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Pazifismus

1. September 2021

Kampf gegen das Hakenkreuz

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 4/2021

Pazifismus

Friedensbewegung und DFG in der Weimarer Republik

Von Stefan Lau

Am 9. Juli fand in Karlsruhe die Tagung „Demokratie-Retter:innen 1.0 – NGOs im Ringen um die Festigung der Weimarer Republik. Forschungsstand und Perspektiven für die historisch-politische Bildungsarbeit“ statt. Veranstalter war der Verein „Lernort Zivilcourage und Widerstand“, der Bildungsarbeit durch ein aktives und gegenwartsbezogenes historisches Lernen an konkreten Beispielen in Baden leistet. Nähere Informationen zu den Projekten des Vereins findet man auf der gut gestalteten Internetseite www.lzw-verein.de. Sehr erfreulich waren die angenehme und wertschätzende Atmosphäre bei der Tagung und die Anwesenheit vieler jüngerer Teilnehmer:innen.

Auf der Tagung wurden Organisationen vorgestellt, die sich in der Weimarer Republik für die demokratische Zivilgesellschaft eingesetzt hatten und antidemokratisch-rassistischer Hetze aktiv entgegentreten waren. In einem ersten Panel am Vormittag unter dem Titel „Nie wieder Krieg!: Der Einsatz für den Frieden“ stellte Guido Grünewald die Deutsche Friedensgesellschaft  in der Weimarer Republik vor; außerdem wurden der Friedensbund Deutscher Katholiken und der Bund der Religiösen Sozialistenvorgestellt. Am Nachmittag folgten noch die Vorstellung  der Deutschen Liga für Menschenrechte, der deutschen Sektion der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit und des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. Zum Schluss wurde von Sebastian Elsbach von der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Universität Jena das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold vorgestellt.

Alle Vorträge beeindruckten durch prägnant zusammengefasstes Fachwissen ausgewiesener Expert:innen. Die Diskussionsrunden zwischen den Vorträgen waren sehr informativ und stellten gut die Bezüge zwischen den einzelnen Organisationen dar. Bei der Einschätzung der Rolle der SPD in der Weimarer Republik kam es zu einer kurzen Kontroverse. Der Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD 1931 zu einer Mitgliedschaft in SPD und DFG im Zuge der Kontroverse um den Bau des Panzerkreuzers A und die illegale Aufrüstung der Reichswehr führte zu einer Schwächung der Friedensgesellschaft und erschwerte in der Folge dadurch auch ihre antifaschistische Arbeit, z. B. ganz praktisch, weil in der Folge das Reichsbanner keinen Saalschutz für die DFG stellte (auch wenn es Beispiele gibt, wo man sich vor Ort über das Verbot hinwegsetzte). Dies führte zu einer klaren Schwächung der demokratischen Kräfte. 

Der Versuch der Tagungsorganisatorin, Verständnis für damalige Entscheidungen der SPD-Führung zu zeigen, konnte nicht überzeugen, zeigte aber indirekt eine konzeptionelle Schwäche der ansonsten so interessanten Tagung auf: Auf die Rolle der SPD-Führung bei der Gründung der Weimarer Republik wurde nicht eingegangen. Dies wäre aber wichtig gewesen, denn die von Friedrich Ebert geführte Regierung stützte sich damals doch wesentlich auf die Generale des Kaiserreichs und stellte sich gegen die soziale Revolution. Die daraus resultierenden Folgen schwächten die Weimarer Republik von Anfang an entscheidend, eindrucksvoll dargestellt zum Beispiel in dem Ende der zwanziger Jahre erschienenen und immer noch sehr lesenswerten dokumentarischen Roman „Der Kaiser ging, die Generäle blieben“ von Theodor Plivier. 

Die Arbeit der DFG in Baden  

Wie sah aber die Arbeit der Deutschen Friedensgesellschaft in der Weimarer Republik bei uns in Karlsruhe und Baden aus? Bislang wusste ich nur wenig darüber. Auf Anregung von Jürgen Schuhladen-Krämer, Historiker am Stadtarchiv in Karlsruhe, nutzte ich die digitalen Bestände der Badischen Landesbibliothek; dort sind alle Karlsruher Tageszeitungen und Adressbücher inzwischen digitalisiert und über Volltextsuche bequem von zu Hause nutzbar. Nach ein paar Klicks hatte ich über 60 Ergebnisse nur für das Karlsruher Tagblatt. So erschien dort am 24. April 1930 eine Anzeige zu dem Vortrag  „Hakenkreuz und Stahlhelm sind Deutschlands Untergang“ von Fritz Küster in Karlsruhe. 

Am 4. September 1930 berichtete das Karlsruher Tagblatt dann über einen Auftritt von Fritz Küster in Kehl, bei dem viele Nationalsozialisten im Saal waren, die versuchten „den Redner dauernd zu unterbrechen. Dieser blieb keine Antwort schuldig, worauf die Hitlerleute zu Heilrufen und zum Absingen des „Wessel-Liedes“ übergingen, um den Vortrag gänzlich unmöglich zu machen. Dabei kam es zu Tätlichkeiten, denen die rasch erschienene Schutzpolizei mit dem Gummiknüppel ein Ende bereiten musste. – Bei dem energischen Vorgehen der Polizeibeamten mochten auch einige Unbeteiligte von Schlägen getroffen worden sein, was bei dem heillosen Durcheinander wohl zu verstehen ist; glücklicherweise ging es noch mit Beulen und blutigen Köpfen ab. Nach Räumung des Saales konnte die zahlenmäßig stark verminderte Versammlung ohne weitere Zwischenfälle zu Ende geführt werden.“

Ausführlicher auf die Geschichte der DFG in der Weimarer Republik einzugehen ist hier leider nicht der Platz, es wäre sicher lohnend und nicht nur historisch interessant, wenn in einer der nächsten Ausgaben der ZivilCourage  zum Beispiel an die Zeitung „Das Andere Deutschland“ sowie die beiden bedeutenden pazifistischen Publizisten Fritz Küster und Heinrich Ströbel erinnert würde, die heute leider etwas in Vergessenheit geraten sind.

Stefan Lau ist einer der SprecherInnen der DFG-VK-Gruppe Karlsruhe.

Kategorie: Pazifismus Stichworte: 202103, DFG, Weimarer Republik

1. September 2021

Zum 100. Todestag von Alfred Hermann Fried

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 4/2021

Pazifismus

Symposium in Erinnerung an Leben und Wirken des DFG-Mitgründers

Von David Scheuing

Am 4. Mai jährte sich der Todestag des Mitbegründers der Deutschen Friedensgesellschaft Alfred Hermann Fried zum hundertsten Mal. Zum Gedenken und um der Frage nachzugehen, welche Bedeutung sein Leben und Werk für Pazifist*innen auch 100 Jahre später noch haben kann, lud die Bertha-von-Suttner-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband der DFG-VK, dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung und dem International Peace Bureau zu einer kleinen Gedenkveranstaltung.

Diese Veranstaltung war vom Impuls des früheren Mitglieds im DFG-VK-Bundesvorstand Wilfried Twachtmann ausgegangen, der in Zusammenarbeit mit dem internationalen Sprecher der DFG-VK Guido Grünewald dafür sorgte, dass Besucher*innen aus den USA, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und Deutschland an der Veranstaltung teilnahmen. Wie so viele Veranstaltungen dieser Tage fand auch diese rein digital statt; und wie bei so vielen Veranstaltungen half das zwar der Internationalität, aber nicht unbedingt der Intensität des Austausches.

Zu 100 Jahren Fried´scher Gedanken sprachen bei der Veranstaltung die Fried-Biografin Petra Schönemann-
Behrens, der Historiker Guido Grünewald und der Verleger Helmut Donat. Jede*r von ihnen beleuchtete eine spezifische Facette des Lebens und Wirkens Alfred Frieds. 

Petra Schönemann-Behrens setzte das bewegte Leben Frieds ins Zentrum und zeigte, wie eng er in der europäischen pazifistischen Bewegung um die vorletzte Jahrhundertwende eingebunden war, wie viele Kontakte er pflegte – zu Bertha von Suttner, zu schweizerischen Aktiven, zur deutschen Szene – und dass er (auf Anraten oder Drängen Suttners) durch seine Gründungsbeteiligung an der Deutschen Friedensgesellschaft 1892 aktiv war. 

Guido Grünewald lieferte einen groben Überblick über das weite Feld der Tätigkeiten Frieds – vor allem der publizistischen, außerdem die Anknüpfung an neuere Publikationen in Frieds Geist: friedenswissenschaftliche Texte und Projekte zu global Governance, Friedensjournalismus.

Aus beiden Vorträgen wurde klar: Die Bedeutung des publizistischen Wirkens Frieds auf die Bewegung und die Formalisierung und Verstetigung ihrer Ziele darf nicht unterschätzt werden. Durch zentrale Organe wie nicht zuletzt die – 1899 vom späteren Friedensnobelpreisträger gegründete und bis heute kontinuierlich publizierte – Friedens-Warte wurden pazifistische Gedanken, Theorien und Praxiswissen mindestens deutschlandweit sichtbar und damit auch debattierbar.

Sein Bemühen auch um eine internationale Vernetzung und Etablierung des expliziten Friedensjournalismus scheiterten zur damaligen Zeit – im Angesicht jüngerer Gewalttaten (u.a. dem Genozid in Ruanda mit seiner expliziten Rolle des Rundfunks) wurden diese Bemühungen seit den 1990er Jahren aber wieder verstärkt. Dennoch bleiben diese Versuche stark von den Mitteln und Motiven der internationalen Entwicklungszusammenarbeit abhängig und sind wenig von Journalismus (und seinen Medienhäusern) und der Friedensbewegung gefördert – eine politisch wie inhaltlich ungute Verengung. 

Den sehr persönlichen Auseinandersetzungen im Ersten Weltkrieg widmete sich Helmut Donats Blick auf das Feldtagebuch Frieds. Eingewoben in eine dichte Erzählung der Kriegsursachen und der Leichtigkeit, mit der die Staaten in den Krieg taumelten, schilderte Donat die Kriegserfahrungen Frieds, seine Beobachtungen zum intellektuellen und journalistischen Gleichtakt der Kriegsjahre („das Denken [ist] gleichsam auf dem Exerzierplatz eingeübt worden“) und seinen nahezu ohnmächtigen, aber oppositionellen Unglauben ob der Umstände dieses Krieges. Ein lesenswertes Zeugnis auch über 100 Jahre nach dem Ende dieses Krieges.

Mit Blick auf die bewegungsinternen Auseinandersetzungen kam auf dem Symposium nicht zum Ausdruck, inwieweit Frieds individuelles Wirken auch Einfluss auf die politische Linie der publizierten Werke hatte – inwieweit also eine stärker bürgerliche Ausrichtung (sozial, politisch, publizistisch) radikaleren Ansätzen, anarcho-pazifistischen oder der Arbeiterbewegung näherstehendere Ansätze antimilitaristischen Denkens dadurch eher unterbelichtet waren. Dennoch: der Nobelpreis ist unbestritten verdient gewesen – für Theorie wie Tat des rechtlichen Pazifismus.

Denn Fried begründete den „ursprünglichen“ oder „radikalen“ Pazifismus – seine Überlegungen für eine fundamental pazifistische Grundordnung der globalen Beziehungen. Dabei setzte er auf internationale Verrechtlichung, die Etablierung globaler Institutionen und die Entwicklung gemeinsamer Wertegrundlagen für diese Friedensorganisationen. Er setzte damit der eher emotionalen Abkehr vom Kriege ein rationalistisches Modell friedlicher Beziehungen entgegen. 

Dabei bleibt aber die Rolle und Wirkung anderer ursächlich mit unfriedlichen Verhältnissen verknüpfter Tatsachen (Wirtschaftssysteme, politische Systeme, koloniale und postkoloniale Verhältnisse) weitestgehend außen vor – diesen Bruch zu thematisieren, zu kritisieren und schließlich zu überwinden, ist eine notwendige Herausforderung für die heutigen Generationen. Nur so kann eine wirklich gewaltfreie Konflikttransformation – und eine Transformation unfriedlicher Verhältnisse gleichermaßen (so möchte man ergänzen) – gelingen. Denn trotz aller größeren internationalen Verrechtlichungen und 75 Jahren Vereinter Nationen herrschen weltweit weiterhin keine friedlichen Verhältnisse.

Für solche zu sorgen, ist auch 100 Jahre nach Frieds Tod unsere gemeinsame Aufgabe – denn: „Den Frieden allein zu lieben, reicht nicht aus. Notwendig ist tatkräftiges Handeln, um den Frieden zu errichten.“ Mögen wir zu seinem 200. Todestag Besseres berichten können.

David Scheuing ist Vorsitzender der Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK.

Auf der (neu gestalteten) Homepage der Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK sind die Vorträge der Tagung von Petra Schönemann-Behrens, Guido Grünewald und Helmut Donat dokumentiert. Die Videos können abgerufen werden unter der Adresse: www.bertha-von-suttner-stiftung.de/?p=576

Kategorie: Pazifismus Stichworte: Fried, Suttner, Suttner-Stiftung

10. Juni 2021

Aus der Geschichte lernen

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 2/2021

Pazifismus

Die historische Lektion über das zivilisatorische Minimum

Von Wolfram Wette

Auf einer Tagung der Würzburger Akademie Frankenwarte Mitte der 1990er Jahre wurden neuere Forschungsergebnisse über die Wehrmacht und den Holocaust erörtert. In der Diskussion attackierte ein weißhaariger Herr, der sich als ehemaliger Angehöriger der Wehrmacht zu erkennen gab, einen jungen Teilnehmer mit dieser Frage: „Und wie hätten Sie sich damals verhalten?“ 

Dem jungen Mann verschlug es zunächst die Sprache, weil er sich als konstruktiver Diskussionspartner auf das Ansinnen einzulassen versuchte, jedoch alsbald merkte, dass er nicht in der Lage war, eine Antwort zu geben. Statt seiner ergriff damals Susanne Miller das Wort, die bekannte Bonner Professorin für Geschichte und vormalige jüdische Emigrantin.

Sie trug mit erkennbarer Erregung vor, das sei eine ganz unpassende und falsche Frage. Denn erstens vermöge sich der junge Mann, der stellvertretend für seine Generation gesehen werden könne, gar nicht genau in die damalige Zeit – gemeint war die Zeit der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges – hineinzuversetzen. Daher sei es – zweitens – ein nutzloses Unterfangen, ihn mit der unterschwellig moralisierenden Frage zu konfrontieren, was er wohl getan hätte. Stattdessen komme es – drittens – auf etwas ganz anderes an, nämlich darauf, was der junge Mensch aus der Geschichte gelernt habe und wie er das Gelernte heute und in der Zukunft zu praktizieren gedenke.

Erhellendes Statement

Das war für viele Tagungsteilnehmer ein erhellendes Statement, auch für den Verfasser dieses Vorworts, wie schon aus der Tatsache hervorgeht, dass es ihm so präzise in Erinnerung geblieben ist. Susanne Miller hätte in Würzburg noch hinzufügen können, dass besagte Frage aller Wahrscheinlichkeit nach zu dem Zweck gestellt wurde, den Vertreter der Kriegsgeneration zu entlasten. 

Denn man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass in der von ihm aufgeworfenen Frage bereits die – anthropologisch gemeinte – Antwort mitschwang: Unter bestimmten extremen Bedingungen verlieren wir doch alle die humane Orientierung und sind nicht davor gefeit, uns an Verbrechen zu beteiligen. Also habt ihr Jüngeren kein Recht, über unser damaliges Verhalten, auch wenn es ein Versagen war, zu richten oder moralisch zu urteilen.

Besagte Frage ist also Teil des größeren Zusammenhangs der nachträglichen Rechtfertigung von Mitwisserschaft, Mitläuferschaft oder Mittäterschaft. Sie kommt nicht selten in der Aussage „Man hat doch nichts dagegen machen können!“ daher. Dank intensiver historischer Forschungen wissen wir jedoch heute, dass zumindest eine Minderheit der damals lebenden Deutschen sich verweigerte oder etwas Widerständiges zu tun versuchte. 

Man denke an die Kriegsdienstverweigerer, die Wehrkraftzersetzer, die Deserteure der Wehrmacht, an die Tausende von Menschen, die verfolgten Juden Unterschlupf gewährten und bestrebt waren, sie vor dem Tode zu retten. Nicht umsonst wurden diese gegen den Strom schwimmenden Menschen so lange totgeschwiegen und als Verräter diffamiert. Hielten sie den Mitläufern und Mittätern doch den Spiegel vor, in dem eine ganz andere Frage stand: Und was hast du getan? Nicht etwa: Was hättest du getan, wenn du damals gelebt hättest, sondern, an die Adresse der Angehörigen der Kriegsgeneration: Was hast du damals tatsächlich gedacht und getan?

Der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma, Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat sich mit unserer Frage ebenfalls beschäftigt. In ihr, vermutet er nicht ohne Grund, könne sich die Anmaßung von Zeitzeugen verstecken, die meinen, nur der könne mitreden, der dabei gewesen sei, was – methodisch betrachtet – keinerlei Sinn mache, weil sonst jegliche Geschichtsschreibung, die dem Streben nach Wahrheit verpflichtet ist, unmöglich sei. 

Weiterhin weist Reemtsma darauf hin, dass der miterlebende Zeitgenosse und der rückblickende Historiker keineswegs auf der gleichen Ebene urteilen müssten. Denn schließlich könne es „einen Zuwachs an moralischer Kompetenz in der Generationenfolge“ geben. Tatsächlich bestimmt doch unser Wissen um die historischen Fehlentwicklungen in der NS-Zeit unser heutiges und zukünftiges Denken und Handeln maßgeblich mit. 

Der Theoretiker Reemtsma wird vergleichsweise konkret, wenn er die fundamentalen Lehren beschreibt, die aus der NS-Zeit zu ziehen sind. Er nennt sie das „zivilisatorische Minimum“ und schreibt: „Wir müssen voneinander – ohne jede Nachsicht – verlangen, dass wir keine Mörder werden. Dass wir uns nicht freiwillig an Verbrechen beteiligen, dass wir andere Menschen nicht denunzieren, ihr Leben nicht zerstören.“

Lehren für die Geschichtswissenschaft

Was bedeutet diese Lehre für das methodische Vorgehen des Historikers? Selbstverständlich muss er bestrebt sein, sich in die Zeit, die er untersucht, möglichst intensiv hinein zu versetzen, um zu erklären, weshalb bestimmte Menschen so handelten, wie sie es getan haben, und nicht anders. Gleichzeitig hat er zu bedenken, dass andere Menschen sich anders verhalten und dass sie Handlungsspielräume im Sinne des menschlichen Anstands erkannt und genutzt haben. Aber er kann beim bloßen Ermitteln der Fakten nicht stehen bleiben. Eine solche antiquarische Geschichtsschreibung würde das Geschehene ja nur sprachlich verdoppeln. Auch Bewertungen sind gefordert. 

Wenn beispielsweise Heinrich Himmler in seiner berüchtigten Posener Rede vom 4. Oktober 1943 seine SS-Offiziere lobte, dass sie bei der Ermordung der Juden „anständig geblieben“ seien, weil sie diszipliniert getötet und nichts entwendet hatten, so kann diese Sentenz doch sinnvoll nur erörtert werden, wenn wir die damaligen und heutigen Moralvorstellungen miteinander vergleichen. 

Es geht gar nicht anders: Der Historiker muss auch darlegen, wie das Verhalten von Menschen in der NS-Zeit nach unseren heutigen moralischen Maßstäben zu bewerten ist. Diese Normen haben sich bekanntlich in der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Absturz der Deutschen während der NS-Zeit in die grenzenlose Inhumanität herausgebildet.

Der Schriftsteller und emeritierte Staatsrechtler Bernhard Schlink, Verfasser des Weltbestsellers „Der Vorleser“, hat neuerdings kritisiert, dass die NS-Geschichte mit heutigen Moralvorstellungen bewertet wird, und von einer um sich greifenden „Kultur des Denunziatorischen“ gesprochen. Statt zu entlarven und zu demontieren, sollten die Menschen von heute sich vielmehr in die damalige Lage hineinbegeben, denn: „Je mehr wir über das Dritte Reich wissen, desto weniger wissen wir darüber, wie damals gelebt und erlebt und was gedacht und gefühlt wurde.“ 

Schon in der Schule, kritisiert Schlink, werde statt des Verständnisses des Verhaltens im Dritten Reich dessen moralische Bewertung „eingeübt“, was die Gefahr in sich trage, dass die künftigen Generationen von dieser Zeit einfach nichts mehr wissen wollen. 

Hier scheint mir Schlink das Kinde mit dem Bade auszuschütten. Natürlich ist es Aufgabe der Historiker, sich die NS-Zeit vor Augen zu führen und sich der schwierigen Aufgabe zu unterziehen, die fließenden Übergänge zum Unrechtsstaat und zu den großen Verbrechen zu ermitteln und sich der emotionalen Lage der damals lebenden Deutschen anzunähern. Aber damit ist es nicht getan. Sie sind auch aufgefordert, die Teilhabe vieler Zeitgenossen an den damaligen Staatsverbrechen zu bewerten, und das geht nur mit den Augen und mit den Wertmaßstäben von heute, was selbstverständlich jeweils genau kenntlich gemacht werden muss.

In ihren Überlegungen zu einem angemessenen Umgang der heute lebenden Generationen mit der Zeit des Nationalsozialismus kommen die Historikerin Susanne Miller und der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma übrigens zu einem übereinstimmenden Ergebnis: 

Die Frage „Wie hätte ich mich verhalten?“ erbringt letztlich keinen Erkenntnisgewinn. Sie dient allenfalls der Entlastung desjenigen, der sie stellt. 

Die richtige Frage: „Wie soll ich mich verhalten?“

Viel wichtiger und auch viel folgenreicher ist die Frage der heute lebenden Menschen: „Wie soll ich mich verhalten?“ 

Anders ausgedrückt: Habe ich die historische Lektion über das „zivilisatorische Minimum“ für die verantwortliche Gestaltung meines gegenwärtigen und zukünftigen Lebens gelernt?

Wolfram Wette ist DFG-VK-Mitglied, Friedensforscher und emeritierter Geschichtsprofessor. Dieser Beitrag ist sein gekürztes Geleitwort zum Buch von Moritz Pfeiffer: Mein Großvater im Krieg 1939-1945. Erinnerung und Fakten im Vergleich. (Bremen 2012; ausführliche Besprechung in Forum Pazifismus Nr. 34/35/36, II-IV/2012, S. 82 ff.; https://bit.ly/3x6vYzc).

Kategorie: Pazifismus Stichworte: 202102

15. Mai 2021

Corona-Krise: Der Versuch einer Ermutigung

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 2/2021

Pazifismus

Wie können wir mehr friedenspolitische Forderungen entwickeln?

Von Stefanie Intveen

Die Kooperation für den Frieden skizzierte  am 29. Mai 2020, warum die Corona-Krise auch ein friedenspolitisches Thema ist: „Nicht nur das Virus gefährdet die Gesundheit, sondern auch die Maßnahmen gegen seine Ausbreitung bringen Gefahren für Gesundheit und Leben mit sich. Insofern ist die kritische Auseinandersetzung sowohl mit den ,Corona-Maßnahmen‘ als auch mit den Unterlassungen in der Prävention und in der Anfangsphase eine Aufgabe sozialer Bewegungen.“ 

Christine Schweitzer berichtete etwa zur gleichen Zeit: „In etlichen Ländern haben Militär und militarisierte Polizei den Lockdown zum Vorwand genommen, ihre Machtbefugnisse nicht nur auf die Pandemie beschränkt vorübergehend wie in Deutschland, sondern dauerhaft auszubauen (Ungarn) und mit Gewalt gegen Oppositionelle oder bestimmte ethnische Gruppen vorzugehen.“ 

In der DFG-VK-Gruppe Köln haben wir angefangen, uns mit der Krise auseinanderzusetzen. Natürlich forderten wir schon „vor Corona“, die staatlichen Ressourcen aus den Militärhaushalten auf den Gesundheitssektor umzulenken (#FundHealthNotWar). Es fällt uns aber schwer, die Krise aus unserer friedenspolitischen Sicht genauer zu beschreiben und präzisere Forderungen zu entwickeln. Wie viel staatliche Gewalt zur Durchsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen halten wir für angemessen? Der Versuch, hierzu eine Position zu entwickeln, führt leicht in ein auswegloses Gestrüpp wissenschaftlicher Kontroversen über das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, und die Ausgestaltung von staatlichen Schutzmaßnahmen. Denn bereits vor der „Pandemie-Erklärung“ der WHO  am 11. März 2020 zeigte sich ein scharfer Gegensatz in medizinischen Fachkreisen über genau diese Fragen, und dieser Gegensatz hält bis heute an. 

Die Bundesregierung, der Bundestag und der überwiegende Teil der privaten und öffentlich-rechtlichen Medien entschieden sich im März 2020, denjenigen Fachleuten zu folgen, die das Erkrankungsrisiko als außerordentlich hoch ansahen und Szenarien mit katastrophal hohen Opferzahlen bei fehlenden Schutzmaßnahmen entwarfen. Sie ergriffen oder unterstützten daher außerordentlich weitgehende Maßnahmen. Die Corona-Maßnahmen greifen in zahlreiche Grundrechte ein und können – als Katalysator- oder Nebeneffekt – Strukturen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft dauerhaft ändern. Gleichzeitig mit dem Start der Maßnahmen setzte eine öffentliche Diskreditierung derjenigen Fachleute und ihrer Anhänger*innen ein, die eine Minderheitsmeinung vertreten. Es entstanden zwei Lager, die sich zum Teil feindselig gegenüberstehen. Bis heute erschwert das eine konstruktive Auseinandersetzung über eine sinnvolle „Corona-Politik“.

„Länger als Wuhan: Der längste Corona-Lockdown der Welt gilt auf den Philippinen. Für Menschen, die ihre Häuser verlassen, weil sie hungern, hat der berüchtigte Präsident Duterte einen Satz übrig: ‚Erschießt sie!‘“

Die Welt, 25. Mai 2020

Beide Lager berufen sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und die Grundrechte und drücken aus meiner Sicht nachvollziehbar und berechtigt ihre Ängste aus. Der entstandene Riss zieht sich durch viele Gemeinschaften: Vereine, Familien, Betriebe, Gewerkschaften, Unternehmensverbände, Fachverbände, Kirchengemeinden, Parteien und Friedensorganisationen. Das behindert die Erarbeitung gemeinsamer konstruktiv-kritischer Positionen zur „Corona-Politik“ und kann im schlimmsten Fall zu eskalierenden Streitigkeiten oder dem Rückzug von Mitgliedern solcher Gemeinschaften führen. Gerade in der Krise sollte die Zivilgesellschaft nicht verstummen.

In der Friedensbewegung fordern wir, internationale Konflikte zivil zu bearbeiten. Hier ist nun ein nationaler Konflikt mit globaler Dimension, der uns alle persönlich betrifft. Warum sollten wir nicht versuchen, unserer Forderung selbst nachzukommen? Welchen Beitrag zur Versöhnung könnten wir als Friedensbewegung leisten? Wie sollte über das strittige Thema gesprochen und verhandelt werden? In unserer Kölner Gruppe gibt es ein breites Meinungsspektrum zur Corona-Krise. Wenn hier oder in anderen Gruppen eine Versöhnung gelingt, kann sie Modellcharakter bekommen. Daher sind auch kleine Ansätze wertvoll.

Mit dem Begriff „Versöhnung“ meine ich hier nicht die Einigung auf eine bestimmte fachliche Sicht des Erkrankungsrisikos, sondern nur die Einigung auf einen Prozess und auf Grundlagen für die Diskussion über das Thema. Als Friedensbewegte eignen wir uns dafür, weil wir uns an den in der Charta der Vereinten Nationen verbrieften Menschenrechten orientieren und uns für Großkonflikte interessieren. Wir eignen uns auch deshalb, weil es bei uns Friedensfachkräfte, Mediator*innen und ähnlich geschulte Fachleute gibt, die sich mit ziviler Konfliktbearbeitung auskennen.

Moderierte Gesprächsformate können einen partnerschaftlichen Austausch auch bei gegensätzlichen Auffassungen und Interessen ermöglichen. Eine Übung zum Wechsel der Konfliktperspektive beispielsweise macht die Gefühle, Ängste und Wünsche der Gruppenmitglieder für alle sichtbar. Als erfreuliches Nebenergebnis lernen sich die Teilnehmer*innen besser kennen und können die Gründe für gegensätzliche Meinungen besser nachvollziehen. Das funktioniert auch bei Videokonferenzen. Das tiefere Verständnis öffnet den Raum für die Entdeckung von Übereinstimmungen und die Entwicklung politischer Forderungen.

„Konflikte können sich zu gewalttätigen Kämpfen entwickeln, sie können aber auch positive Entwicklungen auslösen. Die Chancen dafür steigen mit Fähigkeiten zum konstruktiven Konfliktaustrag.“

Hanne-Margret Birckenbach

Solche Forderungen können sich an fünf Prinzipien der Friedenslogik orientieren (nach Hanne-Margret Birckenbach): Gewaltprävention, Konflikttransformation, Dialogverträglichkeit, normorientierte Interessenentwicklung und Fehlerfreundlichkeit. 

Die Themenfelder und Erfahrungen aus „klassischen“ Bereichen der Friedensbewegung, die in der Corona-Krise berührt werden, sind reichlich vorhanden: multinationale Organisationen, Lobbyismus, internationale Solidarität, Medien, Gewaltenteilung, Verfassungsrecht, Ethik, Wirtschaftspolitik, Kinderrechte, Menschenrechte usw. Was könnte beispielsweise „internationale Solidarität“ in der Corona-Krise genauer heißen? Welche friedenspolitischen Forderungen können sowohl Gegner*innen als auch Befürworter*innen der Corona-Maßnahmen übereinstimmend erheben?

Auch gegensätzlich bleibende Auffassungen sind es wert, notiert zu werden. Ein Friedensfreund aus Düren erklärte mir, in den 1980er Jahren sei es weitverbreitete Praxis in der Friedensbewegung gewesen, „Konsens-Dissens-Papiere“ zu schreiben. Man schreibt darin auf, welche Positionen man teilt und wo man unterschiedlicher Auffassung ist. Das habe geholfen, einer Zersplitterung der Friedensbewegung vorzubeugen und in der Sache weiterzukommen. 

Warum sollte das nicht auch heute möglich sein?

Stefanie Intveen ist eine der SprecherInnen der DFG-VK-Gruppe Köln.

Die DFG-VK Gruppe Köln hat 126 Mitglieder. Etwa fünfzehn beteiligen sich regelmäßig an den monatlichen Treffen und Aktionen. Die Gruppe unterstützte im April 2020 eine Klage gegen die Stadt Köln, die den Ostermarsch-Auftakt verboten hatte. Im Dezember 2020 unterstützte sie erfolgreich eine weitere Klage gegen die Stadt Köln, die die Höchstzahl der Teilnehmenden bei der Veranstaltung „Abrüsten statt Aufrüsten!“ einschränken wollte. 

Zunächst verspürte die Gruppe keinen Wunsch, sich intensiver mit der „Corona-Krise“ auseinanderzusetzen. Bei ihrem Gruppentreffen am 27. August 2020 erhob sie zum ersten Mal ein Meinungsbild der zwölf anwesenden Mitglieder. Der Wunsch nach Aussprache brannte vielen unter den Nägeln, denn die zweite große „Querdenken-Demo“ in Berlin, die unmittelbar bevorstand, war von den Behörden verboten worden. 

Es zeigte sich, dass die Sorgen und Einschätzungen stark auseinanderliefen. Manche hielten die Regierungspolitik für sinnvoll und notwendig, andere für übertrieben und gefährlich. Bei dem virtuellen Gruppentreffen am 25. Februar 2021 war die „Coronakrise“ der Themenschwerpunkt.

Kategorie: Pazifismus Stichworte: 202102, Corona

7. April 2021

Beitrag zur Diskussion über Niemöller (01)

Online-Beitrag vom 7. April 2021

Pazifismus

Wir haben aktuell dringendere Aufgaben als die Beschäftigung mit Niemöller

Von Thomas Rödl

Martin Niemöller bei einer Kundgebung zum Antikriegstag der DFG-IdK in München Ende der 1960er Jahre (Foto: Archiv des Helmut-Michael-Vogel-Bildungswerks der DFG-VK)

(Red.) In der ZivilCourage 1/2021 ist ein Beitrag von Hauke Thoroe erschienen, der sich nach der Veröffentlichung von Benjamin Ziemann: Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition (München 2019) kritisch mit Leben und Werk des früheren Präsidenten der DFG-VK auseinandersetzte. Dazu sind zahlreiche Zuschriften eingegangen, die als LeserInnenbriefe in der ZivilCourage 2/2021 veröffentlicht werden/wurden. Die umfassendste und umfangreichste Reaktion ist von Thomas Rödl, die hier als Diskussionsbeitrag online veröffentlicht wird.

Die Kirchen haben sich mit den Nazis arrangiert. Niemöller und Bonhoeffer und ein paar weitere waren eben die Ausnahme. Damit könnte man das bewenden lassen. Jetzt nachträglich zu sagen, was sie hätten besser machen können, steht uns nicht zu. Wer wirklich Widerstand geleistet hat wurde schon vor 1933 von der SA oder nachher in den KZs von der SS erschlagen. Diejenigen, die Kohle hatten und Verbindungen ins Ausland, hatten sich rechtzeitig abgesetzt. 40 Prozent der Deutschen hatten Hitler gewählt, noch mehr sind ihm nachgelaufen zumindest in den Anfangsjahren. Der Rest hat sich arrangiert. In dieser Phase musste sich ein Mann wie Niemöller doch sehr genau überlegen, was er öffentlich sagen kann, was er bewirken kann, wenn er im KZ erschlagen wird. Von seinem Kirchenvolk war keine Hilfe zu erwarten, denn die Evangelischen dürften zum großen Teil Hitler gewählt haben. 

Wer weiß, was wir gerade alles falsch machen und wie die Historiker in 50 Jahren unsere Texte verstehen werden?

Judenverfolgung

Die Juden wurden sofort nach der Machtergreifung diskriminiert, schikaniert, ausgegrenzt und entrechtet. Alles bekannt. Die KZs, z.B. Dachau, waren voll mit Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewohnheitsverbrechern, Homosexuellen, Sinti und Roma (Zigeuner darf man nicht mehr sagen) und „Bibelforschern“ (= Zeugen Jehovas, die einzige christliche Gruppe die sich wirklich verweigert hat). Erst 1938 im Zuge der Reichspogromnacht wurden dann viele Juden nach Dachau eingeliefert. Dachau und die anderen KZs im Reich waren keine Vernichtungslager so wie später Auschwitz u.a. Wie die „Endlösung der Judenfrage“ gedacht war, konnte 1938 niemand wissen. Das wurde erst im späteren Verlauf des Krieges so geplant und umgesetzt. Heute haben wir die Kenntnis über die Verfolgung und Ermordung der Juden in den von der Wehrmacht besetzten Ländern, bis hin zum Holocaust. Das war 1938 ff. einfach nicht vorstellbar! Als die Nazis 1942 ff. die Juden aus dem Reich deportiert haben, erzählten sie ihnen was vom neuen Siedlungsgebiet für die Juden im Osten. Nur so hat das funktioniert.

Völkische Motivation für die Friedensbewegung?

1971 bin ich der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) beigetreten und habe bei den Aktionen „Amis raus aus Vietnam“ mitgemacht. Am Infostand habe ich die richtigen alten Nazis kennengelernt, die uns wahlweise „nach Dachau“, „ins Arbeitslager“ oder „in die Gaskammer“ schicken wollten. Bei der IdK waren die Menschen, die das „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ ernst genommen, „das andere Deutschland“ glaubhaft repräsentiert haben. Als erstes weigern wir uns, für Deutschland Soldat zu werden. Internationale Solidarität, natürlich, mit dem Volk von Vietnam, mit den Völkern, die für ihre Befreiung kämpfen. „Wir maßen uns nicht an, die Mittel des Freiheitskampfes zu verurteilen“ im Programm der DFG-VK von 1974. Wir wollen gewaltfreie Konfliktlösung.

Der Protest gegen den Krieg hierzulande war unser Beitrag, um einen in Gang befindlichen Völkermord zu verhindern, um eine politische Lösung zu unterstützen. 

Den Niemöller als Pfarrer empfand ich damals völlig deplatziert inmitten der Alt-68er, langhaarigen Hippies, Anarchisten, Kommunisten, Atheisten, Radikalen, die wir sein wollten. Aber er konnte gut reden und hat uns motiviert und uns das Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelt. Er repräsentierte die kleine Minderheit der Deutschen, die es gewagt hatten, Hitler zu widersprechen. Details uninteressant, wir waren eine Aktivgruppe der IdK, keine Historiker oder Völkerkundler. Hätte er nur eine winzige Andeutung gemacht, er würde der Ideologie der Nazis nahestehen, dann hätte er nicht reden dürfen bzw. dann wäre er nicht zum Präsidenten gewählt worden. Er als Kirchenmann mag vom gerechten Krieg gesprochen haben, im Programm der DFG-VK von 1974 (und in allen späteren Programmen) findet sich der Begriff nicht. Wie viele glauben heute noch an den gerechten Krieg, nennen das aber nicht so?

Zitat Hauke Thoroe (S. 30): „Die Argumentation mit einem völkischen Referenzrahmen, der Sklaventum nicht an einer individuellen Positionierung in einer Gesellschaft festmacht, sondern an der Souveränität eines angeblichen Volkes…“ Wie positioniert sich der Sklave? Da kann ich intellektuell leider nicht mithalten. Hat der Niemöller mit dem anderen Sklaven geredet? Der Sklave hatte meist keine Gelegenheit, Briefe zu schreiben. Unbestreitbar haben sich Menschen in den Kolonien zusammengeschlossen und sich bewaffnet und die Kolonialherren kollektiv verjagt. Nicht individuell positioniert. Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ja natürlich, Was denn sonst? „Unsere Epoche ist gekennzeichnet … durch das Bestreben vieler Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, ihre volle Unabhängigkeit zu erringen“ (aus dem Programm von 1974). Noch dazu auf Vietnam bezogen, ein Volk (!) mit Kultur und Jahrhunderten staatlicher Strukturen vor der Eroberung durch Frankreich. Völkisch? Eurozentrismus? Schwachsinn! „Wir die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen künftige Geschlechter vor der Geisel des Krieges zu bewahren“. Steht so in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen. „Wir stehen für die Überwindung des Völker- und Rassenhasses“. Satzung der DFG-VK, Paragraf 2 Absatz 2. Wie sollen wir das sonst formulieren? 

Das deutsche Volk ist vom Atomtod bedroht. Stimmt leider, damals wie heute. Ist jetzt die Benutzung des Begriffs Volk ein Indiz für völkische Denkweise? War die Nationale Volksarmee der DDR eine völkische Armee? Gibt’s jetzt eine neue Sprachverordnung, die besagt, dass der Begriff Volk nicht mehr verwendet werden darf?

Wiederbewaffnung

„Die Ablehnung der Wiederbewaffnung sei national wenn nicht nationalistisch motiviert“. Sagt das der Herr Ziemann? 

Das zentrale Motiv für die Ablehnung der Wiederbewaffnung war doch die Stimmung „Nie wieder Krieg!“. Die Deutschen waren unfrei in der Nazi-Diktatur, unbestreitbar, und die BRD als Staat 1949 ff. war nicht souverän, sondern unter der Kontrolle der Siegermächte mit expliziten Sonderrechten. 

Fakt ist: Die Mehrheit der politischen Repräsentanten der nationalistischen und konservativen Strömungen in Westdeutschland, nämlich CDU und CSU (und andere Rechte) wollten die „Westintegration“ und die Wiederaufrüstung; als wichtigen Schritt zurück zur Souveränität. Damit natürlich eng verbunden ab 1960 der Wiederaufbau der Rüstungsindustrie in Westdeutschland. Der Widerstand gegen die Remilitarisierung wurde maßgeblich betrieben von der KPD, die Volksbefragung gegen die Wiederaufrüstung verboten, dann die KPD als solche. Die einstigen Widerstandskämpfer gegen die Nazis unter Adenauer wieder im Knast. Bekanntlich hat Adenauer schon vor der Gründung der BRD den USA eine westdeutsche Armee versprochen – gegen den sozialistischen Block, der sich da grade gebildet hatte. 

„Wiederbewaffnung“ und „Westintegration“ wurden von den Nationalkonservativen verknüpft, aber auch von den Siegermächten, weil eine Wiederaufrüstung Westdeutschlands nur unter der Bedingung der Unterwerfung, oder schöner gesagt Eingliederung in die Militärstrukturen der Nato akzeptabel war. Die Bundeswehr war nicht selbständig handlungsfähig, der Nato-Oberkommandierende ist immer ein US-General.

Aber „nationalistisch“ ist ja nicht gleich faschistisch gleich rassistisch gleich militaristisch gleich antisemitisch gleich Befürwortung des Holocaust. Im deutschen Faschismus war diese Kombination gegeben. Ein merkwürdiges Argument für die Wiederbewaffnung. Wenn die Ablehnung der Wiederbewaffnung nationalistisch ist, dann haben diese Nationalisten die Vorstellung eines Staates ohne Armee? Wär doch mal was Neues. Friedliche Nationalisten sozusagen. „Du darfst aber keine nationalistischen Motive haben“? Ist das ein Axiom von Prof. Ziemann oder von Hauke bzw. was soll das über Niemöller sagen? Ist etwa jede/r ein/e NationalistIn, der/die sich Gedanken macht, wie sein/ihr Staat sich in den internationalen Beziehungen verhalten soll? Sich einen souveränen Staat wünscht, der sich nicht anderen imperialistischen Mächten unterordnet und das Völkerrecht akzeptiert. Das ist doch entscheidend: Überstaatliche Rechtsordnung, friedliche Beilegung von Streitigkeiten, Rüstungskontrolle. Kein Staat, der seine Interessen auf Kosten von anderen Staaten mit Militärgewalt durchsetzt. Pazifismus ist gleich Internationalismus, per Definitionem. Hitler hat gegen Juden, Bolschewisten, Sozialdemokraten und Pazifisten polemisiert. Der Gedanke der internationalen Verständigung ist der schärfste intellektuelle Gegner des Nationalismus, der Nazi-Ideologie.

Neutralität

Eben ein Deutschland, das nicht mit Militärmacht nach der Weltherrschaft giert. Und auch nicht Seite an Seite mit den Amis gegen die Sowjetunion marschiert. 

„Ein großer Teil der aktiven Gruppen (der Internationale der Kriegsdienstgegner) unterstützte die Neutralisierungsbestrebungen der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) Gustav Heinemanns und setzte sich für Gespräche mit den übrigen östlichen Staaten ein.“ https://www.dfg-vk.de/unsere-geschichte

So, wie es die bekannte „Stalin-Note“ 1952 angeboten hatte. Neutralität wäre möglich gewesen, hätte man im Westen die Stalin-Note ernst genommen; evtl. als bewaffnete Neutralität, wie eben Österreich, die Schweiz oder Schweden. Selbstverständlich wäre das die bessere Variante gewesen. Ohne 10 000 Atomwaffen auf deutschem Boden, Entschuldigung, auf dem Territorium der BRD und der DDR. Das ist doch nicht nationalistisch oder gar völkisch im Sinne von Hitlers Ideologie der Rassereinheit. 

Mit der Wiederaufrüstung, dem Beitritt zur Nato, der Restauration der Rüstungsindustrie haben sich doch gerade die alten Nazis und die Militaristen durchgesetzt, die immer noch in Amt und Würden und im Apparat waren, die „Elite in Wirtschaft und Staat“, die die Nazis an die Macht gebracht haben. Denen Hitler versprochen hat, den Bolschewismus bzw. die Sowjetunion zu beseitigen. Beitritt zur Nato: Ein Bündnis der deutschen Eliten mit den USA, gemeinsam gegen die Sowjetunion, um die DDR und die verlorenen Ostgebiete wieder „heim ins Reich“ holen. Jetzt reden sie immer lauter von „strategischer Autonomie“, einer Militärmacht Europa unter deutscher Führung, zusammen mit Frankreich, das sollte uns interessieren.

Ich kann mich nicht erinnern, dass Niemöller öffentlich für eine nationale Armee plädiert hat, sondern für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit, für allgemeine Abrüstung und kollektive Sicherheit – in Übereinstimmung mit dem Programm der DFG-VK von 1974. Diese politischen Vorstellungen gilt es zu untersuchen, nicht ob er vom „deutschen Volk“ gesprochen hat.

Fazit

Niemöller war eher die Gallionsfigur, nicht der Steuermann oder gar der Käpt´n, um im Bild zu bleiben. Die Grundsatzerklärung der WRI hat mich überzeugt, nicht eine einzelne Persönlichkeit. Wir waren keine Fans, er war keine Lichtgestalt. (Denn der Begriff Lichtgestalt ist einzig auf Franz Beckenbauer anzuwenden.) Niemöller ist Geschichte. Was ist die Erinnerungskultur der DFG-VK, keine Ahnung. https://www.dfg-vk.de/unsere-
geschichte
– hier wird Niemöller mit einem Halbsatz erwähnt. Für unsere aktuellen praktischen Fragen folgt aus dieser Biografie des Prof. Ziemann gar nichts. 

Was bleibt, ist Verwirrung: Warum war jetzt Niemöller eigentlich im KZ? Die Nazis waren Antisemiten, die Nazi-Gegner auch? Die Nazis waren völkisch, die Friedensbewegung auch? Wer von „Volk“ und „Völkern“ redet, denkt völkisch und ist also ein Nazi? Die Nazis waren nationalistisch, die Gegner der Wiederaufrüstung auch? Völker hört die Signale und ignoriert solchen Unfug!

Ziemann arbeitet offensichtlich mit der Bundesstiftung Aufarbeitung zusammen, deren Hauptanliegen scheint zu sein, alles schlecht zu reden, was in der DDR war. Der Versuch die Friedensbewegung insgesamt schlecht zu reden, passt gut in das Zeitalter der „Überwindung des Nachkriegspazifismus“ und ins Zeitalter der antirussischen Propaganda von Staats wegen.

Jetzt hab ich doch noch was gelernt: Keine Briefe schreiben! Nicht verraten wie Ihr wirklich denkt – es könnte gegen Euch verwendet werden. Nur Dokumente hinterlassen, die belegen, dass wir von gar nix was gewusst haben. Der Gedanke von Zensur und Gedankenkontrolle ist immer noch lebendig. Wer weiß, wer in 20 oder 30 Jahren an der Macht ist?

Im Jahr 2070 ff. werden sich die Historiker der Volksrepublik China (verflixt, schon wieder das Volk!) vielleicht mit der Frage beschäftigen, wieso das christliche zivilisierte Abendland den Massenmord an muslimischen Menschen im Irak, Jemen, Syrien, Libyen, Afghanistan u.a. Ländern seit 2001 teils toleriert, teils ignoriert hat. Oder warum sich die BürgerInnen (jetzt korrekt!) in der Bundesrepublik Deutschland nicht gegen den begrenzten Atomkrieg gewehrt haben. Will besagen: Wir haben aktuell dringendere Aufgaben.

Thomas Rödl ist seit Jahrzehnten aktiv im DFG-VK-Landesverband Bayern. Dieser Beitrag wird/wurde veröffentlicht als Leserbrief in der ZivilCourage 2/2021 und bezieht sich auf den Beitrag „Wie viel Antisemitismus kann man übersehen?“ von Hauke Thoroe in ZivilCourage 1/2021.

Kategorie: Pazifismus Stichworte: Niemöller, Rödl, Thoroe

28. März 2021

Wo viel Licht ist, gibt es auch viel Schatten

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 1/2021

Pazifismus

Zum Beitrag von Hauke Thoroe über den früheren DFG-Präsidenten Martin Niemöller

Von Stefan Philipp

Lieber Hauke Thoroe,

als Du angekündigt hattest, eine Besprechung der Ziemann-Biografie über Martin Niemöller liefern zu wollen, habe ich schnell zugesagt. Dass der frühere U-Boot-Kommandant in der kaiserlichen Marine, spätere NSDAP-Wähler, dann KZ-Häftling und nach dem Zweiten Weltkrieg Kirchenpräsident sich schließlich zum Pazifisten wandelte und weltweit bekannt und geachtet war … ein solcher Mensch kann mit einigem Recht als „Jahrhundertgestalt“ bezeichnet werden. Dass er auch noch Präsident der DFG-VK und bis zu seinem Tod 1984, vor bald vier Jahrzehnten also, Ehrenpräsident war, macht ihn auch und gerade für die LeserInnen der ZivilCourage, von denen viele mit dem Namen Niemöller wenig anfangen dürften, interessant.

Dass nun für jemand wie Dich aus der Gruppe der Unter-35-Jährigen, der auch erst zwei Jahre DFG-VK-Mitglied ist, die Lektüre des Ziemann-Werks „verstörend“ ist, das kann ich gut verstehen. Auch wenn mir durchaus einiges, was Du aus der Biografie darstellst, neu war, so sind doch die grundsätzlichen Fakten kein Geheimnis und waren es in der DFG-VK auch nicht. Ich erinnere an die Veröffentlichung eines Beitrags von mir in der ZivilCourage Nr. 1/2017 anlässlich des 125. Geburtstages von Niemöller (www.dfg-vk.de/files/zivilcourage/ZC-01-17-WEB.pdf). Darin sind auch seine Schattenseiten skizziert. 

Diese können, sollen und dürfen benannt werden; unbedingt. Du sprichst von einer „Beißhemmung“. Die braucht es aus meiner Sicht nicht. Viel mehr sollten wir ein realistisches, und damit differenziertes Bild entwickeln. Frei nach Goethe: Wo viel Licht ist, gibt es auch viel Schatten. Allerdings dürfte das realistische Bild nicht schwarz-weiß sein, sondern zahlreiche und farbige Schattierungen dazwischen enthalten. Um das von Dir gezeichnete Bild bunter zu gestalten, habe ich einige wenige Aspekte näher betrachtet.

Zur zentralen Kritik

Eine zentrale Kritik von Dir an Niemöller ist, dass er sich als Pastor und Funktionär der Bekennenden Kirche zwar gegen die Anwendung des „Arierparagrafen“ im Bereich der evangelischen Kirche wandte, nicht aber gegen die Diskriminierung und Entrechtung von Juden insgesamt. Und zweitens, dass er und die Bekennende Kirche nicht den Schritt von der Verweigerung zum Widerstand gegen das Nazi-Regime gegangen seien. Was Du dazu, auf Ziemann gestützt, an Fakten darstellst, ist sicherlich richtig. Dass ein anderes Verhalten von Niemöller und seiner Kirche wünschenswert und politisch richtig und notwendig gewesen wäre, ist klar. Es ist aber die Frage, ob man das wirklich erwarten durfte und konnte. Und das erscheint mir zweifelhaft.

Schon im Neuen Testament heißt es im Brief des Apostels Paulus, geschrieben in der Mitte des ersten Jahrhunderts, an die christliche Gemeinde in Rom, dem sog. Römerbrief, im 13. Kapitel in den ersten beiden Versen: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen.“ 

Das ist gewissermaßen christlich-kirchliche DNA, dass sich christliche Religion und Kirche nicht gegen die „weltliche“, aber „von Gott“ eingesetzte Obrigkeit wenden und für politsche Veränderungen kämpfen.

Durch die konstantinische Wende im 4. Jahrhundert wurde das Christentum zur Staatsreligion, seitdem gab es  die Verbindung von „Thron und Altar“. 

Die protestantischen Kirchen sind ein Resultat der durch Martin Luther ausgelösten Reformation. Noch heute ist das Augsburger Bekenntnis aus dem 16. Jahrhundert eine verbindliche Bekenntnisschrift.   In dessen Artikel 16
heißt es, „dass alle Obrigkeit in der Welt und geordnetes Regiment und Gesetze gute Ordnung sind, die von Gott geschaffen und eingesetzt sind“ (weshalb übrigens „Christen … rechtmäßig Kriege führen … können“). 

Vor diesem Hintergrund und der obrigkeitsstaatlichen Tradition der evangelischen Kirche ist der „Kirchenkampf“ und die Entstehung der Bekennenden Kirche zu sehen. Die Nazi-Ideologie gründete auf einer angeblichen Volksgemeinschaft nach dem Motto „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Opposition wurde zum Verbrechen, alle gesellschaftlichen Bereiche wurden gleichgeschaltet, die Nazis sprachen von einem „positiven Christentum“ und hätten gerne eine zentral regierte Reichskirche gehabt. 

Gegen diesen Versuch der Gleichschaltung wurde die Bekennende Kirche gegründet. Ihre theoretische Grundlage war die Barmer Theologische Erklärung von 1934, die gegen den nationalsozialistischen Totalitätsanspruch z.B. diese These setzte: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären (…).“ Politischer Widerstand lag der Bekennenden Kirche und den meisten ihrer AnhängerInnen fern – mindestens in den Anfangsjahren nach 1933. Später gab es dann einige, die aus ihrem Glauben die Konsequenz des aktiven Widerstands gezogen haben.

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen …“

Dieser vielleicht berühmteste Ausspruch Niemöllers endet so: „Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Auch wenn diese Sätze, wohl erstmals in Reden ab 1946 formuliert, kein Aufruf zu einem
vielleicht zukünftig nötig werdenden Widerstand sind, so sind sie doch nicht anders zu verstehen als das Eingeständnis eines Fehlers nach der Etablierung des Nazi-Staates. 

Ich erinnere mich, dass dieses Niemöller-„Gedicht“ in meiner Jugend in den 1970er Jahren, als ich in der evangelischen Jugendarbeit aktiv war und mich dann in der Friedensbewegung engagierte, große Bedeutung hatte. Für uns brachte es eine Haltung zum Ausdruck, die wir für unbedingt richtig hielten und als Handlungsaufforderung verstanden: zu Unrecht nicht schwei-
gen und dagegen aktiv werden.

Nun gibt es immer wieder Streit darüber, ob Niemöller auch „die Juden“ darin einbezogen hat im Sinne von „Als die Nazis die Juden holten“. Auch Du, Hauke, thematisierst das ja in Deinem Text und weist darauf hin, dass Ziemann keine autorisierte Fassung gefunden hätte, in der „die Juden“ genannt worden wären. Mir scheint dieser Streit einerseits akademisch zu sein und vielleicht auch ein Element in der beabsichtigten „Demaskierung“ Niemöllers als Antisemit. Ein solcher war er sicher jahre-, wenn nicht jahrzehntelang – so, wie viele, wenn nicht die meisten Deutschen. Du hast ja nachvollziehbar dargestellt, wie sich sein völkischer Antisemitismus über einen lutherischen Anti-Judaismus zur kulturellen Judenfeindlichkeit entwickelt hat. Das macht es natürlich nicht besser, sondern bleibt eine tiefschwarze Schattenseite. 

Bezüglich des Gedichts gibt es aber noch Folgendes zu sagen: Die „Abholung“ und Inhaftierung in Lagern von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern begann direkt nach der Machtübernahme 1933. Die Verfolgung, Inhaftierung, Mundtotmachung und Ermordung politischer Gegener setzte sich in den Jahren danach fort. 

Jüdische Deutsche wurden entrechtet, gedemütigt und aus dem öffentlichen und gesellschaftlichen Leben verdrängt und in, wenn auch vielen, Einzelfällen misshandelt und getötet. Die Vernichtung der deutschen und europäischen Juden kündigte Hitler 1939 in einer Reichstagsrede im Januar an und praktizierte sie im Schatten des von Deutschland begonnenen Krieges. Zu diesem Zeitpunkt war Niemöller bereits seit zwei Jahren im KZ und als öffentliche Stimme zum Schweigen gebracht.

Die Verunglimpfung Georg Elsers

Als „verstörend“ bezeichnest Du, dass und wie lange Niemöller den Widerständler Georg Elser verleumdet hat, der für den 8. November 1939 ein Spengstoff-Attentat in München vorbereitet hatte, bei dem Hitler und ein großer Teil der NS-Führung getötet werden sollten, das aber knapp scheiterte. Hier ist Niemöller einer klassischen Verschwörungstheorie aufgesessen und hat diese weiterverbreitet. Strukturell Ähnliches erleben wir ja nun auch in Pandemiezeiten und dass wissenschaftliche Erkenntnisse Verschwörungstheoretiker nicht von ihren Märchenerzählungen abbringen. Dass soll Niemöller keineswegs entschuldigen. 

Aber ich könnte mir vorstellen, dass er in seiner jahrelangen Haftzeit im KZ so von objektiven Informationen abgeschnitten war, dass ihm „Lagertratsch“ in diesem Fall plausibel erschien und sich das so bei ihm verfestigte, dass er auch nach der Befreiung bei diesem „Geschwurbel“ blieb. Im Übrigen war er ja beleibe nicht der Einzige, der in der Beurteilung Elsers falsch lag. Wenn ich das richtig sehe, dann dauerte es Jahrzehnte, bis die historische Forschung den Sprengstoff-Anschlag Elsers als den Widerstandsakt eines Einzelnen belegt hatte. Und dann dauerte es ja bis in die 1990er Jahre, bis seine Tat in der offiziellen Gedenkkultur der Bundesrepublik gewürdigt wurde.

Atomtod und Friedensbewegung

Deine Behauptung, Niemöllers Engagement für und in der Friedensbewegung sei „völkisch motiviert“, halte ich für sehr verkürzt und nicht hinreichend belegt. Nach der militärischen Befreiung vom Faschismus war Deutschland ein in vier Besatzungszonen geteiltes Land. Nach der Gründung der BRD im Mai 1949 und der DDR im Oktober 1949, beide beschränkt in ihrer Souveränität, verlief zwischen diesen die Grenze zwischen den beiden Blöcken, der westliche angeführt von den USA, der östliche von der Sowjetunion. In einem Krieg wäre die beiden deutschen Staaten das – vielleicht atomare – Schlachtfeld gewesen. In dieser Situation vor dem drohenden Atomtod zu warnen und sich dagegen auszusprechen, dass die beiden deutschen Teilstaaten zu Frontstaaten der sich feindlich gegenüberstehenden Blöcke werden, hat einerseits sicherlich mit einem nationalen Interesse zu tun, ist aber andererseits auch Ausdruck praktischer Vernunft (wenn man staatliche Verfasstheit als Ordnungsrahmen akzeptiert). Ich will nur daran erinnern, dass die Gesamtdeutsche Volkspartei der 1950er Jahre als der parteipolitische Ausdruck dieses Denkens getragen wurde von Menschen wie Gustav Heinemann (später SPD-Bundespräsident), Johannes Rau (später SPD-Bundespäsident), Erhard Eppler (später SPD-Bundesminister), Robert Scholl (Vater der Geschwister Scholl).

Fans

Dass Du die Unterstützer und Anhänger Niemöller durchgängig als Fans bezeichnest, finde ich bösartig. Das Wort leitet sich vom lateinischen „Fanaticus“ ab, was sich mit „in rasende Begeisterung versetzt“ übersetzen lässt, sowie vom englischen „Fanatic“, „eifernd“ bedeutend.

Soweit nur einige kurze Bemerkungen zu Deinem ausführlichen Text. Ich bin Dir dankbar für diesen Anstoß und hoffe, dass ihn nun weitere DFG-VK-Mitglieder aufnehmen und sich äußern.

Viele Grüße von Stefan Philipp

Kategorie: Pazifismus Stichworte: 202101, DFG-VK, Niemöller

28. März 2021

Wie viel Antisemitismus kann man übersehen?

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 1/2021

Pazifismus

Eine kritische Auseinandersetzung mit der DFG-VK-„Lichtgestalt Martin Niemöller

Von Hauke Thoroe

Gründungsurkunde der DFG-VK von 1974 mit der Unterschrift Niemöllers als Präsident

Als einer von wenigen Prominenten hat Martin Niemöller einen festen Platz in der Erinnerungskultur der DFG-VK. Auch aus dem Gedenkkanon der Bundesrepublik ist der Dahlemer Pfarrer nicht wegzudenken. Er sei widerständig gegen die Judenverfolgung gewesen und habe nach 1945 einen großen Beitrag zur Anerkennung und Aufarbeitung der deutschen Schuld geleistet. Nach der Lektüre der 600 Seiten starken Biografie „Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition“ (München 2019) von Benjamin Ziemann drängt sich einem der Schluss auf, dass dies eine sehr wohlwollende Interpretation sein könnte. Triggerwarnung: Der Text zitiert antisemitische Hetze.

Der Autor Benjamin Ziemann ist Professor für Neuere deutsche Geschichte an der englischen Universität Sheffield. Er forscht zu kirchlichen und militärischen Themen. Bei der Betrachtung Niemöllers liegt sein Hauptaugenmerk auf dem Kirchenkampf. Niemöllers Zeit in der Friedensbewegung schenkt der Autor verhältnismäßig wenig Beachtung. Im Archiv der DFG-VK ist er nicht gewesen, diesen Bereich rekonstruiert der Autor aus anderswo archivierten Briefwechseln und Tagebucheinträgen. Das ist schade, aber vielleicht verständlich. Denn Niemöller ist ja nicht berühmt, weil er in der DFG-VK war, sondern als Prominenter zur Friedensbewegung dazu gestoßen.

Ich habe versucht, ein angemessenes Resümee zu formulieren. Leider lässt mich die Lektüre der Biografie vor allem verstört zurück. In der Geschichtswissenschaft findet eine breite Kontroverse statt, welche Formen von Dissidenz in Nazi-Deutschland als „Widerstand“ gelten sollen und welche lediglich als „Verweigerung“ zu bewerten seien. Angesichts dessen, dass man im Nationalsozialismus auch bei „Verweigerung“ ruckzuck tot sein konnte und diese Niemöller letztlich auch für sieben Jahre in „Schutzhaft“ brachte, habe ich deutliche „Beißhemmungen“, mir ein Urteil anzumaßen. 

Damit eine historische Person zur Figur der Zeitgeschichte wird, ist neben dem konkreten Wirken des jeweiligen Menschen auch die Rezeption durch Öffentlichkeit und Publikum entscheidend. Dieses Publikum ist (mittlerweile mehrheitlich) genau wie ich mit der „Gnade der späten Geburt“ gesegnet. Deshalb frage ich mich, warum Niemöllers Fans ihn nicht kritischer hinterfragt haben. Benjamin Ziemann zeigt auf, dass es dazu reichlich Anlass gegeben hätte.

Widerstand gegen die Judenverfolgung?

Das öffentliche Bild von Niemöller als Kämpfer gegen die Judenverfolgung stützt sich vor allem auf die angebliche Ablehnung des sogenannten „Arierparagrafen“. Das antisemitische „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde im April 1933 erlassen und schloss unerwünschte Personen vom Öffentlichen Dienst aus. 

Der Protest hiergegen brachte Niemöller von 1938-45 ins Konzentrationslager, zunächst nach Sachsenhausen und dann bis 1945 nach Dachau. Dabei war Niemöller 1933 keinesfalls eine grundsätzliche Gegner*in des Nationalsozialismus, im Gegenteil, er war ein „Sympathisierender mit der NSDAP“ der die NS-Politik unterstützte (S. 372; hier und im Folgenden beziehen sich die angegebenen Seitenzahlen immer auf die Ziemann-Biografie). 

Bereits in den 1920-ern war Niemöller in antisemitischen Vereinen aktiv, die als Juden konstruierte Menschen ausschlossen (S. 407). Im Laufe des Jahres 1932 wandelte sich durch die Beschäftigung mit Luthers „Judenschriften“ Niemöllers Ressentiment von einem völkischen Antisemitismus zu einem mittelalterlich anmutenden Antijudaismus ganz im Sinne des Reformators (S. 201 ff. und S. 222-223). 

In Widerspruch zum NS-Regime geriet Niemöller, als die evangelische Kirche am 6. September 1933 beschloss, den „Arierparagrafen“ auch im kirchlichen Raum anzuwenden. Dagegen protestierten Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller. Ihre Erklärung interessierte sich jedoch de facto bloß für die 18 betroffenen Pfarrer und schweigt zur Entrechtung von 300 000 Betroffenen im Öffentlichen Dienst (S. 200). Ziemann schreibt: „Solidarität mit den Deutschen jüdischen Glaubens war von ihm – wie den allermeisten Mitgliedern des Notbundes – nicht zu erwarten“ (S. 223).

Deshalb forderte das Dahlemer Gemeindemitglied Prof. Dr. Elisabeth Schliemann mit einem Brief Niemöller auf, sich ebenfalls zur Diskriminierung von Juden außerhalb der Kirche zu äußern. Niemöller lehnte ab. Er antwortete, dass „die Kirche vom Staat nichts anderes zu fordern [habe], als dass er der Verkündung keine Hemmnisse bereitet und die Kirche Kirche sein lässt (…) Die Kirche predigt nicht dem Staat in seine (gerecht oder ungerecht angewandte) Gewalt hinein, auch nicht in der Judenfrage (…).“ Und er fügte hinzu, dass er das „Recht unseres Volkes bejahe, sich gegen einen übergroßen und schädlichen Einfluss des Judentums nachdrücklich zu wehren, der meines Erachtens dagewesen ist“ (S. 205).

Bereits im Herbst 1933 relativierte Niemöller auch die Solidaritätsverpflichtung in dem von ihm selbst mitverfassten Gründungsmanifest des Pfarrernotbundes (S. 206). In dem Aufsatz „Sätze zur Arierfrage“ schrieb er, dass „die bekehrten Juden als durch den heiligen Geist vollberechtigte Glieder“ der Kirche „anzuerkennen“ seien. An der „Gemeinschaft der Heiligen“ bestehe kein Zweifel. Es gäbe allerdings Grenzen für die Anerkennung der Rechte getaufter Juden: „Wir als Volk [haben] unter dem Einfluss des jüdischen Volkes schwer zu tragen gehabt“, und so erfordere die Anerkennung der Gleichheit aller Getauften in diesem Fall erhebliche „Selbstverleugnung“ (S. 206). Von kirchlichen „Amtsträgern jüdischer Abstammung“ müsse man deshalb die „gebotene Zurückhaltung“ verlangen. Pfarrer „nichtarischer Abstammung“ sollten kein „Amt im Kirchenregiment oder eine besonders hervortretende Stellung in der Volksmission“ einnehmen (S. 206). 

Auf einer Synode im Herbst 1933 beschloss der Pfarrernotbund folgerichtig, sich nicht gegen die Ausgrenzung der als Juden verfolgten Menschen aus dem öffentlichen Leben zu stellen: „Die Taufe begründet freilich für niemanden irdische Ansprüche und Rechte“ (S. 269). Die Synode diskutierte sogar, ob man noch klarstellen solle, dass die Taufe „kein weltliches Bürgerrecht“ verleihe, beließ es aber bei der ursprünglichen Formulierung.

Nach 1945 verbreitete Wilhelm Niemöller das Narrativ, die Beteiligung seines Bruders Martin 1935 an der Denkschrift der „2. Vorläufigen Kirchenleitung“ sei der entscheidende Schritt der Bekennenden Kirche von der „Verweigerung“ zum „Widerstand“ gewesen (S. 282, 307). 

Professor Ziemann zeigt hingegen auf, dass es ausgerechnet Martin Niemöller war, der durch seine Interventionen immer wieder verhinderte, dass die Bekennende Kirche den Schritt von der Verweigerung zum Widerstand vollzog (S. 283). Niemöller sorgte dafür, dass die Denkschrift entschärft und durch das NS-Regime unterstützende Passagen ergänzt wurde (S. 282). Er positionierte sich gegen die Veröffentlichung in der Presse. Nachdem ausländische Medien sie trotzdem druckten, sorgte Niemöller hinter den Kulissen dafür, dass die Denkschrift in den Kirchen in einer nochmals entschärften Variante verlesen wurde (S. 281). Dies hielt die Niemöllers nach dem Krieg jedoch nicht davon ab, aus Martins Beteiligung an der Denkschrift einen Höhepunkt des Widerstandes zu konstruieren (S. 282).

„Lichtgestalten“ der DFG

Die Geschichte der DFG(-VK) kennt einige bedeutende Persönlichkeiten. Als erste natürlich die beiden, die die Deutsche Friedensgesellschaft 1892 in Berlin maßgeblich gründeten: Bertha von Suttner (1843-1914) und Alfred Hermann Fried (1864-1921). Daneben den langjährigen DFG-Vorsitzenden Ludwig Quidde (1858-1941), den zeitweiligen DFG-Sekretär Carl von Ossietzky (1889-1938) und – als Ehrenmitglied – Albert Schweitzer (1875-1965); alle geehrt mit dem Friedensnobelpreis.
Eine wichtige Person war Martin Niemöller (1892-1984). Marineoffizier in der kaiserlichen Marine, evangelischer Pastor, deutschnational und NSDAP-Wähler, Führungsmitglied der Bekennenden Kirche in der Nazi-
Zeit,  KZ-Häftling als „persönlicher Gefangener des Führers“ von 1938 bis 1945, Kirchenpräsident einer Landeskirche und einer der Präsidenten des Weltkirchenrates. Und: Atomwaffengegner, Pazifist, seit 1957 Präsident der DFG, seit 1958 auch der Internationale der Kriegsdienstgegner, dann der DFG-IdK, schließlich ab 1974 der DFG-VK und von 1976 bis zu seinem Tod Ehrenpräsident.
Die Deutsche Verlagsanstalt bewirbt die bei ihr 2019 erschienene Niemöller-Biografie so: „Das Leben einer Jahrhundertgestalt: die erste umfassende Biografie“. (Benjamin Ziemann: Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition, München 2019; 640 Seiten; 39 Euro. Besprechungen z.B. von Michael Heymel https://bit.
ly/2MLAiSa
und Karl-Heinz Fix https://bit.ly/3cN6cs7)
Die Lektüre dieser Biografie kann aber auch „verstörend“ sein – gerade für DFG-VK-Mitglieder und vielleicht besonders für solche, die noch nicht schon Jahre im Verband sind, so wie unser Autor Hauke Thoroe. 
Grund genug, die Diskussion anzustoßen mit dem Beitrag von Hauke Thoroe und dem daran anschließenden Brief von Stefan Philipp.

Antisemitismus nach 1945

Auch nach 1945 äußerte Niemöller sich immer wieder antisemitisch. 

1946 schrieb er einen Offenen Brief an Frederik J. Forell, den Leiter des Emergency Committee for German Protestantism. Niemöller behauptete darin, dass die Bewohner*innen der britischen Zone in den letzten Tagen „nur 700 Kalorien“ bekommen hätten. „Das bedeutet weniger als die niedrigste Ration, von der man jemals in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager berichtet hat.“ Die Folge sei „Verhungern im eigentlichen Sinne“ (S. 374). Weiter versuchte er mit wilden Zahlenspielen zu suggerieren, dass seit der Kapitulation des „Dritten Reiches“ im Mai 1945 „mindestens 6 Millionen Deutsche verschwunden“ seien. Hinter all dem stehe nichts anderes als „die praktische Durchführung des Morgenthau-Planes mit der Absicht, ein ganzes Volk bis zu seinen Wurzeln auszurotten“. Die Herrschaft der Alliierten über Deutschland sei letztlich nur eine Fortsetzung der „Terrorherrschaft der Gestapo“ (S. 374).

Auch im Ausland nahm Niemöller kein Blatt vor den Mund. Am 7. März 1946 sagte er in Zürich beim „Schweizerischen Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland“: „Es besteht ein neuer Antisemitismus in Deutschland, der aber nichts mit den zurückwandernden Juden zu tun hat. Er ist dadurch entstanden, dass die Amerikaner die Entnazifizierung durch Juden ausführen lassen“ (S. 381). 

Auf einer Pressekonferenz 1947 in New York erklärte er hingegen, dass es in Deutschland keinen Antisemitismus mehr gebe. 

Auf derselben Amerika-Reise gab Niemöller der deutsch-jüdischen Zeitung „Aufbau“ ein Interview. Er wurde gefragt, was nach Deutschland zurückkehrende Juden erwarte. Niemöller antwortete mit der rhetorischen Frage, was die Juden denn im „überfüllten und verarmten Deutschland“ tun sollten, „vorausgesetzt, dass sie nicht Bauern werden wollen?“ (S. 381). Prof. Ziemann schreibt dazu, dass der Antwort das aus völkischen Vorstellungen stammende antisemitische Stereotyp zugrunde liege, dass Juden zu harter körperlicher Arbeit weder willens noch fähig seien (S. 380). 

Nach der Rückkehr aus den USA wurde Niemöller auf einer Pressekonferenz ebenfalls nach dem Antisemitismus in Deutschland gefragt. Niemöller antwortete, der Antisemitismus sei in Deutschland „totgeschlagen worden“, als 1938 die Synagogen brannten. Aber in den letzten Monaten sei der Antisemitismus als „allgemeines Gefühl“ wieder hervorgetreten, wie es ihn auch vor 1933 gegeben habe. „Der Grund dafür?“ Dass „überall in den amerikanischen Stellen (…) Juden sitzen. Wir müssen das Kind doch beim Namen nennen. (…) Wenn ich als Jude von Amerika nach Deutschland herüber ginge, nachdem ich dem Gemetzel unter Hitler entgangen bin, würde ich auch in Hasspolitik und Rachepolitik machen, vorausgesetzt, dass ich nicht Christ bin“ (S. 380). 

Auch im Herbst 1947 beklagte sich Niemöller gegenüber Ewart Turner, dass die Lebensmittelrationen auf 100 Gramm Fleisch pro Woche gekürzt worden seien. Normalverbraucher würden also in den kommenden Monaten sterben. Es werde „jener Jude (in der US-Militärverwaltung – Anmerkung der Verfasser*in) recht behalten, der meine Frage danach, was mit den zu vielen Menschen in der westlichen Zone passieren werde, sagte: ,Keine Sorge, wir kümmern uns darum, dieses Problem wird in einer recht natürlichen Weise gelöst werden!‘“ (S. 381-382).

Ähnliche Gedanken prägten auch Niemöllers Alltagshandeln. Im Juni 1946 geriet er mit Wilhelm Beez aneinander. Dieser war Landrat und Kreisvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) und in dieser Position für die Verteilung von „Care“-Paketen zuständig. Landrat Beez war vom SPD-Ortsverband Büdingen zugetragen worden, dass Niemöller dem Kaiserenkel Prinz Hubertus von Preußen, der Fürstenfamilie Ysenburg und lokalen Nazi-Größen für Opfer des NS-Regimes bestimmte Lebensmittel zuschanzte. Beez strich deshalb Niemöller von der Verteilerliste. Niemöller war empört: „Sie unterstützen wohl nur Judenfreunde?“ (S. 375). 

Der Vorfall sprach sich herum, und der „Spiegel“ bat Niemöller um eine Stellungnahme. Niemöller wiederholte seinen Vorwurf öffentlich und bekräftigte, diesen beweisen zu können. Das brachte das Fass zum Überlaufen, und die VVN setzte Niemöller ganz vor die Tür. Niemöller reagierte uneinsichtig. In einem Vortrag im August in der Büdinger Kirche sagte er, die „Angriffe“ auf ihn seien „wie in den vergangenen 15 Jahren üblich“ abgelaufen und warf damit die VVN mit dem Naziregime in einen Topf (S. 375). 

Die sich hier andeutende Transformation vom völkischen Antisemitismus über einen lutherischen Anti-Judaismus zur kulturellen Judenfeindlichkeit setzte sich bei Niemöller bis ins Alter fort. 1962 schlug ihm Helmut Gollwitzer vor, gemeinsam am 9. November an den Gedenkveranstaltungen in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, teilzunehmen. Doch Niemöller behauptete, keine Zeit zu haben. Denn am 9. November beginne auch die Jahrestagung der Deutschen Friedensgesellschaft. Im folgenden Jahr fragte Gollwitzer erneut. Diesmal müsse er nach London, sagte Niemöller. Warum die Kirche ein Interesse an Israel haben solle, sei ihm „schleierhaft“. Und dass sich die Araber*innen durch den „jüdischen Staat“ gefährdet und attackiert sehen“, das könne er „ihnen nicht übel nehmen“ (S. 505). 

1967 verschärfte Niemöller dieses Argument noch gegenüber Elsa Freudenberg, um deren jüdische Abstammung er wusste. Er sei der Überzeugung, dass er, „wenn er Araber wäre, bestimmt Antisemit wäre, weil hier ein fremdes Volk auf meinem Boden einen Staat gegründet hat, den meine Väter seit 1 200 Jahren bewohnt haben“. Elsa Freudenberg konterte, dass das nur ein Spiel mit Worten sei, dass der Hass der Araber sich nur „gegen den Staat Israel richtet und nicht gegen den einzelnen Juden“ (S. 506).

Anerkennung der deutschen Schuld?

Angesichts dieser Befunde muss man auch die Stuttgarter Schulderklärung von Herbst 1945 und Niemöllers Engagement dafür kritisch betrachten. In der gängigen Geschichtserzählung betonen seine Fans, dass Niemöller maßgeblich hinter der „Stuttgarter Erklärung“ gestanden habe. Diese Erklärung ist in der Geschichtserzählung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bis heute zentral, wenn es um den Neuanfang nach 1945 geht.

Niemöller argumentierte tatsächlich für ein Schuldbekenntnis und warb auch für die Stuttgarter Erklärung. Jedoch sticht der instrumentelle Charakter hervor (S. 400). 

Im Spätsommer 1945 sagte er auf einer Tagung des Reichsbruderrates (Leitungsgremium der Bekennenden Kirche), die das vorbereiten sollte, was später als „Stuttgarter Erklärung“ bekannt wurde, man solle den anklagenden Hinweis auf die Besatzungsmächte „noch“ unterlassen, denn „die Amerikaner hören es noch nicht“. Er betonte, dass die Deutschen erst dann keine „Hohn- und Spottlieder der Welt“ mehr hören würden, wenn sie ein hinreichendes Zeichen der Einsicht in ihre Schuld abgelegt hätten (S. 400). 

Der dann im Herbst 1945 verabschiedete Text des Stuttgarter Bekenntnisses ist sehr kurz. Er umfasst drei Absätze. Die Erklärung betont zunächst die deutsche Schuld und nennt die Nazi-Taten folgendermaßen: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ 

Bereits im zweiten Absatz stellt sich die Kirche als Hort des Widerstandes dar: „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist [des NS] gekämpft“.

Im dritten (und letzten) Absatz wird mit vorher erzeugter moralischer Legitimität postuliert, dass nur durch den „gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt und Vergeltung der heute von neuem mächtig werden will“ begegnet werden könne.

Mit dieser Floskel von der Vergeltung werden die Alliierten in ein Fass mit den Nazis geworfen und der Aufarbeitung der Verantwortung für die Nazi-Verbrechen eine Absage erteilt. Aus dem großspurigen Verweis auf die Lehren aus der Vergangenheit wird die Legitimation abgeleitet, sich überall einmischen zu dürfen.

Die deutsche Außenpolitik basiert bis heute auf diesem Trick. Die Stuttgarter Erklärung ist in meinen Augen somit ein frühes Beispiel von „Aufarbeitungsweltmeisterei“.

Von 1945 bis zum Bekanntwerden seiner antisemitischen Ausfälle in den USA 1947 war Niemöller fast non-stop unterwegs, um für die Stuttgarter Erklärung zu werben. Diese Veranstaltungen wurden oft von Deutschen gestört, für die bereits die Vorstellung, dass an den vergangenen 12 Jahren überhaupt irgendwas schlecht außer der Niederlage gewesen sei, zu viel war. Benjamin Ziemann schreibt, dass Niemöllers Reden keinem festen Skript folgten und nur aus Zeitungsartikeln und Mitschriften der Zuhörenden dokumentiert sind. Die Reden seien regelmäßig um seinen bekanntesten Spruch oder ähnliche Figuren orientiert gewesen: 

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Mit dem Wissen um Niemöllers Gedankenwelt sticht ins Auge, dass Prof. Ziemann schreibt, dass er keine einzige von Niemöller autorisierte Fassung finden konnte, in der die verfolgten Juden in das bekannte Zitat eingeschlossen sind (S. 521). Prof. Ziemann stellt außerdem heraus, dass im Gegensatz zum obigen Zitat Niemöllers Schuld nicht im Schweigen bestanden habe. Niemöller „schwieg keinesfalls zur Verfolgung von Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen (…), sondern er bekämpfte die Mitglieder dieser Parteien.“ (S. 521).

Wie ambivalent Niemöllers Schuldbekenntnis war, zeigen weitere Zitate. Noch 1947, zwei Jahre nach dem Stuttgarter Bekenntnis, schrieb Niemöller einen Essay gegen das „Märchen von der deutschen Kollektivschuld“. Er bezichtigt die Amerikaner eines „gewollten Massenmordes an einem Volke“. Denn die Amerikaner hätten keine Demokratie nach Deutschland gebracht, und seit Kriegsende seien „mehr deutsche Menschen verschwunden und umgekommen“ als während der zwölf Jahre des „Hitler-Terrors gemordet wurden, einschließlich der angeblich 6 Millionen verschwundenen Juden“ (S. 490).

Völkische Motivation für die Friedensbewegung

Eine völkisch-nationalistische Sichtweise zeigt sich auch bei Niemöllers Engagement in der Friedensbewegung. 

Niemöller postulierte 1958 Sätze wie „Das deutsche Volk ist dem sicheren Atomtod ausgeliefert“ oder „Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht“ (S. 458).

Zitate aus einem Text von 1951 gegen die Wiederbewaffnung zeigen, dass der Begriff „Volk“ hier nicht nur Floskel ist. Die „Not der Deutschen“ sei, dass ihr Land „entweder Kriegsschauplatz oder Brücke“ sein werde. Durch den Kalten Krieg seien die Deutschen „nur noch Objekte“ für „die Pläne anderer Mächte“. Wenn die Deutschen der Logik des Kalten Krieges folgten und sich für eine Seite entschieden, würde sie nur die „Verewigung unserer Not“ und „der Unfreiheit“ erreichen (S. 435). Niemöller fühlte sich hier ganz im Einklang mit der Bevölkerung, denn die Ablehnung der Wiederbewaffnung sei national, wo nicht ausgesprochen nationalistisch motiviert“ (S. 435). 

Prof. Ziemann schließt daraus, dass Niemöller die Wiederbewaffnung ablehnte, weil sie multinational im Bündnis mit anderen Staaten gedacht wurde und nicht als nationale deutsche Armee. 

Einer völkischen Argumentation zur Wiederbewaffnung, die „Freiheit“ nicht als Freiheit des Einzelnen definiert, sondern als nationale Bestimmung, kann ich wenig abgewinnen. Ich bezweifle, dass ein solcher Freiheitsbegriff eine Grundlage für eine emanzipatorische Politik, die Gewalt zwischen Menschen und Staaten abbaut, sein kann. 

Unverständlich ist für mich, dass Niemöller nie mit der Kadetten-Crew von 1910 brach. Die Offiziere der Marine betrachteten ihre „Crew“ als Lebensbund und pflegten ihre Kameradschaft in jährlichen Treffen, bei denen gemeinsam gesoffen und gefressen wurde. 

In der 1910 beginnenden Offiziersausbildung segelte Niemöller u.a. mit Dönitz und 13 weiteren späteren Admirälen der NS-Kriegsmarine. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher*innen war es Niemöller, der in einer Zeugenaussage beschwor, dass der Oberbefehlshaber der Marine und letzte deutsche Reichskanzler Karl Dönitz selbstverständlich nichts von den Konzentrationslagern gewusst haben könne (S. 506). 

Es gab zwar einigen Streit und Ärger in der Crew, nachdem Niemöller zu Unrecht vorgeworfen wurde, die Offiziersausbildung als „Hohe Schule des Berufsverbrechertums“ bezeichnet zu haben, und Niemöller damit konterte, dass Dönitz und die anderen nicht genug getan hätten, um ihn trotz zweifelsfreier nationaler Gesinnung aus dem KZ frei zu bekommen, doch auch noch 1980 besuchte er das „Crew-Treffen“ in Kiel. 

Die Verleumdung Georg Elsers

Verstörend ist auch die Verleumdung Niemöllers eines anderen „persönlichen Gefangenen des Führers“. Im Januar 1946 sprach er vor Göttinger Student*innen über den „SS-Unterscharführer Georg Elser“ der angeblich „1939 das Attentat im Bürgerbräukeller auf Hitlers persönlichen Befehl durchzuführen hatte“ (S. 412). Angehörige Elsers suchten daraufhin die Auseinandersetzung mit Niemöller. Dieser kanzelte sie ab und rechtfertigte seine verunglimpfenden Lügen mit von ihm mitangehörten Gesprächen der SS-Wachmannschaft im KZ Dachau.

Trotz gegenteiliger Forschungsergebnisse hielt er den Lagertratsch der SS-Schergen für glaubwürdiger und verunglimpfte Georg Elser bis in die 1970-er Jahre folgendermaßen: „Hiermit möchte ich deutlich machen, dass hinter dem Willen [Elsers – Anm. des Verf.] kein Ethos stand, auch nicht eine Null oder ein Nichts, sondern ganz einfach das, was man in der Menschheit einen verbrecherischen Willen nennt: keine Seele, keine Verantwortung.“

Ulrich Renz vom Georg-Elser-Arbeitskreis Heidenheim bezeichnet Niemöller sogar als „Hauptverursacher eines falschen Elser-Bildes“ (Ulrich, Renz: Der Fall Niemöller. Heidenheim 2002, im Internet einsehbar unter https://bit.ly/3jCm02B). 

Ziemann schildert, dass bei einer großen Ökumene-Veranstaltung 1952 in Indien der deutsche Bischof Hanns Lilje statusbewusst trotz tropischer Temperaturen in schwarzem Bischofskleid schwitzend herumlief und sich bei der Essensausgabe wie selbstverständlich vordrängelte, während Niemöller, in heller Hose und Hemd, sich wie alle anderen hinten anstellte und beim Essen auf dem Boden saß (S. 494). Einen deutschen Faschisten stellt man sich anders vor. 

Der „friedensbewegte“ Niemöller

Benjamin Ziemann beschreibt, dass es weniger Niemöllers Rolle als „Lichtgestalt“ gewesen sei, die für die Friedensbewegung wichtig gewesen sei. Viel mehr habe u.a seine Theologie ermöglicht, das sich Kirchen den Anliegen der Friedensbewegung geöffnet habe und so breite Bündnisse, an denen sich viele Menschen beteiligen, gesellschaftlich möglich wurden. Auch sei es der deutschen Friedensbewegung durch Niemöllers Engagement in der Ökumene gelungen, ihren Eurozentrismus zu überwinden und Frieden als ein Ziel zu begreifen, das nur im Rahmen der „Menschheitsfamilie“ erreicht werden könne (S. 470). Ziemann deutet Niemöller zudem als die zentrale Person, die die DFG-VK für die Unterwanderung durch die DKP geöffnet habe, da alle Menschen gleich seien, wenn sie sich nur für den Frieden engagieren wollen.

Ziemann beschreibt, wie Niemöller im Laufe der Jahre durch den „Atomschock“ und seine Mitarbeit in der Ökumene seinen Antibolschewismus ablegt. Die Aufgabe des Antibolschewismus ging letztlich so weit, dass Niemöller 1976 versuchte, Pastoren in der DDR zu erklärten, dass der Sozialismus die einzige gerechte Gesellschaftsordnung sei und Milliardäre enteignet werden sollten (was in einem Tumult endete (S. 503)). An seinem Lebensende konnte er mit seiner fundamentalistischen Theologie vermutlich selber nicht mehr viel anfangen, wie er mehrmals andeutete (S. 503). 

Unterstützung des Vietcong in seinem „gerechten Krieg“

An seinem Lebensende verortete sich Niemöller selbst schließlich weit links der Kommunist*innen (S. 503). Der späte Niemöller sah sich als „Revolutionär“ und warb z.B. beim Bundeskongress der DFG-VK 1972 für eine Unterstützung des Vietkong: „Wenn Sklaven sich wehren, ist das gerechter Krieg. Wir machen zwar nicht mit, aber unsere Sympathie ist beim vietnamesischen Volk“ (471). 

Man beachte die erneuten und auch im hohen Alter auftretenden Argumentation mit einem völkischen Referenzrahmen, der Sklaventum nicht an einer individuellen Positionierung in einer Gesellschaft festmacht, sondern an der Souveränität eines angeblichen Volkes und der Abwesenheit von fremder Besatzung. Und bei der Floskel vom gerechten Krieg stellen sich mir die Nackenhaare auf.

Mein Bild von Niemöller ist ein gespaltenes. Die Niemöllers, der eine Parteimitglied, der andere begeisterter Wähler Hitlers, deuteten nach 1945 ihre religiöse Verweigerung im NS-Regime zu politischem Widerstand um, und verschwiegen, dass genau sie es waren, die verhindert hatten, dass aus der religiösen Verweigerung der Bekennenden Kirche politischer Widerstand geworden war. Gleichzeitig verunglimpfte Martin Niemöller mit Georg Elser einen der wenigen Menschen, die tatsächlich die Courage hatten, Widerstand zu leisten. Er war auch nach 1945 bereit, Gräuelmärchen aus Nazi-Propaganda und an andere Verschwörungstheorien zu glauben, und verbreitete diese öffentlich. Und dass seine Fans dem nicht widersprochen haben, ist auch Teil des Gesamtbildes.

Kein aufrechter Bekenner

Niemöller stützte seine Theologie auf den zentralen Begriff des „Bekennens“. Mit dem Schuldbekenntnis schließt er an diese rhetorische Figur an. Da ist es irritierend, dass er sowohl in der Nazizeit (S. 305) als auch danach kontinuierlich bereit war, seinen Lebenslauf zu schönen, wenn es ihm opportun erschien. Die Umdeutungen rund um die 2. Denkschrift der vorläufigen Kirchenleitung habe ich schon erwähnt (S. 307 ff.). Niemöller strickte die Legende, das er im KZ eine Freilassung gegen Widerruf abgelehnt habe, obwohl es genau umgekehrt war (S. 315). Seine Meldung zur Marine aus der Haft redete Niemöller nach 1945 erst damit schön, dass er nur in Freiheit habe Christ sein können, obwohl eindeutig seine nationalistische Weltanschauung der Grund war (S. 325). Als das nicht verfing, erfand er die Story, dass er sich dem militärischen Widerstand habe anschließen wollen. Quellenkritisch betrachtet kann er von diesem aber nicht gewusst haben (S.325, 362). 

Fast schon unterhaltsam ist auch das zeitgenössische Vor und Zurück um das Debakel mit dem Besuch bei Hitler 1934 (S. 221 ff.). Der Besuch mündete in ein Debakel. Hitler beschloss danach, den Bischof, gegen den die Bekennende Kirche opponierte, noch mehr zu unterstützen. Niemöller redete in der Folge seinen Beitrag möglichst klein. Nach 1945 macht er aus dem Patzer jedoch eine heldenhafte Widerstandsgeschichte mit ihm in der Hauptrolle (S. 221 ff.). 

Auf dem Höhepunkt des erwähnten Skandals mit der VVN, der angeblich „nur Judenfreunde“ unterstütze, behauptet Niemöller, dass er, der „Kämpfer für Recht und Wahrheit“ sich nach „anfänglicher Sympathie“ bereits nach der Ermordung eines kommunistischen Arbeiters und Gewerkschafters im oberschlesischen Dorf Potempa durch eine Gruppe uniformierter SA-Männer im August 1932 „von der NSDAP“ abgewandt habe (S. 377). Seine Fans ignorierten all dies, obwohl er mehrmals von Medien bei so offenkundigen Lügen wie der Story mit Potempa ertappt wurde. 

Die Martin-Niemöller-Stiftung behauptet noch heute, im „Als sie die Kommunisten holten“-Zitat kämen Juden nicht vor, weil Niemöller diese nicht habe nennen können, weil „die große Verfolgungswelle“ erst eingesetzt habe, als er schon im KZ gewesen sei
(https://bit.ly/3tCJKYE)
. Dieses Argument lässt sich schnell entkräften: Die Verfolgung der Juden ging gleich 1933 in der ersten Woche nach der Machtübertragung mit einem gewalttätigen Boykott los, und die Reichspogromnacht dürfte selbst in Sachsenhausen erfahrbar gewesen sein. Interessanter ist aber der Zusammenhang: Von der Judenverfolgung soll Niemöller im KZ nichts mitbekommen haben, während er gleichzeitig über den militärischen Widerstand im Bilde gewesen sein will?

Auch das häufig benutzte Argument, dass Niemöller ein Kind seiner Zeit gewesen sei, und man deshalb Verständnis für seine Äußerungen haben müsse, halte ich für Verharmlosung. In Niemöllers Umfeld gab es Menschen, die denselben Zeitumständen und Bedrohungen ausgesetzt waren und trotzdem darauf beharrten, dass alle Menschen Menschen seien (das schreibe ich hier so plakativ, denn genau darauf, diese einfache Erkenntnis zu negieren, läuft Antisemitismus und die Zustimmung zur Machtübertragung hinaus). In der Bekennenden Kirche gilt dies z.B. für Franz Hildebrandt, Karl Barth, Gerhard Jacobi, Christa Müller, Georg Schulz, Elisabeth Schmitz und Elisabeth Schiemann, die bereits 1933 Niemöller und der antisemitischen NS-Politik widersprachen (S. 209 und S. 223). 

Aus der Crew von 1910 gilt dies für den Kapitänleutnant (und späteres DFG-Mitglied) Heinz Kraschutzki, dem die Einsicht bereits im Ersten Weltkrieg kam und der sich aktiv an der Novemberrevolution beteiligte (aber weiterhin an den Crew-Treffen teilnahm). Auch die bereits 1916 erfolgte Aufsehen erregende Entfernung des Kapitänleutnants Hans Paasche (Crew von 1899) aus der kaiserlichen Flotte dürfte dem Marineoffizier Niemöller zu Ohren gekommen sein. Niemöller selbst trat dem Argument von den Zeitumständen entgegen, wenn er Heinz Kraschutzki später so vorstellte: „Das ist mein alter Marinekamerad Kraschutzki. Ihm hat schon der Erste Weltkrieg die Augen geöffnet über das Wesen des Militarismus. Bei mir war leider noch ein Zweiter nötig.“ (Ralph Giordano: Rufer in der Wüste. In: Die Zeit, 10.6.1999).

Zu einem aufrechten Bekenner hätte gehört, dass Niemöller seine Vergangenheit konsistent aufarbeitet. Das tat er jedoch nicht. Gleichzeitig stritt Niemöller in späten Jahren für eine gerechtere Welt, wo er konnte. Der Wandel der Einstellungen und Überzeugungen Martin Niemöllers ist nicht im Sinne eines Saulus-Paulus-Erlebnisses passiert. Ich denke, man sollte sich Niemöllers Einstellungswandel eher wie einen kontinuierlichen lebenslangen Prozess vorstellen. Da Niemöller auch immer mehr oder weniger in seinen alten Vorstellungen festhing, dürfte ihm das aufrechte Bekennen zu seiner Vergangenheit so schwer gefallen sein. 

Zu Niemöllers Geschichte gehören jedoch auch die Fans, die nicht genauer nachfragten oder es gar nicht so genau wissen wollten, wenn Niemöller für peinliche Details schnell mal eine Ausrede konstruierte. 

Uns sollte das Beispiel Niemöller mahnen, auch bei „großen“ Männern (und Frauen) genau hinzuschauen. Auch unsere eigene Blendung beim Betrachten von vermeintlich beeindruckenden Vorbildern müssen wir immer wieder hinterfragen. Denn charismatische Anführer*innen sind nichts ohne ihre Fans, die sie kritiklos beklatschen.

Hauke Thoroe ist aktiv im DFG-VK-Landesverband Berlin-Brandenburg.

Kategorie: Pazifismus, Rezensionen Stichworte: 202101, DFG-VK, Geschichte, Judenverfolgung, Nazizeit, Niemöller, Präsident, Ziemann

20. Dezember 2020

„Es  ist  ein  Skandal  der  Nachkriegsgeschichte“

Interview mit Hannah Brinkmann, die ein grafisches Erzählungsbuch über ihren
Onkel gemacht hat. Er hatte sich 1974 als abgelehnter KDVer das Leben genommen.

Ausgabe 5/2020

Du erzählst in Deinem Buch die Geschichte eines Kriegsdienstverweigerers, der nach vergeblichen Versuchen, anerkannt zu werden, Suizid begangen hat. Warum hast Du das Thema aufgegriffen?

Hermann Brinkmann war mein Onkel. Ich bin 1990 geboren und habe ihn nicht kennengelernt. Erst als meine Großmutter starb und ich in ihrem Nachlass eine Todesanzeige von ihm fand, bin ich darauf gestoßen. In der Todesanzeige hat die Familie damals den Fall öffentlich gemacht und die einzelnen Daten sehr genau aufgelistet. Als ich das sah, habe ich mich das erste Mal gefragt, was das überhaupt bedeutet. Ich hatte vorher noch nie von Kriegsdienstverweigerung gehört, wusste nichts von der Problematik.

Wie hat Deine Familie reagiert, als Du ihr von Deinem Projekt erzählt hast?

Hermanns Geschichte ist sehr politisch. Aber für die Teile meiner Familie, die damals dabei waren, ist es auch eine sehr private. Sie hatten sich damals entschieden, mit der Todesanzeige an die Öffentlichkeit zu gehen und diese Anzeige in der FAZ zu veröffentlichen.

Und doch: Nach so langer Zeit sich wieder damit auseinanderzusetzen, das war für einige schwierig. Andere waren sehr offen und bereit, darüber zu sprechen und mir viel zu erzählen. Insgesamt habe ich viel Unterstützung aus meiner Familie erhalten. Dafür bin ich sehr dankbar.

Überraschend zu hören, dass die Familie damals an die Öffentlichkeit ging, Du aber so wenig darüber gehört hattest.

Zum einen, denke ich, ist viel Zeit vergangen. Zum anderen waren die Folgen der Veröffentlichung auch relativ traumatisch. Da standen dann Journalisten der Bild-Zeitung kurz nach der Beerdigung im Garten. Der Fall hat viel Aufsehen erregt.

Aber auch der Umgang damit war sehr unterschiedlich. Von einem Onkel weiß ich, dass er viel mit seinen Töchtern darüber gesprochen hat. Mein Vater hingegen hat eher wenig darüber geredet. Er hat es wohl anders verarbeitet.

Warum war es Dir so wichtig, das Thema aufzugreifen und ein Buch daraus zu machen?

Irgendwie war mein Onkel in der Familie immer präsent. Ich wusste, dass er Suizid begangen hatte. Aber die Entscheidung, ein Buch zu machen, entstand erst, als ich mich mit den politischen Dimensionen auseinandersetzte, erfahren habe, was KDVern in Deutschland in dieser Zeit passiert ist. Es war Unrecht. Und umso mehr ich herausgefunden habe, desto sicherer war ich mir, dass das nicht nur eine persönliche Geschichte ist, die unsere Familie betrifft. Mein Onkel Hermann steht als ein Beispiel dafür, was meines Erachtens ein Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte ist. Das muss erzählt werden.

Du schilderst in Deinem Buch sehr eindrücklich das Prüfungsverfahren.

Es war für mich eines der wichtigsten Punkte darzustellen, was da passiert ist. Vorsitzende der Prüfungsausschüsse waren Juristen aus der Bundeswehrverwaltung. Und auch viele Beisitzer waren total voreingenommen. Ich wollte die Verhandlung im Buch so darstellen, dass sie auch den Stress und die Demütigung zeigt, denen der Verweigerer in diesem Moment ausgesetzt war. Gerade wenn der Verweigerer dann noch jemanden vor sich hat, der unberechtigte Konfliktfragen stellt, sein Amt missbraucht, war er diesem hilflos ausgeliefert.

Hattest Du die Chance, die Akten des Verfahrens einzusehen?

Die Akten der Verhandlungsprotokolle aus den 70er Jahren wurden 2004 vernichtet – unter ihnen war vermutlich auch Hermanns Akte.

Wie lange arbeitest Du an so einem Buch?

An diesem Buch habe ich seit Anfang 2016 gearbeitet, immer mal mit kleinen Unterbrechungen. Seit Ende 2018 habe ich mich dann ausschließlich damit beschäftigt.

Das ist eine lange Zeit. Warum hat es so lange gedauert?

Ich bin keine Historikerin, und der Stoff spielt 1973 und 1974. Ich bin Comic-Zeichnerin und Autorin. So musste ich erst einmal recherchieren, mich in das Thema einarbeiten. Ich musste herausfinden, was wichtig ist und was nicht.

Hast Du jedes Bild gezeichnet, oder konntest Du Vorlagen für andere Teile wiederverwenden?

In jedem Bild ist die Gestaltung eine andere, die Gesichtsausdrücke sind anders. Nur Grundstrukturen z.B. von Gesichtern konnte ich wiederverwenden. Das heißt, dass ich tatsächlich jedes Bild in dem Buch gezeichnet habe.

In Deutschland tun wir uns ja schwer, einen eingängigen Begriff zu finden, um das zu beschreiben, was Du gemacht hast. Du nennst es grafische Erzählung, der Verlag Graphic Novel. Warum hast Du diese Form gewählt?

Ich komme eigentlich aus der Malerei. Während meines Studiums bin ich in die Illustration gegangen. Aber als Kind und als Teenager habe ich schon viel geschrieben. Das Schreiben, das Erzählen von Geschichten war immer Teil meiner Identität. Im Studium hatte ich dann Gelegenheit, bei Anke Feuchtenberger grafische Erzählung zu studieren. Das hat für mich sehr viel Sinn gemacht, weil hier beides zusammenkam. Ich konnte zeichnen und zugleich erzählen. Da wurden mir ganz neue Welten eröffnet.

Zum Beispiel in diesem Buch. Das Haus, in dem Hermann lebt, ist das Haus meiner Großmutter gewesen. Das gibt es noch heute. Als Kind verbrachte ich viel Zeit dort. Und in der grafischen Erzählung habe ich die Möglichkeit, das Haus so darzustellen, dass andere wirklich wissen, wie und wo das alles stattfindet. Es eröffnet eine neue Erzählebene.

Was ich auch so gerne mag: Wer das Buch liest, kann in einem Raum, auf einer Seite verweilen, solange er oder sie das will. Das geht beim Film nicht. Eine grafische Erzählung ist eine ruhige Art, eine Geschichte darzustellen, die Raum lässt. Aber sie ist auch sehr eindrücklich. Das gefällt mir daran so sehr.

Welche Hoffnung verbindest Du mit der Veröffentlichung des Buches?

Ich wünsche mir gerade für meine Generation, die nicht mit der Wehrpflicht konfrontiert ist, dass ein Bewusstsein zu diesem Thema entsteht. Die Wehrpflicht wurde nicht einfach abgeschafft und weg ist sie. Vielmehr ist es etwas, was wir uns, was die Generationen vor uns, erkämpft haben. Es wurden auch Opfer gebracht, dass wir jetzt keine Wehrpflicht mehr haben.

Wichtig ist dieses Thema aber auch im Hinblick darauf, dass einige Politiker*innen wieder eine Wehrpflicht einführen wollen.

Und auch das: Die fehlende Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung ist ein Problem, unter dem viele junge Männer – und auch Frauen – in anderen Ländern leiden. Sie werden dort dazu gezwungen, einen Dienst an der Waffe abzuleisten, den sie nicht wollen. Sie werden dort politisch und strafrechtlich verfolgt. Mir ist wichtig, dass an dieser Stelle Bewusstsein geschaffen wird für ein Grundrecht, das im Falle meines Onkels mit Füßen getreten wurde, das auch noch heute allzu oft nicht gewährt wird.

Hannah Brinkmann arbeitet in ihrem für den Leibinger-Preis nominierten Debüt „Gegen mein Gewissen“ das Schicksal ihres Onkels Hermann Brinkmann auf, das in den 1970er Jahren bundesweit Schlagzeilen machte und eine Debatte über die Rechtmäßigkeit der Gewissensprüfungen für Kriegsdienstverweigerer auslöste. Sie wählte dafür die Form einer grafischen Erzählung, eine bebilderte Geschichte.

Für die ZivilCourage sprach Rudi Friedrich, DFG-VK-Mitglied und seit Jahrzehnten bei Connection e.V. aktiv in der Unterstützungsarbeit für KDVer und Deserteure, mit Hannah Brinkmann (de.connection-ev.org).

Hannah Brinkmann: Gegen mein Gewissen. Avant-Verlag GmbH, Berlin 2020, 232 Seiten, 30,00 Euro; ISBN 978-3-96445-040-1

Kategorie: Pazifismus, Wehrpflicht Stichworte: 202005, Kriegsdienstverweigerung

20. Dezember 2020

Friedensprojekt oder Global Military Player

Zur Verantwortung Europas in der Welt

Ausgabe 5/2020

Von Andreas Zumach

Europa muss Verantwortung übernehmen! – aber wie? Immer öfter wird gefordert, dass Europa und auch Deutschland „mehr internationale Verantwortung übernehmen“ müssten angesichts der zahlreichen Krisen einerseits und der politischen und ökonomischen Bedeutung andererseits.

Gemeint ist fast immer, man müsse militärisch aufrüsten und stärker präsent sein, um in Konflikten intervenieren zu können etc. Doch wäre dies eine verantwortliche Politik? Wie sahen die Ergebnisse solcher Versuche, „Verantwortung zu übernehmen“ bisher aus? Und: Wie könnte eine wirkliche Übernahme von Verantwortung in der Welt aussehen?

Die EU und ihre Vorgängerinstitutionen seit 1951 (Montanunion, EWG, EG) sind Friedensprojekte! Ohne jede Einschränkung! Das war die feste Überzeugung der Generation meines Großvaters und meines Vaters, die in den beiden Weltkriegen zwangsweise zum Militär eingezogen wurden, gegen die Franzosen kämpfen mussten, in Frankreich verwundet wurden und in Gefangenschaft gerieten. In den Jahrzehnten nach den beiden Weltkriegen verbrachten sie ihre Auslandsurlaube mit der Familie am liebsten in Frankreich.

Die große Verantwortung meiner und der nachfolgenden Generationen ist es, dafür zu sorgen, dass Deutsche, Franzosen und andere Europäer künftig nicht gegen Dritte Krieg führen.

Doch die historische Erzählung und die Selbstwahrnehmung der EU vom „Friedensprojekt“, das 2012 mit der Verleihung des Friedensnobelpreises in den Köpfen und Herzen vieler Europäer*innen noch einmal bekräftigt wurde, verhindert selbst bei Friedensbewegten, Linken und Grünen nach wie vor die Wahrnehmung und kritische Analyse der Realitäten und den notwendigen politischen Widerspruch und Widerstand.

Zu dieser Selbstwahrnehmung trägt bei, dass Europa (die Europäische Union und die Schweiz sowie andere Nicht-EU-Mitglieder) nach den zwei von hier ausgegangenen Weltkriegen in manch zivilisatorischer Hinsicht weiter ist als die anderen Kontinente: In Europa existieren die meisten Demokratien und die meisten teil-oder gesamtkontinentalen Verträge, die zwischen den Mitgliedsstaaten entweder der EU oder des Europarats und der OSZE vereinbart wurden. Darunter Gewaltverzichtsabkommen, ein Rüstungskontrollvertrag und eine Menschenrechtskonvention, deren Einhaltung alle Bürger*innen vor einem europäischen Menschenrechtsgerichtshof einklagen können.

Allerdings gelten all diese zivilisatorischen Errungenschaften im Wesentlichen nur nach innen, aber nicht gegenüber dem „Rest der Welt“ außerhalb der EU/Europas.

Nimmt man den in Friedensbewegung und -forschung schon lange gebräuchlichen erweiterten, nicht nur auf militärische Mittel begrenzten Friedensbegriff zum Maßstab, war die EU auch vor dem Ende des Kalten Krieges vor 30 Jahren schon längst kein reines Friedensprojekt mehr.

In der Außenwirtschafts- und Handelspolitik und bei dem Versuch, Länder des Südens zur Marktöffnung, Privatisierung, Deregulierung und anderen neoliberalen Konzepten zu nötigen, ging und geht die EU nicht weniger aggressiv vor als die USA, Kanada, Japan oder andere Staaten der Nordens. Ein Beispiel sind die sogenannten „Europäischen Partnerschaftsabkommen“ (EPA) der EU mit einer Reihe nord-und westafrikanischer Staaten. Auch verhalten sich in der EU ansässige Konzerne bei ihren globalen Aktivitäten nicht sozialer, menschenrechtskonformer oder umweltfreundlicher als Konzerne aus anderen Staaten. Aktuell sabotiert die EU im Uno-Menschenrechtsrat in Genf die Bemühungen um ein Abkommen mit verbindlichen Menschenrechtsstandards für Unternehmen. Die Zeiten, da die EU als international führend galt bei der Bekämpfung der globalen Erwärmung, sind längst vorbei. Führend ist sie dafür inzwischen als der Welt zweitgrößter Rüstungsexporteur (27 Prozent) hinter den USA und vor Russland und China.

Seit dem Ende des Kalten Krieges militarisiert die EU zunehmend ihre 1992 beschlossene „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP). Nach dem Kosovo-Krieg 1999 wird eine EU-Eingreiftruppe geschaffen sowie eine Rüstungs- und Verteidigungsagentur. 2009 verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten im Vertrag von Lissabon, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. In der 2016 vereinbarten „Globalstrategie“ wird die Schaffung weiterer gemeinsamer militärischer Instrumente vereinbart, 2018 eine „Permanente Strukturierte Zusammenarbeit“ (Pesco) im militärischen Bereich sowie die „regelmäßige reale Aufstockung der Verteidigungshaushalte“. Zu den 47 bislang beschlossenen Pesco-Projekten gehören EU-Kampfhubschrauber und -Artillerie sowie bewaffnete EU-Drohnen.

Seit 2003 gab oder gibt es weiterhin 40 Auslandsmissionen der EU – die meisten davon in Afrika und auf dem Balkan. Davon sind zwar zwei Drittel zivil. Doch 80 Prozent des eingesetzten Personals sind Soldaten. Nicht wenige der 40 Auslandseinsätze – darunter jene am Horn von Afrika, im Tschad, Kongo, in Georgien und Libyen – dien(t)en zumindest indirekt auch der Sicherung von Ressourcen. Keine der militärischen Missionen hat ihr zu Beginn von der EU erklärtes Ziel einer nachhaltigen Befriedung und Stabilisierung der Einsatzländer/-regionen erfüllt.

2019 beschloss die EU erstmals ein gemeinsames Rüstungsbudget, für das in der Haushaltsplanung 2021-2027 über 13 Milliarden Euro budgetiert wurden. Mit weiteren 6,5 Milliarden Euro soll die militärische Infrastruktur in den Mitgliedsländern verbessert werden. Zugleich wurden Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und andere zivile Maßnahmen gekürzt. Im Februar dieses Jahres lancierte Frankreichs Präsident Emmanuelle Macron zudem die Idee einer eigenständigen atomaren Abschreckungskapazität der EU, unabhängig von den USA.

Gerechtfertigt wird die Militarisierung der EU von politischen Führungen in Brüssel, Berlin, Paris und anderen Hauptstädten mit der Behauptung, die EU habe eine „internationale Verantwortung“ und müsse zur Wahrnehmung dieser Verantwortung ein „globaler Player“ werden auf Augenhöhe mit anderen „globalen Playern“ (USA, China, Russland). Dazu seien eigene militärische Instrumente und Fähigkeiten unerlässlich.

Die EU muss wieder zum Friedensprojekt werden – die Alternativen für eine zivile, nach außen friedensfähige Eropäische Union sind:

Oberste Priorität hat die Einstellung und Korrektur aller oben genannten Politiken, mit denen die EU derzeit Unfrieden, Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und Ressourcenkonflikte im „Rest“ der Welt befördert und verschärft:

Rüstungsexporte; ungerechte bilaterale bzw. in der World Trade Organization durchgesetzte Handelsverträge; Dumping subventionierter Agrarexporte; Export von elektronischem und anderem Giftmüll;

Einstellung aller Maßnahmen zur militärischen Aufrüstung der EU u.a.: Pesco; Aufbau interventionsfähiger gemeinsamer Streitkräfte; Rüstungsprojekte;

Beendigung laufender, von der EU eigenmächtig beschlossener Militäreinsätze;

Verpflichtung, vorhandene Streitkräfte und militärische Kapaziäten der EU-Mitgliedsstaaten künftig nur noch einzusetzen im Rahmen von Missionen, für die ein Mandat des Uno-Sicherheitsrates vorliegt;

Umschichtung der im EU-Haushalt vorgesehenen Mittel für militärische Zusammenarbeit, Rüstungsprojekte etc. auf die Etats für zivile Instrumente zur Konfliktbearbeitung, Entwicklungszusammenarbeit u.ä. sowie deutliche Erhöhung dieser Etats;

Ein strategisches Langzeitprogramm für die nächsten 30 Jahre zur wirtschaftlichen und damit auch politischen Stabilisierung der Staaten im Krisenbogen zwischen Marokko und Afghanistan, weil sich nur so die Ursachen und der Nährboden für Gewaltkonflikte, gescheiterte Staaten, islamistisch gerechtfertigten Terrorismus sowie Fluchtbewegungen aus dieser Weltregion überwinden lassen. Bestandteil dieses Programms sollten sein u.a. Ausbildungsprogramme für in den Ländern des Krisenbogens dringend benötigte Fachkräfte auf Basis des in Deutschland, Österreich und der Schweiz praktizierten dualen Ausbildungssytems; Anreize (z.B. Steuernachlässe, Subventionen) für Unternehmen aus der EU, in Ländern des Krisenbogens nachhaltig mit dem Ziel der Schaffung von Arbeitsplätzen zu investieren;

Beendigung der Flüchtlingsabwehr mit militärischen und polizeilichen Mitteln (Frontex) im Mittelmeer und anderen Außengrenzen der EU. Stattdessen Entwicklung und Umsetzung einer Flüchtlings- und Migrationspolitik, die den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno von 1948 sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1953 entspricht. Das ist Ziel 10 der im Jahre 2015 von einem Uno-Gipfel beschlossenen 17 „Ziele für eine nachhaltige Entwicklung“, zu deren Umsetzung bis spätestens 2030 sich auch alle EU-Mitgliedsstaaten bereits verpflichtet haben;

Beschluss, Finanzierung und Durchführung von EU-Projekten zu Rehabilitierung und dem Wiederaufbau in Nachkriegsgebieten. Aktuell dringend erforderlich wäre ein Programm zur Minenbeseitigung in Syrien;

Aktive Diplomatie und Vermittlungsangebote für Konflikte außerhalb Europas, in denen die EU oder einzelne ihrer Mitgliedsstaaten keine eigenen Interessen verfolgen. Besonders dringend wäre ein Angebot an China und Indien zur Vermittlung in dem gefährlich eskalierenden Konflikt zwischen den beiden Atomwaffenmächten um die Wasserressourcen aus dem Hochland von Tibet, in dem die neun größten Flüsse Asiens entspringen. Ohne eine Deeskalation diese Konflikts und seine kooperative Lösung droht mittelfristig ein Krieg, bei dem dann möglicherweise Atomwaffen eingesetzt werden;

Mit Blick auf Atomwaffen sollte die EU die folgende Schritte unternehmen, um die eigene Sicherheit zu erhöhen, den zunehmend gefährdeten Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von A-Waffen (NPT) zu stärken und die Bestrebungen zur weltweiten Abschaffung dieser Massenvernichtungsmittel zu unterstützen: den Abzug der noch auf den Territorien von EU-Staaten (Deutschland, Belgien, Niederlande) gelagerten Atomwaffen der USA durchsetzen; Unterzeichnung des Uno-Abkommens zum Verbot von Atomwaffen durch alle EU-Mitgliedsstaaten; klare Absage an alle (derzeit vor allem von Frankreich beförderten, aber auch von deutschen Politikern unterstützten) Überlegungen für eine eigenständige atomare Abschreckung der EU; aktive Unterstützung für die bereits 2010 von der NPT-Überprüfungskonferenz geforderte Uno-Konferenz über eine A-,B-,C-waffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten, deren Durchführung bislang von Israel und den USA verhindert wird;

Deeskalation des Verhältnisses zu Russland; Beendigung der wirkungslosen und kontraproduktiven Sanktionen, die die Regierung Putin weder zur Aufgabe der 2014 völkerrechtswidrig annektierten Krim noch zur Einstellung der Unterstützung für die Aufständischen im Donbas bewegen konnten; Initiative der EU für eine neue, von der Uno organisierte und überwachte Volksabstimmung auf der Krim mit der Wahloption für eine weitestgehende Autonomie der Krim innerhalb der Ukraine.

Andreas Zumach ist DFG-VK-Mitglied und Journalist. Seit 1988 ist er Uno- und Schweiz-Korrespondent für die Taz mit Sitz in Genf.

Kategorie: Pazifismus Stichworte: 202005, Europa

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