, aus dem hervorgeht, dass hier ein Stellvertreterkrieg zwischen USA und Russland um die Ukraine stattfindet. Und dass es Russland nicht um eine imperiale Ausdehnung geht, sondern um seine Sicherheitsinteressen und den Schutz russischstämmiger Ukrainer. 

Würden auch die Ukraine und Georgien wie von Präsident Bush bereits 2008 auf dem Nato-Gipfel in Bukarest gefordert, in die Nato aufgenommen, wäre das gesamte europäische Russland bis auf Belarus von Nato-Staaten eingekreist. 

Angesichts der völkerrechtswidrigen Angriffskriege von USA und Nato allein in den letzten 25 Jahren sind Befürchtungen Russlands um seine Sicherheit verständlich.   

Wir als Teil der Friedensbewegung sind für sofortige Beendigung der Waffenlieferungen, für  Waffenstillstand und Verhandlungen. Mit dem Wissen um die obengenannten Geschehnisse sollten wir die eigene Regierung in die Pflicht nehmen, Frieden zu vermitteln unter Anerkennung der russischen und ostukrainischen Sicherheitsinteressen. 

Erinnern wir an die offensichtlich vergessene Charta von Paris 1990, die von den Staats- und Regierungschefs der USA, Kanadas und Europas inklusive Russlands unterzeichnet wurde mit der zentralen Verpflichtung, Mechanismen zur Verhütung und Beilegung von Konflikten zwischen Teilnehmerstaaten zu schaffen: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden.“  

Urania Grudzinski ist seit Jahrzehnten in der Friedens- und der Anti-Atom-Bewegung aktiv. Seit dem Frühjahr 2022 ist sie DFG-VK-Mitglied.
In der Online-Veröffentlichung der ZivilCourage werden die hier nicht abgedruckten Quellenangaben genannt.

Kategorie: 2022, 2023, Pazifismus, Titel Stichworte: Pazifismus, Schulze von Glaßer, Ukraine-Krieg

16. Januar 2023

Zweifel sind keine Schande

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 4-22/1-23

Leitartikel

Von Ernst Rattinger

Es ist wieder Krieg in Europa, kein kalter, sondern ein Krieg mit allen seinen Schrecken und Verbrechen. Und wieder werden wir vorwurfsvoll gefragt „Wo bleibt die Friedensbewegung?“, als ob „die Politik“ mit dem roten Knopf den Krieg einschalten würde und die Friedensbewegung wäre für das Ausschalten zuständig. Sicher, es ist richtig, auf die politischen Entscheider einzuwirken, dieses zu tun und jenes zu lassen. Kampagnen, Lobbyarbeit, Petitionen sowie öffentlichkeitswirksame Aktionen gehören dazu. Doch unsere Aufgabe fängt viel früher an; lesen wir zur Erinnerung die WRI-Grundsatzerklärung, die wir alle mit dem Beitritt zur DFG-VK unterschrieben haben: „Der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten.“

Auf die Beseitigung aller Kriegsursachen im weitesten Sinne können sich sicher alle verständigen, denn dazu gehört all das, was die Menschen entzweit: Ungerechtigkeit, das Gefühl von Unterlegenheit und Ohnmacht, Feindbilder sowie Hass in allen denkbaren Ausprägungen und noch manches mehr. 

Wenn es aber darum geht, das erste Versprechen einzulösen, nämlich keine (!) Art von Krieg zu unterstützen, also auch den Verteidigungskrieg, wird es für viele Menschen schwierig, auch für überzeugte Pazifisten. Wer hat das bei Kundgebungen kurz nach Beginn des Ukrainekrieges nicht erlebt: Am Ende der Veranstaltung kommen verzweifelte Menschen aus der Ukraine und betteln darum, ihrem Land Waffen zu liefern. Aus pazifistischer Sicht wird man das ablehnen, auch wenn ein Rest von schlechtem Gewissen bleibt. Und diese innere Zerrissenheit beherrscht nicht wenige in der DFG-VK und der Friedensbewegung insgesamt; soviel Ehrlichkeit muss sein, auch wenn es weh tut.

Was tun? Erkennen wir unsere Möglichkeiten und ihre Grenzen sowie unsere Fehler. Fast allen ist inzwischen klar, dass der Ukrainekrieg nicht mit dem verbrecherischen Angriff Russlands im Februar 2022 begonnen hat, sondern dass da eine Entwicklung über Jahrzehnte hinweg kritisch reflektiert werden muss. Die ganzen Zumutungen seitens der von den USA dominierten Nato gegenüber Russland müssen an dieser Stelle nicht wieder aufgezählt werden und auch nicht das durchaus konfrontative Vorgehen der ukrainischen Politik gegenüber den russischsprachigen Menschen im Lande. Haben wir diese Vorgänge in ihrer Bedeutung immer richtig eingeschätzt und uns entsprechend vernehmbar positioniert?

Nun zu unseren Möglichkeiten. Unser Name DFG-VK signalisiert, dass wir für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung eintreten, in der Ukraine, in Russland und überall auf der Welt. Auf diesem Gebiet geschieht schon einiges, aber es könnte sehr viel mehr sein. Machen wir der Bundesregierung Druck, dass die Grenzen für Deserteure geöffnet werden.

Und schließlich noch ein Wort an diejenigen unter uns, denen angesichts dieses Krieges der Pazifismus zweifelhaft geworden ist: Unsere Grundüberzeugung wird nicht dadurch falsch, dass andere Kriegsverbrechen begehen. Und: Zweifel sind keine Schande.

Ernst Rattinger ist seit Jahrzehnten in der DFG-VK aktiv und der Vertreter des Landesverbands Baden-Württemberg im Bundesausschuss.

Kategorie: 2022, 2023, Leitartikel, Pazifismus Stichworte: Connection e.V., Leitartikel, Pazifismus, Rattinger, Ukraine-Krieg

16. Januar 2023

Warum Pazifismus wichtiger denn je ist

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 4-22/1-23

Titel

Von Michael Schulze von Glaßer

24. Februar hat Russland einen Angriff auf die Ukraine begonnen – seit 10 Monaten tobt der Krieg nun schon: Zehntausende Menschen wurden getötet, hunderttausende verletzt und Millionen sind auf der Flucht. Die Bundesregierung hat wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffs eine „Zeitenwende“ angekündigt – hin in Richtung (zu noch mehr) Aufrüstung und Konfrontation: Der deutsche Militäretat soll dauerhaft ansteigen, der Bundeswehr wurden zusätzlich 100 Milliarden Euro für Aufrüstung genehmigt. Und die Ukraine werden schwere Waffen aus Deutschland exportiert.

Die reale Politik steht unseren Forderungen so deutlich entgegen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die DFG-VK und „die Friedensbewegung“ insgesamt sind scharfen Angriffe und einer leider häufig klischeebehafteten Berichterstattung ausgesetzt. Dabei zeigt der Krieg nur: Es gibt zum Pazifismus keine Alternative.

„Lumpen-Pazifisten“, so nannte „Spiegel“-Kolumnist Sascha Lobo diejenigen, die sich bei den diesjährigen Ostermärschen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aussprachen. Der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff bezeichnete die Organisator*innen der Ostermärsche pauschal als „fünfte Kolonne Putins“. Sie würden versuchen, die Ukraine zu schwächen. Für Protestforscher  Dieter Rucht war diese Aussage des Politikers laut „Spiegel-Online“ „blanker Unsinn“. 

Wir können dies bestätigen. So haben wir etwa in den vergangenen Jahren mehrfach vor der Botschaft der russischen Föderation in Berlin sowie vor den Konsulaten des Landes in verschiedenen Städten für Abrüstung – konkret etwa für den Erhalt des INF-Vertrags – demonstriert. 

Bei unserem Aktionstag gegen den Krieg in der Ukraine und die Aufrüstung am 19. November gab es abermals Proteste vor russischen Vertretungen. 

Und: Wir haben noch vor Kriegsbeginn bereits am 9. Februar in Berlin mit einer Friedensaktion an die russische Seite appelliert, zu verhandeln und den sich anbahnenden Krieg nicht weiter vorzubereiten. 

Wie viele Protestaktionen vor russischen Regierungseinrichtungen in Deutschland hat Herr Lambsdorff schon organisiert?

Der russische Überfall hat viele friedenspolitische Bemühungen der letzten Jahrzehnte zunichte gemacht

Mit dem Einmarsch Russlands am 24. Februar – und bereits 2014 mit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbas – hat Wladimir Putin nicht nur unendliches menschliches Leid verursacht, sondern auch friedenspolitische Bemühungen der letzten Jahrzehnte zunichte gemacht. Kriege brechen nicht aus. Vulkane brechen aus. Kriege hingegen sind menschengemacht. Sie haben – auf Fakten bezogen niedere und ablehnungswürdige – Motive und eine Vorgeschichte. Das bedeutet aber auch: Dieser Krieg wäre verhinderbar gewesen. Und eine an pazifistischen Grundsätzen und Vorstellungen orientierte Politik hätte diesen Krieg verhindert.

Denn dass es den aktuellen Krieg gibt, macht doch gerade das Versagen der europäischen Sicherheitspolitik deutlich – sowohl von russischer als auch von westlcher Seite. Es war doch gerade die Politik derjenigen, die den Pazifismus seit Februar angreifen, die es in 30 Jahren nach Ende des Kalten Kriegs nicht geschafft hat, dauerhaft Frieden in Europa herzustellen. Die Sicherheitsinteressen aller (!) osteuropäischer Staaten hätten beachtet und eine gemeinsame Sicherheitspolitik unter Einschluss Russlands geschaffen werden müssen. Der Abbau bis hin zu einem Verbot von Atomwaffen hätte vorangetrieben werden müssen, genauso wie ein strikter Rückbau von Waffenproduktion und -export. Das wäre nicht einfach gewesen – aber das sind Politik und Diplomatie eben häufig nicht. In den rund 50 Jahren des Kalten Kriegs von beiden Seiten gegeneinander propagierte und teilweise rassistische Feindbilder wurden nicht durchbrochen. 

Eine ideologiefreie Betrachtung ergibt, dass nicht nur die russische Seite Fehler gemacht hat, sondern auch die Nato ihre konfrontative Haltung gegen Russland nach dem Kalten Krieg kaum aufgegeben hat. Die Osterweiterung ist dafür ein Zeichen. Ebenso die bereits seit 2012 laufende Aufrüstung der Bundeswehr.

Diese hier nur kurz skizzierte Analyse steht nicht der klaren Feststellung entgegen, dass es Wladimir Putin ist, der den Angriffsbefehl gegeben hat und der für den Krieg verantwortlich ist. In unseren zahlreichen Veröffentlichungen zum Ukraine-Krieg haben wir den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands bereits scharf verurteilt. Und natürlich gehört jede und jeder, der solch ein Verbrechen begeht, vor Gericht gestellt.

Der Pazifismus und die Menschen, die ihn vertreten, sind aber nicht am Krieg schuld. Und wie die frühere EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann, die auch Mitglied bei uns ist, bereits im April sagte, ist es nicht gerecht, Menschen, die sich seit Jahrzehnten für Frieden einsetzten, vorzuwerfen, sie stünden auf der Seite Russlands.

Wir bleiben dabei: Keine Waffenlieferungen!

Seit Februar hat Deutschland 900 Stück der „Panzerfaust 3“ mit insgesamt 3 000 Geschossen, 500 Flugabwehrraketen „Stinger“, 100 000 Handgranaten, 30 000 Schuss Munition für 40-mm-Granatwerfer, 13 500 Schuss 155-mm-Artilleriemunition und vieles mehr an die Ukraine geliefert. Sogar schwere Panzer wie der „Mars“-Raketenwerfer und die „Panzerhaubitze 2000“ wurden an die Ukraine übergeben und werden von dieser im Kriegsgebiet eingesetzt. Der von der grünen Partei der heutigen Bundesaußenministerin Annalena Baerbock noch im letzten Wahlkampf verbreitete Grundsatz, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, ist damit ebenso endgültig obsolet wie die Bezeichnung „feministisch“ für diese neue deutsche Außenpolitik.

Natürlich befinden wir uns bei der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine in einem Dilemma: Die Menschen in der Ukraine werden angegriffen. Mit noch mehr Waffen können sie sich militärisch vermeintlich noch besser wehren. 

Damit ist bei vielen – auch bei der Bundesregierung – die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges verbunden: Man müsse nur genügend Waffen liefern, und schwuppdiwupp sei der Krieg beendet. 

Das ist eine Fehlannahme. „Frieden schaffen mit noch mehr Waffen“ funktioniert nicht – das haben zahlreiche westliche Militäreinsätze und großangelegte Waffenlieferungen in Konfliktregionen in der Vergangenheit immer wieder gezeigt. Und auch das Ende des Krieges in der Ukraine wurde von Befürwoter*innen der Waffenexporte schon häufig angekündigt, und immer und immer wieder erfüllte sich die Prophezeiung nicht. Das westliche Desaster in Afghanistan ist gerade mal ein Jahr her – und offensichtlich schon von vielen wieder vergessen.

Nicht alle russischen Soldaten stehen hinter der Kriegspolitik

Ein dramatischer politischer Beschluss, der zumindest in der Debatte um den Krieg in Deutschland zu mehr Reflexion geführt hat, war die Teilmobilmachung in Russland am 21. September: Erstmals wurde in der breiten deutschen Medienöffentlichkeit gezeigt, wer da überhaupt auf russischer Seite kämpft bzw. kämpfen muss. Natürlich ist das russische Militär der Angreifer. 

Das heißt aber nicht automatisch, dass alle russischen Soldat*innen hinter dem Einsatz stehen. Mittlerweile ist bekannt, dass Russland schon zu Kriegsbeginn auch Wehrpflichtige eingesetzt hat. Zudem sollen viele Soldat*innen schlecht oder gänzlich falsch informiert in den Einsatz geschickt worden sein; ihnen soll anfänglich etwa gesagt worden sein, dass es sich lediglich um eine Übung handele. Wie einseitig russische Medien über die „militärische Sonderoperation“ – allein diesen Krieg als solchen zu bezeichnen, steht in Russland unter Strafe – berichten, ist hinlänglich bekannt. 

Wenn nun russische Soldat*innen aufgrund von Propaganda und falscher Information in einen Krieg gedrängt oder gar gezwungen wurden und dort mit Waffen aus Deutschland getötet werden, ist das ein Problem. Und die Teilmobilmachung in Russland führte ab September zu einem Exodus junger Männer: Hunderttausende sollen in Nachbarländer geflohen sein, um nicht in der Ukraine töten zu müssen oder getötet zu werden. Es gab zahlreiche Anschläge auf Rekrutierungsämter und sogar bewaffnete Angriffe auf Rekrutierer*innen, die Verzweiflung bei vielen jungen Russen ist groß. Bis zur Teilmobilmachung fand das moralische Dilemma, welches entsteht, wenn Deutschland Waffen liefert, überhaupt keine Beachtung – nun immerhin ein klein wenig: Letztendlich werden mit den Waffen aus Deutschland Menschen getötet. 

Gemeinsam mit Connection e.V. und weiteren Friedensorganisationen fordern wir aktuell in einer Kampagne Schutz und Asyl in der Europäischen Union für Kriegsverweigerer*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine.

Wie viele Zweifler*innen und Soldat*innen, die eigentlich nicht kämpfen wollen, es in der russischen Armee gibt, ist nicht zu beziffern. Natürlich wird es auch viele Soldat*innen geben, die völlig hinter dem Einsatz stehen. Doch die Moral in Reihen des russischen Militärs soll schon seit April insgesamt schlecht sein. Nach den menschlichen- und den Geländeverlusten der letzten Monate dürfte sie darniederliegen. Dabei muss man sich immer bewusst sein: Wer im Militär – egal in welchem – den Befehl verweigert, dem drohen harte Konsequenzen. So sollen 60 russische Fallschirmjäger den Dienst verweigert haben – sie wurden entlassen, und ihnen drohen Strafanzeigen. Russische Deserteur*innen sollen aber auch schon erschossen worden sein.

Ebenfalls problematisch ist es, wenn auf ukrainischer Seite Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren, denen es aktuell verboten ist, das Land zu verlassen, dazu verpflichtet werden, eine Waffe – womöglich auch „Made in Germany“ – in die Hand nehmen zu müssen, um damit russische Soldat*innen zu töten. Wer deutsche Waffenexporte an die Ukraine billigt, nimmt all diese moralischen Dilemmata in Kauf – und letztlich noch mehr Tote.

Es steht ein lang anhaltender Konflikt zu befürchten

Auch wenn nicht klar ist, wie lange Wladimir Putin den Angriff auf die Ukraine führen will, so zeichnet sich ein langer Konflikt ab, der zunehmend brutaler wird. Nach zehn Monaten zeigt sich: Je länger die Kämpfe dauern, desto mächtigere Waffen werden eingesetzt.

Beim Angriff auf die Hafenstadt Mariupol im April setzte die russische Armee erstmals weitreichende Überschallwaffen ein. Es gibt Angriffe mit Raketen und ferngelenkten Drohnen – und auch der Einsatz von Atomwaffen scheint nicht mehr ausgeschlossen. Ebenso werden Massaker wie in Butscha wohl leider kein Einzelfall bleiben. Jeder Tropfen Blut, der in diesem Krieg vergossen wird, lässt eine Beilegung der Kämpfe in noch weitere Ferne rücken. Es ist nicht klar, welches Ziel Wladimir Putin nach den vielen Rückschlägen verfolgt – wann er die Waffen schweigen lässt.

Und was, wenn die ukrainische Seite dann einem Waffenstillstand nicht zustimmt und stattdessen ihrerseits versucht, die verlorenen Gebiete einschließlich der seit 2014 besetzten Gebiete in der Ost-Ukraine sowie die Krim zurückzuerobern? Und kommt es doch zu einem Waffenstillstand – da hat das Minsk-II-Abkommen gezeigt, wie brüchig dieser leider sein kann. Selbst wenn, was wir uns wünschen würden, der Krieg auf der Stelle endet, so wird der Konflikt noch Jahrzehnte andauern. Und je stärker beide Seiten hochgerüstet sind, desto grausamer wird jedes weitere Aufflammen sein. Waffenlieferungen werden diesen Konflikt nicht lösen. Das werden nur Verhandlungen.

Einmal in Umlauf gebrachte Waffen tauchen zudem immer wieder in Konflikten auf: Die von der Bundesregierung durchgeführten und geplanten Lieferungen an die Ukraine sind, soweit bekannt, nicht mit einer Rückgabepflicht nach Ende des Konflikts oder zumindest des Krieges verbunden. Bereits in anderen Konflikten tauchen immer wieder überraschend westliche Waffen auf, die ursprünglich an andere Gruppen geliefert wurden. In ihrem langen „Lebens“-zyklus sorgen die Waffen damit immer wieder für Leid und Tod. Waffenexporte sind unkontrollierbar und richten auch langfristig großen Schaden an.

Die Lieferung deutscher Waffen an die Ukraine birgt zudem die Gefahr, dass Deutschland selbst Kriegspartei wird; fern jeder völkerrechtlichen Definition liegt diese Bewertung auch an Wladimir Putin. 

Die Bundesregierung hat von 2014, dem Jahr der Krim-Annexion, bis 2020 bereits Waffenexporte in Höhe von 42 Millionen Euro in die Ukraine genehmigt. Wie viele davon tatsächlich geliefert wurde, ist öffentlich nicht bekannt. Bereits diese Lieferungen sowie die vieler weiterer westlicher Staaten, allein aus den USA gab es seit 2014 bis Anfang 2022 Lieferungen in Höhe von 2,7 Milliarden US-Dollar, haben nicht zu Frieden in der Region geführt. Und sie haben Wladimir Putin auch nicht von dem Versuch, die ganze Ukraine erobern zu wollen, abgehalten.

Wie schnell es gehen kann, vollständig in den Krieg hineingezogen zu werden, zeigte sich Mitte November, als bei einem Raketeneinschlag auf dem Gebiet des Nato-Staates Polen nahe der ukrainischen Grenze zwei Menschen starben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte umgehend Russland verantwortlich. Würde sich dies bestätigen, könnte der Nato-Bündnisfall eintreten: Dann würde zwischen der Nato und Russland Krieg herrschen.

Auch die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann machte umgehend Russland für die todbringende Rakete verantwortlich: „Das ist das Russland, mit dem hier einige offenkundig und absurderweise immer noch ‚verhandeln‘ wollen“, schrieb die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag auf Twitter. Schnell stellte sich aber heraus, dass es keine russische, sondern eine wohl verirrte ukrainische Flugabwehrrakete war, die in Polen eingeschlagen war. Selenskyj hielt an der russischen Täterschaft fest, selbst als schon die Nato von einer Rakete aus der Ukraine sprach. 

Die ukrainische Regierung hat durchaus ein Interesse daran, weitere Länder in den Konflikt zu ziehen. Das sollte man, bei aller Nachvollziehbarkeit der Situation der ukrainischen Regierung, nicht vergessen. Dabei würde ein direkter Krieg der Atommacht Russland mit der atomar bewaffneten Nato niemand helfen, denn dann wäre alles verloren.

Das Nein zu Waffenlieferungen mitten in einen Krieg hat die Bundesregierung am 27. Februar 2022 aufgegeben. Doch welchen Grundsätzen folgt die Bundesregierung nun in ihrer Waffenexportpolitik? Sie hat in all den Monaten des Ukraine-Kriegs nicht begründet, warum die Lieferungen an die Ukraine gerechtfertigt sind, Waffenexporte in andere Kriegsregionen hingegen weiter strikter gehandhabt oder gänzlich verboten werden. Bekommen bald auch die Kurd*innen in Rojava Waffen aus Deutschland, damit sie sich gegen die Mitte November wiederentfachten völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei, die noch immer Nato-Mitglied ist, wehren können? Gerade greift die Türkei sogar auf syrischem und irakischem Staatsgebiet an. Die Ukraine-Lieferungen könnten Türöffner für eine vollkommen enthemmte Waffenexportpolitik sein. Wenn die Bundesregierung in Zukunft Waffenexporte in andere Kriegsregionen ablehnt, muss sie sich wiederum den Vorwurf einer – womöglich rassistischen – Ungleichbehandlung gefallen lassen.

Wir helfen den Opfern des Krieges – gewaltfrei! 

All diese Argumente werden in der aktuellen Debatte kaum gehört. Ganz im Gegenteil werden deutsche Waffenlieferungen oft als alternativlos dargestellt. Wenn wir also keine Waffen liefern wollen, lassen wir die Menschen, die wegen des Konflikts leiden, dann im Stich? Nein! Wie helfen auf vielfältige Weise, und es gibt viele Wege, die Situation für die vom Krieg Betroffenen zu verbessern:

  • Viele unserer Mitglieder sind in der Flüchtlingshilfe aktiv: Sie sammeln Spenden, unterstützen bei der Vermittlung von Wohnungen an Geflüchtete und vieles mehr. Diese direkte Hilfe verbinden wir gleichzeitig mit den politischen Forderungen an Russland, Fluchtkorridore zu ermöglichen, und an die EU, weiterhin Schutzsuchende aufzunehmen.
  • Seit Beginn des russischen Einmarschs haben DFG-VK-Aktive in zahlreichen Städten unzählige Antikriegs-Proteste organisiert: Diese – vor allem die von uns mitorganisierten Proteste am 27. Februar in Berlin mit einer halben Million Menschen, am 13. März in zahlreichen Großstädten mit über einhunderttausend Menschen und am 19. November in über 30 Städten – waren nicht nur ein starkes Signal für Frieden, sondern haben auch zur Organisation der Hilfsmaßnahmen für die vom Krieg Betroffenen beigetragen. Und die Antikriegs-Aktionen gehen weiter: Am 24. Februar 2023, dem ersten Jahrestag des Kriegsbeginns, soll wieder für Frieden und Abrüstung demonstriert werden.
  • Wir unterstützen Soldat*innen, die desertieren, und setzen uns für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung ein: Kein Mensch darf dazu gezwungen werden, andere Menschen zu töten. Wir setzen uns daher politisch dafür ein, dass diejenigen, die nicht töten wollen, Schutz finden können – egal, welche Nationalität sie haben. Dafür läuft die bereits erwähnte Kampagne. Und im Mai haben wir zur Unterstützung russischer Kriegsdienstverweigerer*innen im Rahmen unseres Bundeskongresses 8 000 Euro an ein Projekt der finnischen Friedensorganisation Aseistakieltäytyjäliitto (AKL; deutsch: Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen) und der russischen Organisation Движение сознательных отказчиков (MCO; deutsch: Bewegung der Kriegsdienstgegner*innen)gespendet. Damit soll jungen Russ*innen dabei geholfen werden, sich dem Dienst im Militär zu entziehen.
  • Schon lange stehen wir mit russischen Friedensaktivist*innen im Kontakt: Wir versuchen, sie zu unterstützen, was angesichts der Repression der russischen Regierung gegen sie leider schwierig ist. Aufgrund der Aussetzung des Swift-Zahlungsverkehrs können wir gerade auch keine finanzielle Unterstützung leisten. Den Friedensstimmen aus der Zivilgesellschaft sowohl in Russland als auch in der Ukraine versuchen wir eine Stimme zu geben.
  • Wir schließen uns den Forderungen der „Ukrainischen Pazifistischen Bewegung“ an: Es muss einen sofortigen Waffenstillstand geben. (Die ausführlichen Forderungen sind hier nachzulesen: https://bit.ly/3XxyWJD
  • Das ist es, was wir als Friedensorganisation mit unseren begrenzten Kapazitäten und Mitteln leisten (Unser Jahresetat entspricht ungefähr dem Betrag, den die Bundeswehr 2016 dafür ausgegeben hat, ihre Werbung auf Pizzakartons drucken zu lassen.). Doch Alternativen zum gewaltsamen Widerstand gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine gibt es noch viele weitere: 
  • Auch wenn dies hierzulande bisweilen als ketzerisch angesehen wird: Man muss mit Wladimir Putin verhandeln. Das ist eine schwere und unangenehme Aufgabe, aber sie wird nötig sein, um den Konflikt zu beenden. Und Diplomatie und Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien fanden sogar bereits statt: Es gab einige Treffen zwischen der russischen und ukrainischen Regierung. Kriegsgefangene wurden bereits mehrmals ausgetauscht. Im Juli kam ein, wenn auch fragiles, Abkommen über Getreideausfuhren der Ukraine zustande. Bei Verhandlungen könnten Deutschland und die EU der Ukraine auch die Rücknahme westlicher Sanktionen als Verhandlungsmasse gegenüber Russland in die Hand geben.
  • Wirtschaftssanktionen sehen wir als ein Mittel an, um Druck auf die russische Regierung sowie Profiteur*innen und Unterstützer*innen des Krieges auszuüben; diese müssen aber möglichst gezielt sein. Wir bekommen auch mit, wie die aktuellen Sanktionen die Arbeit russischer Oppositioneller zum Erliegen bringen. Sanktionen dürfen dabei nicht unter dem Vorbehalt eigener wirtschaftlicher Interessen stehen. Wenn der Krieg durch Sanktionen beendet werden soll, darf auf eigene Nachteile keine Rücksicht genommen werden.
  • Wir begrüßen den vielerorts geleisteten gewaltfreien Widerstand in der Ukraine: Wer besetzt ist, der ist noch lange nicht besiegt. Und die Möglichkeiten einer Sozialen Verteidigung sind auch angesichts der geringen sprachlichen und kulturellen Barrieren zwischen den Angreifern und den Angegriffenen gut.
  • In der Ukraine mangelt es an vielem: Wirtschaftsbetriebe sind zerstört, im Dezember brach nach gezielten russischen Angriffen vor allem die Energieversorgung immer wieder zusammen, die medizinische Versorgung ist nicht gut, und viele Regionen im Land sind mit Munitionsresten und mit Minen verseucht; finanzielle und zivile humanitäre Hilfe sowie Munitions- und Minenräumung sind Unterstützungsleistungen, die aus Deutschland kommen sollten. Oder, um es salopp zu sagen: Es müssen nicht immer Waffen sein.
  • Was Soldat*innen und ihre Befehlshaber*innen in der Ukraine angerichtet haben, muss aufgearbeitet werden: Es gibt bereits Ermittlungen, um Kriegsverbrechen wie in Butscha aufzuklären, Täter*innen zu ermitteln und sie dann zur Verantwortung ziehen zu können – doch auch hier ist noch Luft nach oben und Unterstützung wäre wichtig.

Dies waren nur einige Beispiele für Alternativen zu den moralisch fragwürdigen Waffenlieferungen. Einige davon werden, auch von uns, schon umgesetzt, andere könnten intensiver verfolgt und weitere überhaupt erst einmal begonnen werden.

Doch nicht nur über die Art der Hilfen für die Menschen in der Ukraine wird aktuell gestritten, sondern auch über Änderungen in der deutschen Sicherheitspolitik.

Die Aufrüstung der Bundeswehr ist falsch! 

Am 27. Februar hat Bundeskanzler Olaf Scholz ein 100-Milliarden-Euro-„Sondervermögen“ für die Bundeswehr angekündigt. Zwei Wochen später hat das Bundeskabinett diesem größten Aufrüstungsprogramm für das deutsche Militär seit dem Zweiten Weltkrieg zugestimmt. Für dieses „Sondervermögen“ wurde eigens das Grundgesetz geändert und im Artikel 87 ein Absatz 1a „zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit“ eingefügt. Diese damit verfassungsrechtlich erlaubte „Sonderverschuldung“ soll helfen, das 2-Prozent-Ziel der Nato zu erreichen – und noch mehr. 

Die FPD-Politikerin Agnes Strack-Zimmermann verbreitete dazu im Bundestag und in den Medien die Falschbehauptung, die Bundeswehr sei in den vergangenen Jahrzehnten „kaputtgespart“ worden. Dies ist angesichts einer Erhöhung des Bundeswehr-Etats von 31,9 Milliarden im Jahr 2012 auf 50,3 Milliarden Euro im Jahr 2022, also ein Plus von 58 Prozent, eine glatte Lüge. Dass die Bundeswehr Probleme mit Waffen und anderer Ausrüstung hat, ist schlicht Misswirtschaft. Gerade eine Partei wie die FDP sollte lieber hier ansetzen, als noch mehr Geld in dieses olivgrüne „schwarze Loch“ zu werfen. 

Doch was soll die Aufrüstung der Bundeswehr sicherheitspolitisch überhaupt bringen? Zunächst einmal: Wenn es zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland kommen würde, wäre er wohl schnell – spätestens, wenn die erste größere Stadt einer Seite zu fallen droht – atomar. Dies sehen sowohl die Doktrin der Nato als auch die Russlands vor. Dann nützen einem auch Panzerverbände, Drohnen und andere konventionelle Waffen wenig. Lässt man dies außer Acht, wie es aktuell viele regierende Politiker*innen machen, muss man sich den aktuellen Zustand der russischen Streitkräfte vergegenwärtigen. Putins Armee ist bedrohlich und gefährlich, das zeigen die Bilder der Toten und der Zerstörung aus der Ukraine. Zudem verfügt Russland über chemische, atomare und wohl auch noch immer über biologische Waffen. Der Plan der russischen Regierung, die Ukraine binnen weniger Tage einzunehmen, scheiterte aber kläglich.

Die russische Armee hat unvorstellbare Grausamkeiten begangen – und war doch weitaus schwächer als erwartet. Und die selbstentfachte Kriegsmühle schwächt das russische Militär weiter. Mittlerweile soll Russland über 1 400 Panzer und rund 2 500 gepanzerte Fahrzeuge in der Ukraine verloren haben. Laut – immer mit Vorsicht zu betrachtenden – britischen Angaben sollen mehr als 90 000 russische Soldat*innen im Krieg gegen die Ukraine getötet, vermisst oder schwer verletzt worden sein. Selbst wenn die reale Zahl nur bei der Hälfte davon liegen würde, wären das enorme Verluste. Die Teilmobilmachung und das Zurückgreifen auf Waffen aus dem Iran zeigt, wie groß die Probleme des russischen Militärs sind. 

So es um die konventionellen Streitkräfte geht, sollten die Bundeswehr und die mit ihr verbündeten Armeen dagegen mit einer gewissen, sofern man dies in einem Krieg sagen kann, „Leichtigkeit“ ankommen. Die Bundeswehr weiter aufzurüsten, ist also nicht nötig, selbst die ukrainische Armee kommt gegen die russische Armee an. Und auch wenn sich Russland aktuell bemüht, seine Verluste zu kompensieren, wird dies Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte dauern. Und die ökonomische Lage des Landes wird eine Aufrüstung weiter belasten, auch da gibt es Grenzen.

Ein anderes Argument der Aufrüstungs-Befürworter*innen ist Abschreckung. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist vollkommen inakzeptabel und muss sofort beendet werden. Es muss aber auch klar gesagt werden: Die Ukraine wurde angegriffen, nicht die Nato. Daher zeigt der Krieg nicht, dass die aktuelle Abschreckung unzureichend wäre (falls man sich überhaupt auf die fragwürdige Abschreckungs-„Logik“ einlassen möchte). 

Die Nato gibt deutlich mehr für Rüstung aus als Russland. Und ob die Militärausgaben der Nato die Russlands nun um den Faktor 18 (wie es 2021 der Fall war) oder 18,5 (wie es bald der Fall sein könnte) übertreffen, wird Putin egal sein. Aber die Symbolik der Aufrüstung der Bundeswehr und der weiterer Staaten wird Folgen haben: Russland wird ebenfalls (weiter) aufrüsten. Damit ist letztendlich niemandem geholfen. Und weder der Krieg in der Ukraine, noch die Auseinandersetzung zwischen Russland und den Nato-Staaten ist damit gelöst. Ganz im Gegenteil wird die Aufrüstung zu mehr Konflikten und Kriegen führen. Jeder Euro, Dollar oder Rubel, der ins Militär fließt, fehlt im Kampf gegen Menschheitsprobleme wie die Corona-Pandemie, die Klimakatastrophe oder die Armut. 

Sicherheitspolitisch bringt die Aufrüstung der Bundeswehr also nichts; sie wird letztlich nur zu mehr Unsicherheit führen. Sie ist blinder und hirnloser Aktionismus und eine teure Geldverschwendung. Trotz der Milliarden-Spritze fordern Militärpolitiker*innen schon jetzt noch mehr Geld für die Bundeswehr.

Fazit: Warum Pazifismus gerade wichtiger denn je ist

Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, führt am Pazifismus kein Weg vorbei. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist ein Verbrechen. Und dennoch ist Aufrüstung als Reaktion darauf kein Sachzwang. Für Deutschland gäbe es zahlreiche Möglichkeiten, den Menschen in der Ukraine humanitär und gewaltfrei zu helfen.

Wer hingegen Friedensgruppen, wie es zahlreiche politische Kommentator*innen und regierende Politiker*innen in den vergangenen Monaten taten, vorwirft, für das Leiden in der Ukraine mitverantwortlich zu sein, verdreht die Tatsachen und verkennt zudem den globalen Charakter der Forderung nach Frieden und Abrüstung. 

Wenn wir bei unseren Aktionen unser Ziel „Militär abschaffen!“ ausdrücken, meinen wir damit nicht nur das „eigene“ Militär, sondern auch die chinesische Volksbefreiungsarmee, die Streitkräfte der Russischen Föderation, die US-Armee und eben alle! Wenn wir uns für Kriegsdienstverweigerung einsetzen, meinen wir damit, dass alle, wirklich überall alle (!) Soldat*innen ihre Waffen niederlegen sollen. Wir setzen uns schon immer dafür ein, das – wenn auch sicherlich noch weit entfernte – Ziel einer Welt ohne Militär und kriegerische Gewalt zu erreichen. 

Die Sicherheitspolitik der letzten 30 Jahre, diejenige ganz Europas einschließlich der Russlands und der Ukraine, hat dieses Ziel nicht verfolgt und ist dadurch gescheitert. Die Realpolitik war weiter auf Konfrontation aus, so wie sie es auch heute von allen Seiten tut. Nun heißt es zu verstehen, was falsch gelaufen ist, was falsch läuft und was daraus zu lernen ist.

Natürlich hat Russlands Krieg eine pazifistische Welt in weite Ferne gerückt. Das darf uns aber nicht daran hindern, sie weiter als Menschheitsziel anzustreben. Es sind ja gerade diejenigen, die sagen, dass eine pazifistische Welt unerreichbar ist, die durch ihre Aufrüstung, ihre Waffenexporte sowie ihre Kriege eben den Grund dafür liefern, warum wir diesem Ziel seit Langem kaum näherkommen. 

Dies gilt auch für Deutschland: Statt besonnen und rational zu analysieren, macht die Bundesregierung einen sicherheitspolitischen Schnellschuss nach dem anderen und verbaut einer friedlichen Zukunft damit langfristig den Weg. Mitte Dezember wurde der Kauf neuer F35-Tarnkappenbomber endgültig beschlossen, um auch in den nächsten Jahrzehnten die letzten in Deutschland gelagerten US-Atomwaffen einsetzen zu können. Das wird die gegenseitige Bedrohung mit Massenvernichtungswaffen zementieren. 

Wir sollten – und dürfen! – uns aber nicht lähmen lassen: Unsere Positionen – so sehr sie auch in der Kritik stehen – sind richtig. Wir haben die besseren Argumente. Wir müssen uns genug Gehör verschaffen. Dafür sind wir auf allen politischen Ebenen aktiv!

Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Das Töten und das Sterben müssen beendet werden. Militarismus, Bellizismus und Nationalismus muss Einhalt geboten werden.

Michael Schulze von Glaßer ist politischer Geschäftsführer der DFG-VK.

Kategorie: 2022, 2023, Pazifismus, Titel Stichworte: Pazifismus, Schulze von Glaßer, Ukraine-Krieg

26. November 2022

Friedensagenda für die Ukraine und die Welt

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 3/2022

Pazifismus

Erklärung der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung vom 21. September

Wir, die ukrainischen Pazifist*innen, fordern und engagieren uns für die Beendigung des Krieges mit friedlichen Mitteln und dafür, das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu schützen.

Frieden, nicht Krieg, ist die Norm des menschlichen Lebens. Krieg ist ein organisierter Massenmord. Unsere wichtigste Pflicht ist, dass wir nicht töten. Heute, wo der moralische Kompass überall verloren geht und die selbstzerstörerische Unterstützung für Krieg und Militär zunimmt, ist es besonders wichtig, dass wir den gesunden Menschenverstand bewahren, unserer gewaltfreien Lebensweise treu bleiben, Frieden schaffen und friedliebende Menschen unterstützen.

Die UN-Generalversammlung verurteilte die russische Aggression gegen die Ukraine und forderte eine sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine und betonte, dass die Konfliktparteien die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht achten müssen. Wir teilen diese Position.

Die derzeitige Politik des Krieges bis zum absoluten Sieg und die Missachtung der Kritik von Menschenrechtsaktivist*innen ist inakzeptabel und muss sich ändern. Was wir brauchen, sind ein Waffenstillstand, Friedensgespräche und ernsthafte Bemühungen, die tragischen Fehler zu korrigieren, die auf beiden Seiten des Konflikts gemacht wurden. Eine Verlängerung des Krieges hat katastrophale, tödliche Folgen und zerstört weiterhin die Gesellschaft und die Umwelt nicht nur in der Ukraine, sondern in der ganzen Welt. Früher oder später werden sich die Parteien an den Verhandlungstisch setzen, und wenn nicht aufgrund ihrer rationalen Entscheidung, dann unter dem Druck des unerträglichen Leids und der völligen Erschöpfung, die man durch die Wahl des diplomatischen Weges besser vermeiden sollte.

Es ist ein Fehler, sich auf die Seite einer der kriegführenden Armeen zu stellen. Es ist notwendig, sich auf die Seite des Friedens und der Gerechtigkeit zu schlagen. Selbstverteidigung kann und sollte mit gewaltfreien und unbewaffneten Methoden erfolgen. Jede brutale Regierung ist illegitim, und nichts rechtfertigt die Unterdrückung von Menschen und das Blutvergießen für die illusorischen Ziele der totalen Kontrolle oder der Eroberung von Territorien. Niemand kann sich der Verantwortung für sein eigenes Fehlverhalten entziehen, indem er sich darauf beruft, Opfer des Fehlverhaltens anderer zu sein. Falsches und sogar kriminelles Verhalten einer Partei kann nicht die Konstruktion eines Mythos über einen Feind rechtfertigen, mit dem es angeblich unmöglich ist zu verhandeln und der um jeden Preis vernichtet werden muss, einschließlich der Selbstzerstörung. Der Wunsch nach Frieden ist ein natürliches Bedürfnis eines jeden Menschen. Er darf aber keine negative Beziehung zu einem mysteriösen Feind rechtfertigen.

Das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen war in der Ukraine nicht einmal in Friedenszeiten nach internationalen Standards gewährleistet, ganz zu schweigen unter den derzeitigen Bedingungen des Kriegsrechts. Der Staat hat es jahrzehntelang auf schändliche Weise vermieden, auf die einschlägigen Appelle des UN-Menschenrechtsausschusses und die öffentlichen Proteste ernsthaft zu reagieren, und tut dies auch heute noch. Obwohl der Staat dieses Recht nicht einmal in Kriegszeiten oder anderen öffentlichen Notlagen außer Kraft setzen kann, wie es im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) heißt, weigert sich die Armee in der Ukraine, das allgemein anerkannte Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu respektieren. Sie verweigert durch die Mobilmachung sogar den Ersatz des Zwangsdienstes durch einen alternativen, nicht-militärischen Dienst, wie es die ukrainische Verfassung direkt vorschreibt. Eine solche skandalöse Missachtung der Menschenrechte darf in der Rechtsstaatlichkeit keinen Platz haben.

Staat und Gesellschaft müssen der Willkür und dem Unrechtsbewusstsein der ukrainischen Streitkräfte ein Ende setzen, die sich in einer Politik der Schikanen und der Strafverfolgung bei Verweigerung des Kriegseinsatzes und der erzwungenen Umfunktionierung von Zivilisten zu Soldaten äußern. Dadurch können sich Zivilisten weder innerhalb des Landes frei bewegen noch ins Ausland gehen, selbst wenn sie vitale Bedürfnisse haben, um sich vor Gefahren zu retten, eine Ausbildung zu erhalten, Mittel für den Lebensunterhalt, die berufliche und kreative Selbstverwirklichung usw. zu finden.

Die Regierungen und Zivilgesellschaften der Welt schienen der Geißel des Krieges hilflos ausgeliefert zu sein, da sie in den Strudel des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland und der allgemeinen Feindschaft zwischen den Nato-Ländern, Russland und China hineingezogen wurden. Selbst die Androhung der Vernichtung allen Lebens auf dem Planeten durch Atomwaffen hat dem verrückten Wettrüsten kein Ende gesetzt, und der Haushalt der Uno, der wichtigsten Institution für den Frieden auf der Erde, beläuft sich auf nur 3 Milliarden Dollar, während die weltweiten Militärausgaben um das Hundertfache höher sind und einen gigantischen Betrag von 2 Billionen Dollar überschritten haben. Aufgrund ihrer Neigung, massenhaftes Blutvergießen zu organisieren und Menschen zum Töten zu zwingen, haben sich die Nationalstaaten als unfähig erwiesen, eine gewaltfreie demokratische Regierung zu führen und ihre grundlegenden Funktionen zum Schutz des Lebens und der Freiheit der Menschen zu erfüllen.

Die Eskalation der bewaffneten Konflikte in der Ukraine und in der Welt ist unserer Meinung nach darauf zurückzuführen, dass die bestehenden wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Systeme, das Bildungswesen, die Kultur, die Zivilgesellschaft, die Massenmedien, die Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die Führungspersönlichkeiten, die Wissenschaftler*innen, die Expert*innen, die Fachleute, die Eltern, die Lehrer*innen, die Mediziner*innen, die Denker*innen, die schöpferischen und religiösen Akteur*innen ihren Aufgaben zur Stärkung der Normen und Werte einer gewaltfreien Lebensweise nur unvollständig nachkommen, so wie es in der Erklärung und dem Aktionsprogramm über eine Kultur des Friedens vorgesehen ist, das von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. 

Beweise für die vernachlässigten friedensfördernden Aufgaben sind die archaischen und gefährlichen Praktiken, die beendet werden müssen: militärisch-patriotische Erziehung, Wehrpflicht, Fehlen einer systematischen öffentlichen Friedenserziehung, Kriegspropaganda in den Massenmedien, Unterstützung des Krieges durch Nichtregierungsorganisationen, Widerwillen einiger Menschenrechtsaktivist*innen, sich konsequent für die volle Verwirklichung des Menschenrechts auf Frieden und auf KDV aus Gewissensgründen einzusetzen. Wir erinnern die Akteur*innen an ihre friedensstiftenden Pflichten und werden unnachgiebig auf die Einhaltung dieser Pflichten pochen.

Wir sehen es als Ziel unserer Friedensbewegung und aller Friedensbewegungen der Welt an, das Menschenrecht auf Verweigerung des Tötens aufrechtzuerhalten, den Krieg in der Ukraine und alle Kriege in der Welt zu beenden und nachhaltigen Frieden und Entwicklung für alle Menschen auf dem Planeten zu sichern.

Um diese Ziele zu erreichen, werden wir die Wahrheit über das Böse und den Betrug des Krieges sagen, praktisches Wissen über ein friedliches Leben ohne Gewalt oder mit deren Minimierung lernen und lehren, und wir werden den Benachteiligten helfen, insbesondere denjenigen, die von Kriegen und ungerechtem Zwang zur Unterstützung der Armee oder zur Teilnahme am Krieg betroffen sind.

Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit, wir sind daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und uns für die Beseitigung aller Kriegsursachen einzusetzen.

Erklärung der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, angenommen auf dem Treffen am Internationalen Tag des Friedens am 21. September.

Kategorie: 2022, Pazifismus Stichworte: 202203, Pazifismus, Ukraine-Krieg

26. November 2022

Grundgesetz-Friedensgebot im Kriegsmodus

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 3/2022

Pazifismus

Mit verfassungsrechtlichen Überlegungen und juristischen Mitteln gegen Krieg

Von Hermann Theisen

Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurde die europäische und transatlantische Sicherheitsarchitektur nachhaltig erschüttert, was vielfältige geopolitische Verwerfungen menschenrechtlicher, ökologischer und ökonomischer Art nach sich gezogen hat. Seitdem werden von den politischen Entscheidungsträgern Antworten gesucht, um jene Sicherheitsarchitektur wieder auf perspektivisch tragfähige Füße zu stellen. 

Diese Suche wird von kontroversen und leidenschaftlichen innenpolitischen Debatten begleitet, in denen mögliche Lösungsansätze kategorisch auf militärische Optionen beschränkt zu sein scheinen. Der Ruf nach einer nicht-militärischen Lösung des Konflikts und diesbezüglicher diplomatischer Bemühungen wird dabei nur allzu oft als naiv und illusorisch desavouiert, während der Ruf nach noch mehr Waffen immer lauter, drängender und hemmungsloser wird. Weit weniger präsent in der öffentlichen Debatte ist hingegen die Frage, inwieweit unsere Unterstützung der Ukraine mit finanziellen und militärischen Mitteln sowie der Ausbildung ukrainischer Soldaten auf Bundeswehrstützpunkten mit dem Friedensgebot des Grundgesetzes und der UN-Charta in Einklang zu bringen ist. Der folgende Text versucht, darauf eine Antwort zu geben und wird dabei auch die Frage aufwerfen, ob es nicht ganz grundsätzlich ein Menschenrecht auf Frieden gibt. Zugleich wird er den juristischen Stand diesbezüglicher Klagen vor den Verwaltungsgerichten Berlin, Köln und Koblenz skizzieren.

Friedensgebot und Grundgesetz. Frieden ist zum einen Negativ-Zustand im Sinne des Nicht-Krieges bzw. der Abwesenheit militärischer Gewalt. Und Frieden ist zugleich eine Existenzform, die dazu verpflichtet, alles zu unterlassen, was zur Entfesselung eines Krieges führen kann. Der positive Frieden fordert deshalb die Friedensgestaltung. Frieden ist somit nicht nur ein passiver Zustand, sondern er muss andauernd geschaffen werden. Der negative und der positive Frieden sind beide im Friedensgebot des Völkerrechts und des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland angelegt. Es bedurfte dafür der traumatischen Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, um, anders als noch in der vormaligen Völkerbundsatzung, ein umfassendes Verbot der Androhung und Anwendung militärischer Gewalt zwischen den Staaten aufzunehmen. Die in Artikeln 1 und 2 der Charta verankerten Grundprinzipien des Völkerrechts sind für die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen nicht nur aufgrund ihrer Ratifizierung der Charta verbindlich, sie sind auch anerkannte Normen des Völkergewohnheitsrechts. Die wesentlichen Grundgesetznormen, die das Friedensgebot zum Gegenstand haben, sind die Präambel sowie Art. 1 und 26 Grundgesetz (GG). Mit Art. 25 GG finden die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, in denen sich das Friedensgebot vor allem im Gewaltverbot und der Pflicht zur friedlichen Zusammenarbeit manifestieren, in der deutschen Rechtsordnung unmittelbare Anwendung. Als wichtigste allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG und als damit wesentlicher Bestandteil des Friedensgebots gilt das umfassende Verbot der Androhung und Anwendung militärischer Gewalt zwischen Staaten. Die zentrale Aussage zur Friedenswahrung enthält die Präambel des Grundgesetzes mit der Rechtspflicht, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“ Das Grundgesetz erhebt damit das Friedensgebot zum Staatsziel und stellt in diesem Sinne einen verfassungsrechtlich determinierten Auftrag zur Friedenswahrung und Friedensgestaltung sowie eine Orientierung für die Auslegung der Bestimmungen des Grundgesetzes mit Friedensbezug dar. Daraus lässt sich die Verpflichtung einer an Gewaltfreiheit orientierten Handlungsmaxime für die Verfassungsorgane und die Bundesregierung ableiten. Ein Krieg geht seinem Wesen nach mit schwersten Menschenrechtsverletzungen einher und ist dennoch kein rechtsfreier Raum. In außerordentlichen Ausnahmesituationen, wie bewaffnete Konflikte sie darstellen, werden einzelne Menschenrechte als derart fundamental betrachtet, dass sie nicht gegenüber anderen Erfordernissen geopfert werden dürfen. So sind in Art. 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention u.a. das Recht auf Leben und das Verbot der Folter als notstandsfest erklärt worden und haben somit stets Vorrang vor politisch-militärischen Zwecken jeglicher Couleur.

Friedensgebot in Kriegszeiten. Die Bundesregierung unterstützt den Krieg in der Ukraine mit Waffenlieferungen, finanziellen Mitteln und der Ausbildung von ukrainischen Soldaten. Damit ist Deutschland im völkerrechtlichen Sinne Kriegspartei geworden, was auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages in einem Gutachten (Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme; Anm. d. Red.: abrufbarim Internet unter https://bit.ly/3CD2xbP) insinuiert hat: „Wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen“. Zugleich fällt auf, dass sich die Bundesregierung (Stand September) mit diplomatischen Bemühungen zur Herbeiführung eines Waffenstillstands und zur Suche nach einer nicht-militärischen Lösung des Krieges auffallend zurückhält. Bundesaußenministerin Baerbock betont hierzu immer wieder, dass alleine der russische Präsident Putin den Krieg beenden könne, wenn er nur wollte. Verletzt die Bundesregierung mit dieser stoisch-militaristisch anmutenden Haltung die zuvor skizzierten Bestimmungen des Friedensgebotes des Grundgesetzes und der UN-Charta? Um darauf eine Antwort zu bekommen sind bei den Verwaltungsgerichten Berlin, Köln und Koblenz Klagen anhängig, in denen es um Anfragen an die Bundesregierung und die Bundeswehr zu den Hintergründen ihrer „Tätigkeiten und Entscheidungen im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine“ geht. Zudem geht es um einen „Antrag auf Ausrichtung“ jener Tätigkeiten und Entscheidungen „nach den Bestimmungen des Grundgesetzes und der UN-Charta.“ Mit den Klagen sollen Bundesregierung und Bundeswehr dazu gebracht werden, ihr Vorgehen im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg transparent darzulegen, um es somit einem öffentlichen Diskurs zuzuführen und damit die zivilgesellschaftliche Kontrolle staatlichen Handelns bei Fragen von Krieg und Frieden zu ermöglichen. Der Ausgang der Klagen ist noch nicht absehbar, aber es soll der verwaltungs- und verfassungsrechtliche Instanzenweg bestritten werden, um damit Einfluss auf die künftige Rechtsprechung in Fragen von Krieg und Frieden zu nehmen. 

„Es ist Frieden. Und. Um alles richtiger zu machen, damit es richtig wird. Wir werden unser Leben ernster nehmen müssen darin, in welchen Zusammenhängen und mit welchen Folgen wir in der Welt sind. Das Recht auf Frieden gilt weltweit. Das Recht auf Frieden weltweit durchzusetzen bedeutet gleichzeitig die Erhaltung der Welt demokratischerweise mitzudenken. Frieden für alle hieße alle Ressourcen für alle. Frieden ist ein anderes Wort für Gerechtigkeit.“ (Marlene Streeruwitz in ihrem vor Kurzem erschienenen „Handbuch gegen den Krieg“; Wien 2022)

Hermann Theisen ist langjähriges DFG-VK-Mitglied und lebt in Hirschberg an der Bergstraße. Er bittet dringend um Unterstützung für die bereits jetzt fälligen Gerichtskosten (Hermann Theisen, GLS Gemeinschaftsbank, DE88  4306  0967  6008  7785 00).

Kategorie: 2022, Pazifismus Stichworte: 202203, Grundgesetz, Pazifismus, Ukraine-Krieg

26. November 2022

Krieg. Verzweiflung. Was sonst?

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 3/2022

Pazifismus

Gedanken eines langjährigen Basisaktivisten angesichts des Ukraine-Kriegs

Von Robert Hülsbusch

Krieg, Inflation, Energiekrise – auch an Helene Fischer geht das nicht spurlos vorbei. Aber sie verarbeitet dies auf ihre Art: „Wenn ich mir Sorgen mache, wenn ich die Tagesthemen gucke, wenn ich Zeitung lese und gewisse Dinge einfach auch für mich verarbeiten muss, dann habe ich dafür eben meinen Song „Wann wachen wir auf“: „Wann wachen wir auf? Wann steh‘n wir auf? Lass uns wieder mit unsren Herzen schau‘n. Wann wachen wir auf? Was hält uns noch an? Lass uns aus all den Mauern Brücken bau‘n. Wann wachen wir auf?“ Bei Bob Dylan hieß das vor 50 Jahren: „When will they ever learn?“, und Hannes Wader sang: „Es ist an der Zeit“. 

September 2022. Ein Tsunami bricht über uns herein. Talkshows, große Zeitungen, PolitikerInnen-Statements, Berichte und Kommentare in den Medien – alle kennen nur noch eine Richtung: Mehr Waffen, Aufrüstung, mehr Geld für die Armeen, Waffenlieferungen, auch in Kriegsgebiete, Atomkraft und Kohle und Gas erfahren eine Renaissance … 

Wofür haben wir uns 40 Jahre engagiert? Wir stehen wieder dort, wo wir damals – Anfang der 1980er Jahre – angefangen haben. Kalter Krieg, Wettrüsten, Konfrontation, Stellvertreterkriege zwischen Ost und West. Diesmal gar auf europäischem Boden. Die Welle überrollt uns und niemand scheint in der Lage, sie aufzuhalten, keine „Aktionstage“, keine Unterschriftenlisten, keine „Offenen Briefe“, keine Groß-Demo, keine Aufrufe. 

Frieden schaffen ohne Waffen. Stell dir vor, es gibt Krieg und keiner geht hin. Ohne Rüstung leben, soziale Verteidigung, Atomkraft – nein danke, Runter mit der Kohle … alles ausgeträumt, alles für die Katz. 

Seit fast 41 Jahren arbeitet die Friedensinitiative (FI) in Nottuln, nahe Münster in Westfalen, engagieren wir uns auch über Nottuln hinaus, vernetzt mit vielen Friedensgruppen und -organisationen, mit Umweltgruppen und Energiewendeaktivisten. 

Niederlagen und Rückschritte sind wir gewohnt. Das erfuhren wir gleich zu Beginn unserer FI-Arbeit, als trotz großer Bewegung die damalige Bundesregierung uns erst den Mittelfinger entgegenstreckte und dann die atomaren Mittelstrecken-Raketen aufstellte. Aufstehen, Krönchen richten, weitermachen. Was auch sonst!? 

Viele lokale Friedensgruppen stellten allerdings damals ihre Arbeit ein, nicht so die FI Nottuln. Unser Schluss: „Abrüstung ist wichtig. Aber die Geschichte lehrt, dass zumeist nicht Abrüstung zum Frieden führt, sondern friedliche Zusammenarbeit zu geringerem Misstrauen, zu weniger Angst, zur Abrüstung.“ (Ernst Ulrich von Weizsäcker). 

In diesem Sinne haben wir weitergearbeitet – Jahrzehnte immer mit Hoffnung und Optimismus und Zuversicht. Unsere Arbeit und die Zeit – sie werden zeigen: „Eine andere Welt ist möglich!“ Und Schritt für Schritt machten wir Fortschritte. Beispiele: Abschaffung der Wehrpflicht, die „Bürgermeister für den Frieden“-Bewegung, das Pariser Klimaabkommen, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, der Atomwaffenverbotsvertrag, Ican erhält den Friedensnobelpreis, und dann die hoffnungsvolle Initiative „Sicherheit neu denken!“ (SND; sicherheitneudenken.de). 

Wir konnten ernsthaft annehmen, dass wir auf einem guten Weg sind, die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Im Rahmen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung einigten sich die Vereinten Nationen im Jahr 2015 auf die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs; https://bit.ly/3sHyE5o). Die 17 Ziele mit ihren 169 Zielvorgaben widmen sich jeweils einer globalen Herausforderung. Reiche wie auch arme Länder verpflichteten sich, die Armut drastisch zu reduzieren und Ziele wie die Achtung der menschlichen Würde, Gleichberechtigung, Demokratie, ökologische Nachhaltigkeit und Frieden zu verwirklichen. Oberstes Ziel war die globale Zukunftssicherung, für die vier programmatische Handlungsfelder festgelegt wurden: • Frieden, Sicherheit und Abrüstung • Entwicklung und Armutsbekämpfung • Schutz der gemeinsamen Umwelt • Menschenrechte, Demokratie und gute Regierungsführung. Was für eine Perspektive!

Mit dem Krieg in der Ukraine ist alles anders. Eine Zeitenwende? Natürlich nicht. Friedensbewegte hatten und haben die Entwicklung der letzten Jahre hin zum Krieg als Mittel der Politik, hin zur Akzeptanz von Gewalt und dem Recht des Stärkeren im Blick. 

„Wenn der Schnee schmilzt, sieht man, wo die Scheiße ist.“

Zeitenwende? Für viele von uns aber auch: ja. Wie durch ein Brennglas wird der Weg in die Gefahr noch deutlicher. Der ehemalige Schalke-Manager Rudi Assauer beschrieb das in seinem schnoddrigen Ruhrgebietsslang einmal so: „Wenn der Schnee schmilzt, sieht man, wo die Scheiße ist.“ Und wie viel „Scheiße“ existiert!

Seine Verzweiflung drückt Udo Hegemann von der FI Nottuln, so aus – „Ein paar unsortierte Indizien für meine Verzweiflung“: „Es hat den Anschein, dass kaum jemand auf der Welt den Frieden jetzt will. Der Mainstream ist: Waffen und Kampfpanzer liefern (,Putin muss man es zeigen!‘). Man muss sich eine Verhandlungsposition erschießen. Russland muss niedergemacht werden. Konfrontation um jeden Preis. Das Thema polarisiert zunehmend: Konstruktive Diskussionen werden immer unmöglicher.“ 

Manfred Wewel aus Nottuln, der immer positiv nach vorne schaute, beschreibt das so: „Meine ganz persönliche Verzweiflung betrifft nicht nur den Angriffskrieg in der Ukraine. Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass nicht nur durch Kriege, Kolonialismus und Imperialismus Menschen getötet werden, sondern auch durch strukturelle Gewalt. Ich verzweifele an einer ökonomischen und politischen Weltordnung, die von Gewalt und Ideologie gekennzeichnet ist. Ich verzweifele an einer grundsätzlichen Haltung, die Gewalt mit Gegengewalt beantwortet. Ich verzweifele an Despoten. Ich verzweifele an gewählten Politiker, die ihre Wähler belügen. Ich verzweifele an einer Aufrüstung und an einer Vorstellung, dass militärische Gewalt zu Lösungen führen.“

Und Bernd Lieneweg vom Friedenskreis Senden: „Neben allem Elend ist auch die Klimakatastrophe als Folge des Kriegs nicht zu unterschätzen. Die Chancen, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, sind gleich null. Sogar Wiederaufbau zerstört wichtige Ressourcen. Man darf gar nicht darüber nachdenken. Ohne fürchterliche Folgen schaffen wir das nicht.“ Und weiter: „Die Friedensforschung geht davon aus, dass am Ende eines Krieges in der Ukraine dieselben Kompromisse stehen werden, die schon am Anfang im Raum standen. Dann aber nach noch mehr Zerstörung und Tod. Und vor allem: Sie belegt minutiös, dass die zentralen Argumente pro Krieg faktisch falsch sind. Mit keinem Wort werden die nicht wieder zu reparierenden Klimaschäden durch den Krieg erwähnt. Es gibt kein Bauholz mehr, es gibt keinen Zement mehr. Zudem kosten Krieg und Wiederaufbau immense Mengen an Energie. Es ist 10 nach 12, das 2-Grad-Ziel ist nicht mehr zu erreichen. Die Erde wird kippen. Auf diesem Auge scheint die Friedensbewegung blind zu sein. Putin und Selenskyj opfern die Erde.“

Der tägliche letzte TagesthemenSatz von Ingo Zamperoni „Bleiben Sie zuversichtlich!“ klingt da  wie das Pfeifen im Walde. 

Bisher galt immer für uns und für mich das Prinzip Hoffnung: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ (Vaclav Havel)

Bisher galt trotz alledem immer das Prinzip Zuversicht – im Sinne der Geschichte von den drei Fröschen, die allesamt unglücklicherweise in einen Topf voller Sahne fallen, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Der erste Frosch ist Pessimist: „Auweia! Jetzt sind wir verloren! Es gibt keine Rettung! Ich hab’s ja immer gewusst!“ Und tatsächlich – gluck, gluck, gluck – er taucht unter und ertrinkt. Ganz anders der Optimisten-Frosch. Als gäbe es keine Gefahr, grinst und verkündet frohgemut: „Keine Sorge, alles halb so wild! Alles wird gut! Wir werden gerettet werden!“ Und abwartend versinkt er schließlich und ertrinkt. Bleibt noch der dritte Frosch: „Echt schwierige Lage! Da bleibt mir wohl echt nichts übrig, als mich kräftig abzustrampeln!“ Sprach´s – und beginnt zu strampeln aus Leibeskräften. Und wenig später hat dieser Frosch butterweichen Boden unter den Füßen und kann sich mit einem Sprung aus dem Sahnetopf in die Freiheit retten. 

Der Schauspieler Felix Kammerer, der in der Neuverfilmung des Romans „Im Westen nichts Neues“ die Hauptrolle spielt, antwortet auf die Frage der Westfälischen Nachrichten, ob er angesichts des Entwicklungen Angst vor den nahen Zukunft habe: „Ja, natürlich. Alle müssen Angst haben, und wer keine Angst hat, hat etwas nicht verstanden. Ich spreche nicht von einer lähmenden Angst, sondern von einer, die aufrüttelt und die Menschen dazu bringt, sich zu beteiligen. Frieden erhalten ist etwas sehr Aktives.“ Ob unsere Aktivitäten allerdings reichen? Das steht noch dahin!  

Natürlich machen wir weiter! Wir bleiben wach und werden weiter an Brücken bauen. Aber die Verzweiflung war noch nie so groß und sie bleibt! Ebenso die Angst!

Robert Hülsbuch ist seit Jahrzehnten DFG-VK-Mitglied und war für eine Amtszeit auch Mitglied im BundessprecherInnenkreis. 1981 hat er die Friedensinitiative Nottuln mitgegründet und ist seitdem dort aktiv. Zuletzt beschrieb er in der ZivilCourage 2/2021 (Seite 12 f.), unter der Überschrift „Befragung eines Kriegsdienstverweigerers: Wie Bundeswehr und KDV mein Leben ,reich‘ machten“.

Kategorie: 2022, Pazifismus Stichworte: 202203, Pazifismus

25. November 2022

Warum ich auch jetzt Pazifistin bin und bleibe

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 3/2022

Pazifismus

Deutliche Position gegen Häme, Verdummung und Kriegshysterie

Von Margot Käßmann

Selten wurde Pazifismus so massiv diffamiert wie im Jahr 2022. Das sei eine unverantwortliche Zuschauerposition, heißt es. Sascha Lobo spricht von „Lumpenpazifisten“. Der FDP-Politiker Graf Lambsdorff hat Teilnehmende an Friedensdemonstrationen zu Ostern als „fünfte Kolonne Wladimir Putins“ bezeichnet. Und ja, auch das Argument, sich fein rauszuhalten oder „wohlstandsverwöhnt“ (Roderich Kiesewetter) zu sein, kommt immer wieder. Innerkirchlich wird Pazifistinnen und Pazifisten vorgehalten, sie würden „Ponyhoftheologie“ betreiben. Manchmal frage ich mich, woher diese hohe Aggression kommt. Würden diese Protagonisten denn in irgendeiner Weise befriedet sein, wenn nun alle das hohe Lied der Waffen singen? Was ist das überhaupt für ein Verständnis von Demokratie, wenn nur noch eine Einheitsmeinung akzeptabel scheint und alle kritischen Einwürfe gleichgeschaltet werden sollen?

Ich bin trotz heftiger Angriffe in Diskussionen oder auch per Mail bei meiner pazifistischen Haltung geblieben. Anfangs habe ich sie noch bei Talkshows vertreten, aber nachdem ich erlebt habe, dass ich lediglich als diejenige eingeladen werde, an deren vermeintlich absurder Haltung sich die anderen geladenen Gäste empört abarbeiten können, habe ich keine weiteren Zusagen gegeben. Sie hat drei Gründe. 

Zum einen fühle ich mich als Christin der Botschaft Jesu verpflichtet: Selig sind, die Frieden stiften. Steck das Schwert an seinen Ort. Liebet Eure Feinde. Martin Luther King hat einmal gesagt, Letzteres sei das Schwerste, das Jesus denen, die ihm nachfolgen wollen, hinterlassen hat. Und das stimmt auch bis heute. Es bleibt eine Provokation. Einmal wurde ich gefragt, was Jesus Terroristen sagen würde. Ich habe erklärt: „Wahrscheinlich dasselbe wie vor 2000 Jahren: Liebet eure Feinde, bittet für die, die euch verfolgen.“ Die Reaktion war ein Shitstorm. Dabei habe ich Jesus zitiert. Mir hat das gezeigt, wie weichgespült die christliche Botschaft inzwischen daherkommt. 

Zum anderen rührt meine Haltung aus den familiären Erfahrungen. Mein Vater war 18 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann – er wurde sofort zur militärischen Ausbildung beordert und musste als Soldat „dienen“, bis er mit 25 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. Meine Mutter war Krankenschwester in Berlin, hat die Bombennächte erlebt, wurde nach Rügen evakuiert, floh nach Dänemark und musste dort zwei Jahre in einem Internierungslager bleiben. Ihre Mutter und ihre Schwester waren allein im pommernschen Köslin, bis sie 1946 nach Hessen aufbrechen konnten. Mein Großvater väterlicherseits und meine Tante starben bei Bombenangriffen auf Hagen. Mein Großvater mütterlicherseits wurde nach Sibirien verschleppt und starb auf dem Transport. Dass Krieg mit allen Mitteln zu verhindern ist, war bei uns zu Hause unumstritten. 

Schließlich habe ich als Bürgerin dieses Landes gerade auch angesichts unserer Geschichte immer für richtig gehalten, Rüstungsexporte abzulehnen oder zumindest so zu beschränken, dass keine Waffen in Krisen- oder gar Kriegsgebiete geliefert werden. Das war auch lange Zeit Konsens. Jetzt wird erklärt, unsere Freiheit werde – diesmal nicht am Hindukusch – jetzt aber in der Ukraine verteidigt. Wer die Lieferung schwerer Waffen ablehne, mache sich schuldig. Dessen bin ich mir übrigens sehr bewusst. Wer eine pazifistische Position einnimmt, weiß sehr genau, dass er oder sie dadurch schuldig werden kann. Aber das gilt ebenso für diejenigen, die Waffenlieferungen fordern. Denn durch diese Waffen werden vielleicht Menschen geschützt, aber auf jeden Fall Menschen sterben. 

Wenn Pazifisten gesagt wird, sie sollten mit ihrer Meinung doch in die Ukraine gehen und ihren Pazifismus ausleben, halte ich dagegen: Auch diejenigen, die so engagiert aufzählen, welche schweren Waffen Deutschland unbedingt zu liefern habe, werden diese Waffen nicht höchstpersönlich einsetzen. Auch sie schauen am Ende dem Elend des Krieges zu, das durch weitere Waffen verlängert wird. Erich Maria Remarque schrieb: „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“

Pazifismus heißt ja nicht, passiv zu sein. Viele unterstützen Geflüchtete. Es gibt humanitäre Einsätze in Kriegsgebieten und auch soziale Verteidigungsstrategien. Vor allem aber geht es um das langfristige Ziel, Zukunft nicht durch mehr Rüstung, sondern durch Abrüstung lebenswert zu machen. Was wäre, wenn die Ideen zum Pazifismus obsolet, die Stimmen für Gewaltlosigkeit verstummen würden, unsere Vorstellungskraft vom Frieden, der mehr ist als kein Krieg, uns gänzlich abhanden käme? Es wäre eine durchmilitarisierte Gesellschaft, die an das deutsche Kaiserreich erinnert, der schon Bertha von Suttner den Spiegel vorhielt mit ihrem weltberühmten Roman „Die Waffen nieder“. 

Interessant ist für mich, dass mir in den Debatten immer wieder das Thema Vergewaltigung entgegengeschleudert wird: Dort werden Frauen und Kinder vergewaltigt, da muss man doch Waffen liefern. Ich war einige Jahre Präsidentin der Zentralstelle KDV, also des Zusammenschlusses der Organisationen, die Kriegsdienstverweigerer beraten haben, bevor die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt wurde. In den Gewissensprüfungen der frühen Jahre gab es immer wieder die Frage: „Wenn Ihre Freundin neben ihnen vergewaltigt wird, würden Sie dann nicht zur Waffe greifen?“ Sie ist natürlich suggestiv. Aber die Antwort kann nur sein: „Ich weiß es nicht.“ Niemand kann im Voraus sagen, wie er oder sie in einer bestimmten Situation reagiert. Aber die Haltung, die Waffe nicht zücken zu wollen, die muss doch respektiert werden. 

In Deutschland werden laut Kriminalstatistik täglich mehr als 20 Fälle von Vergewaltigung angezeigt. Die Dunkelziffer ist riesig. Das aber ist selten Thema. Sollten alle diese Frauen oder ihre Familienmitglieder Waffen in die Hand bekommen, um den Vergewaltiger zu ermorden? Da wird mit Emotionen hantiert. Natürlich ist jede Vergewaltigung grauenvoll und furchtbar. Aber im Krieg ist Vergewaltigung nicht Ausnahme, sondern entsetzliche Regel, ja wird als Kriegswaffe eingesetzt. Es geht um grauenvolles männliches Machtgebaren, das demütigen und erniedrigen will. Das sollte nicht missbraucht werden, um Waffenlieferungen zu rechtfertigen.

Stehe ich nicht im Gegensatz zu „meiner Kirche“, werde ich gefragt. Es hat in der Geschichte der Kirchen immer eine Mehrheitsmeinung gegeben, die den Einsatz militärischer Mittel gerade auch zur Selbstverteidigung legitimiert, aber Regeln formulieren will, sie zu begrenzen. Die „Lehre vom gerechten Krieg“ oder inzwischen „Lehre vom gerechten Frieden“ zeugen davon. Und es gab stets eine Minderheit, die eine pazifistische Tradition vertreten hat, weil sie so ein Zeugnis von der Botschaft des Jesus von Nazareth abgeben will. Sich gegenseitig in diesen Haltungen zu tolerieren – also zu ertragen, dass es keine von irgendjemandem vorgegebene bzw. reklamierte Einheitstheologie gibt –, ist für theologische Debatten letzten Endes eine Frage des Respekts und der Freiheit. Und im Übrigen gehört es auch zur eigenen Demut, stets zu wissen, dass du irren kannst. 

Ich persönlich bin überzeugt, dass die Theologie ebenso wie die Kirche in die Irre gegangen sind, wann immer sie Gewalt legitimiert haben. Jesus Christus war kein Revolutionär mit der Waffe in der Hand. Er hat Frieden gepredigt, nicht Krieg, Feindesliebe, nicht Hass. Theologie hat zu fragen, wie sich das umsetzt im jeweiligen Kontext. Sie sollte sich nicht dazu missbrauchen lassen, Kriege und Waffengänge zu legitimieren, sondern sich querstellen, die Friedensfahne hochhalten und dem Gerede von „Blutzoll“, „Heldentum“ und „Tapferkeit“ die Menschlichkeit und die Würde jedes Menschen entgegensetzen. 

Krieg ist die Ultima Irratio

Krieg ist für mich nicht Ultima Ratio, weil Ratio Vernunft heißt. Und im Krieg setzt die Vernunft aus. Da vergewaltigen serbische Männer ihre bosnischen Nachbarinnen. Da foltern russische Soldaten in Butscha wehrlose Zivilisten zu Tode. Da wird mit der Wilhelm Gustloff ein Schiff mit 9 000 Flüchtlingen an Bord versenkt. Da metzeln Hutu Tutsi in einer Kirche nieder. Da lassen argentinische Generäle Menschen verschwinden. Da werden in Mosambik Kinder zu Soldaten gemacht und gezwungen, ihre Eltern zu töten, weil sie dann besonders grausame Kämpfer werden. Da verhungern und erfrieren in und um Stalingrad Hunderttausende. Krieg ist das Ende aller Vernunft. Krieg ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mittel, sondern das Ende der Politik. 

Ich frage mich, warum der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine Zeitenwende ist. Weil der Krieg uns so nahe an die eigene Grenze kommt? Nach einer Untersuchung des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung gab es im letzten Jahr 20 Kriege (Beispiele sind Syrien und Jemen), dazu 20 begrenzte Kriege (Beispiele sind Israel oder Äthiopien). Dazu kommen die unerklärten Kriege, also 204 bewaffnete Konflikte, die teilweise als hochgewaltsam eingestuft werden. Da kämpfen marodierende Banden, Verhandlungspartner sind nicht mehr auszumachen. Das Grauen der Zivilbevölkerung aber ist umso größer. Und: Das Völkerrecht wird immer wieder gebrochen. Gegen all das stehen Pazifistinnen und Pazifisten auf und für globale Abrüstung ein.

Mir macht Sorge, dass jetzt 100 Milliarden Euro zusätzlich zum Wehretat von 52 Milliarden in Rüstung investiert werden sollen. Wenn ich an meine sieben Enkelkinder denke, ist das doch keine Investition in deren Zukunft. Das wäre eine Investition zur Bekämpfung der Klimakrise, für Bildung und Entwicklung.

Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass Menschen zum Frieden fähig sind. Die Hoffnung, dass eines Tages Menschen Pflugscharen aus ihren Schwertern schmieden werden und niemand mehr übt für den Krieg (Micha 4,3 f.). 

Schon lange als Pazifistin aktiv:  Margot Käßmann als Präsidentin der Zentralstelle KDV 2007 bei der Feier zum 50-jährigen Bestehen der Organisation, hier mit dem früheren DFG-VK-Vorsitzenden Gerd Greune

Margot Käßmann ist seit 2016 Mitglied der DFG-VK. Bis zu deren Auflösung nach Aussetzung der Wehrpflicht war sie Präsidentin der Zentralstelle KDV. Die promovierte Theologin war von 1999 bis 2010 Landesbischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers sowie daneben 2009 bis 2010 Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. In dem ZDF-Beitrag „Lichtgestalten – Unbekannte Helden der deutschen Geschichte“ präsentierte sie die DFG-Gründerin Bertha von Suttner, abrufbar in der ZDF-Mediathek unter https://bit.ly/3E5NdGX
(ab Minute 29:15).

Kategorie: 2022, Pazifismus, Ukraine-Krieg Stichworte: 202203, Käßmann, Pazifismus, Ukraine-Krieg

19. Dezember 2021

Politik geht anders!

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 3/2021

Pazifismus

Kritische Bemerkungen zu „Sicherheit neu denken“

Von Wolfram Scheffbuch

Das Szenario „Sicherheit neu denken“ zeigt auf, wie Deutschland bis zum Jahr 2040 die militärische Aufrüstung überwinden könnte. Erarbeitet wurde es im Auftrag der Evangelischen Landeskirche in Baden von einer Arbeitsgruppe mit Vertretern bundesweiter Friedensorganisationen. Auch die DFG-VK ist Kooperationspartner. „Sicherheit neu denken“ wird von einigen Akteuren in unserem Verband sehr wohlwollend aufgenommen und wird etwa im Landesverband Baden-Württemberg als ein neuer Arbeitsschwerpunkt gesehen.

Ich denke hingegen, unsere Aufgabe als Pazifisten ist eine andere. Wir müssen die sofortige Abschaffung der Bundeswehr fordern, wir müssen den sofortigen Stopp der Rüstungsproduktion fordern. Das ist unsere Aufgabe im politischen Spektrum. Genauso wie die Nato und die Waffenindustrie den weiteren Ausbau des Militärs fordern. Jeder hat seine Rolle im politischen Diskurs. Wenn wir die Rolle der radikalen Pazifisten nicht ausfüllen, wer macht es dann? Ein Szenario wie „Sicherheit neu denken“ kann am Ende eines politischen Prozesses stehen, wenn verschiedene gesellschaftliche und politische Kräfte einen Kompromiss ausgehandelt haben. Wenn aber die radikalste Seite – nämlich die Pazifisten – schon mit einem so weichgespülten Vorschlag ins Rennen gehen, dann kommt im politischen Prozess hinterher garantiert keine Abschaffung des Militärs heraus.

Politik geht anders. „Sicherheit neu denken“ geht davon aus, dass 2025 ein Bundestagsbeschluss gefasst wird, der bis 2040 Bestand hat. So läuft aber Politik nicht. Die Akteure wechseln im Lauf der Jahre, Interessen verschieben sich, Bündnisse zerfallen und werden neu geschlossen, Bedrohungslagen werden neu definiert. Wer hat 1980 gedacht, dass 1995 der Bürgerkrieg in Jugoslawien tobt? Wer hat im Jahr 2006 damit gerechnet, dass 2021 Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU ist?

Wenn das Szenario für das Jahr 2040 postuliert: „Mit 4 Milliarden Euro jährlich ist Deutschland der größte Beitragszahler des UN-Welternährungsprogramms“, dann ist das naiv. Die Summe suggeriert eine Exaktheit, die es gar nicht geben kann. Was wissen wir heute, wie viel ein Euro im Jahr 2040 wert ist? Wird es den Euro überhaupt noch geben? 

Wenn ein politisches Thema kontrovers ist und wirtschaftliche Interessen mit dem Wohlergehen der Bevölkerung kollidieren, dann wird gern eine Änderung der Verhältnisse in weiter Zukunft beschlossen. Das war schon bei dem rot-grünen Atomausstieg im Jahr 2001 so, das ist jetzt beim Kohleausstieg und dem Aus für den Verbrennungsmotor zu beobachten. Man bekommt eine breite Zustimmung. Die Gutmenschen bekommen ihre lange geforderten Ziele in Gesetzesform gegossen, die Profiteure des Status Quo hingegen können erst einmal weiterverdienen. Und wenn die Profite tatsächlich in Gefahr kommen, dann ist so ein Beschluss aus der Vergangenheit schnell wieder abgeräumt. 

Tatsächlich besteht aber akuter Handlungsbedarf. Auf unser Thema bezogen: Wir brauchen jetzt Fachkräfte statt Soldaten, wir brauchen jetzt Geld für Katastrophenhilfe statt für Rüstung, wir müssen jetzt Atomwaffen abschaffen, statt Raketen in Bereitschaft zu halten. Wir können doch nicht – wie in „Sicherheit neu denken“ festgelegt – der Bundeswehr eine Bestandsgarantie bis 2040 geben oder im Haushalt 2030 eine Summe von 40 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitstellen. Das steht zwar im Szenario, aber das kann ich als Pazifist niemals gutheißen.

Vielmehr ist unsere Aufgabe als DFG-VK, radikal gegen Krieg und Rüstung die Stimme zu erheben. Sofortige Abschaffung aller Armeen und Einstellung der Rüstungsproduktion. Punkt.

Für eine „klare Linie“

Mit einer klaren Linie können wir auch mehr Menschen gewinnen, bei uns mitzumachen, als mit einem akademischen Projekt wie „Sicherheit neu denken“. Und mit einem eindeutig pazifistischen Profil werden wir auch weiterhin Bündnispartner gewinnen. Vielleicht nicht ganze Landeskirchen, aber durchaus auch Aktive aus dem christlichen Spektrum. Oder Gewerkschaften wie die GEW. Bestes Beispiel hierfür ist die Kampagne „Unter 18 nie“. Hier kooperieren wir mit anderen nichtpazifistischen Akteuren, ohne unsere Grundsatzerklärung aufzugeben. Schließlich sagen wir ja nicht, dass wir den Militärdienst für über 18-jährige befürworten.

Wir haben also genug zu tun. Auch die neue Regierung wird Rüstungsprojekte und Militäreinsätze beschließen. Dagegen müssen wir protestieren, genauso wie gegen Bundeswehrwerbung, für einen Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag und viele anderen Dinge mehr…

Unsere Vision muss sein: Militär jetzt abschaffen. Nicht auf das Jahr 2040 warten.

Wolfram Scheffbuch ist aktiv in der DFG-VK-Gruppe Ludwigsburg.

Kategorie: Pazifismus Stichworte: 202104, Sicherheit neu Denken

1. September 2021

War Sophie Scholl Pazifistin?

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 4/2021

Pazifismus

Diskussion anlässlich des 100. Geburtstags

Am 9. Mai wäre Sophie Scholl 100 Jahre alt geworden. Als Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ hatte sie in München heimlich Flugblätter gegen das Nazi-Regime verteilt, wobei sie entdeckt und festgenommen wurde. Wegen „Wehrkraftzersetzung“, „Feindbegünstigung“ und „Vorbereitung zum Hochverrat“ wurde sie am 22. Februar 1943 vom sog. Volksgerichtshof in einem Schauprozessunter dem Vorsitz seines Präsidenten Freisler zum Tode verurteilt und noch am selben Tag – gemeinsam mit ihrem Bruder Hans und Christoph Probst, ebenfalls Mitglieder der „Weißen Rose“ – ermordet.

In der Beilage „Christ und Welt“ der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschien am 6. Mai ein Gespräch von drei Menschen, die Biografien über Sophie Scholl geschrieben hatten. Dabei unterhielten sich Robert M. Zoske, Maren Gottschalk und Hermann Vinke auch darüber, ob Sophie Scholl Pazifistin war. Wir dokumentieren die entsprechende Passage (das ganze Gespräch ist nachzulesen unter https://bit.ly/3gfZ2xH).

Frage: Wie einig sind Sie sich eigentlich in der Frage, ob Sophie Scholl eine Pazifistin war? 

Vinke: Ich halte Sophie Scholl für eine politische Pazifistin. Sie hat sehr politisch gedacht. Als politische Pazifistin kann man in konkreten Situationen differenzieren. Ich erinnere nur an den wichtigen Satz, den sie an Fritz Hartnagel schreibt, als dieser in den Krieg zieht: „Sag nicht, es ist fürs Vaterland.“ Das Gleiche gilt übrigens für die Widerstandskämpferin Cato Bontjes van Beek, die der Roten Kapelle in Berlin angehörte (…). 

Gottschalk: Herr Zoske und ich sind da definitiv unterschiedlicher Meinung. Ich würde sie auf jeden Fall als Pazifistin bezeichnen. Es gibt so viele Zitate von ihr, in denen sie sich explizit gegen den Krieg stellt. Zwei Stellen in meiner Recherche haben mich dennoch irritiert. Einmal fragt Sophie Scholl, warum sich die Franzosen nicht gewehrt haben bei der Einnahme von Paris durch die Nazis. Es hätte ihr offenbar deutlich mehr imponiert, wenn sie bis zum letzten Schuss gekämpft hätten. Ich finde aber, man darf für pazifistische Werte eintreten und trotzdem Fragen wie diese stellen. Besonders als junger Mensch. (…) 

Zoske: Ich verstehe unter Pazifismus die Ablehnung von Gewalt. Sophie Scholl war gegen den Krieg, aber sie war offenbar nicht gegen die Anwendung von Gewalt. Es gibt Berichte einer Freundin, aus denen hervorgeht, dass Sophie Scholl bereit gewesen wäre, zur Pistole zu greifen, hätte sie die Chance gehabt, Hitler zu erschießen. Ihr Bruder trug eine geladene Waffe bei den nächtlichen Graffiti-Aktionen. Auf den Flugblättern der Weißen Rose stand, dass man Hitler beseitigen müsse – nicht abwählen, tatsächlich beseitigen. Ich gehe davon aus, dass auch Sophie Scholl mit diesen Flugblättern übereinstimmt. Ich würde schon sagen, sie war gegen den Krieg, aber in Extremsituationen nicht gänzlich gegen Gewalt. Nazideutschland war eine solche Extremsituation, Gewalt schien für sie also legitim. Sie hat immer mit den Worten gekämpft. Aber sie wäre bereit gewesen, zur Waffe zu greifen.

Gottschalk: Sie hat nie versucht, an eine Waffe zu kommen, plante keine Attentate, soweit wir das wissen. Ich finde, dieses Gedankenspiel über das Schießen auf Hitler kann man deshalb nicht so hoch bewerten. Ein zentraler Satz für mich ist vielmehr, als sie sagt, Krieg bedeute, Menschen bringen andere Menschen in Gefahr. Sie unterscheidet dabei nicht zwischen Deutschen, Polen, Franzosen. 

Zoske: Ich finde, man muss jeden einzelnen Satz von ihr ernst nehmen. Vinke: Ich halte das für dahingesagt. Sie hat ihren Freund davon überzeugt, dass dieser Krieg ein verbrecherischer ist. Das ist pazifistische Überzeugung pur.

Kategorie: Pazifismus Stichworte: 202103, Sophie Scholl, Widerstand

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„Eine Supermacht Europa verhindern“

17. Januar 2023

Michael Schulze von Glaßer
Titel: Warum Pazifismus wichtiger denn je ist
Erschienen in ZivilCourage 4-22/1-23

ZC-4-22/1-23-Editorial

16. Januar 2023

Stefan Philipp
Editorial zum Heft 3/2022

Zweifel sind keine Schande

16. Januar 2023

Ernst Rattinger
Leitartikel
Erschienen in ZivilCourage 4-22/1-23

Warum Pazifismus wichtiger denn je ist

16. Januar 2023

Michael Schulze von Glaßer
Titel: Warum Pazifismus wichtiger denn je ist
Erschienen in ZivilCourage 4-22/1-23

„Ein Signal mangelnder Zivilcourage“

27. November 2022

Andreas Zumach
„Ein Signal mangelnder Zivilcourage“
Erschienen in ZivilCourage 3/2022

… gefördert von: Bertha-von-Suttner-Stiftung

27. November 2022

Hauke Thoroe
… gefördert von: Bertha-von-Suttner-Stiftung
Erschienen in ZivilCourage 3/2022

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