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202005

28. Dezember 2020

Global betrachtet

Militarisierung, Aufrüstung und Widerstand in Zeiten der Corona-Pandemie

Von David Scheuing

In den vergangenen Monaten sind eine Reihe von militärischen Konflikten wieder neu angefacht worden, der erstarkte Autoritarismus weltweit schlägt sich in teils massiver Militarisierung und Aufrüstung nieder und antimilitaristische Stimmen werden (nicht nur in diesen Kontexten) oftmals unterdrückt. Keine leichte Situation für Protest, Widerstand und Aktionen – erst recht nicht in einer Pandemie.

Nagorny-Karabach: Profiteure, Kriegstreiber, Widerstand. Es wird wieder aktiv Krieg geführt in Nagorny-Karabach, auf beiden Seiten mit vollständiger Mobilmachung. Auf der Seite der Gewaltakteure und -profiteure müssen dabei viele Interessen und externe Einflüsse mitbedacht werden. In den Monaten vor den kriegerischen Handlungen kaufte Aserbaidschan beispielsweise ein Vielfaches seiner sonstigen Waffen und militärischer Ausrüstung bei der Türkei (https://reut.rs/2TYGtSQ). Der langjährige Machthaber in Aserbaidschan, Aliyev, wähnt sich auf jeden Fall siegessicher aufgrund der deutlichen Gebietsgewinne, die das Militär erlangt hat. Seine direkte Unterstützung durch die türkische Regierung spielt hierbei eine maßgebliche Rolle.

In Aserbaidschan ging die Regierung gleichzeitig massiv gegen eine kleine Gruppe von Antimilitarist*innen und Anarchist*innen vor. Giyas Ibrahimov, ein lautstarker Kritiker der Regierung in Baku, wurde gleich zu Beginn der kriegerischen Handlungen am 29. September festgenommen – wegen „zersetzender Antikriegspropaganda“. Antimilitaristische Aktivist*innen haben allerdings auch innergesellschaftlich einen schweren Stand, werden sie doch als anti-nationale Agitatoren gesehen (https://bit.ly/3691U9J).

Auf dieses Statement folgte die Erklärung von 17 Aktivist*innen am 30. September, die weitaus größeren Widerhall fand (hier in deutscher Übersetzung: https://bit.ly/3mYeCyD). Einer der Unterzeichner*innen wurde von OpenDemocracy interviewt, Connection hat das Interview übersetzt. Lesenswert! Bahruz Samadov bestätigt darin die Einschätzung, dass vor allem der extreme Nationalismus vieler Bürger*innen für Drohungen gegenüber Aktivist*innen verantwortlich sei. Er nährt gleichzeitig die Hoffnung, dass es eine echte Opposition in Aserbaidschan gibt, die sich gegen den Krieg und den Hass zwischen Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen ausspricht (https://bit.ly/2I5PDuF).

Verweigerer*innen haben in Aserbaidschan keine Rechte und werden verfolgt, entsprechenden Formulierungen eines „alternativen“ Dienstes in der Verfassung zum Trotz (https://bit.ly/367VgQW).

Armenien wiederum fürchtet mit Blick auf die Geschichte und das Trauma des Völkermords zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Recht die Beteiligung der Türkei am Konfliktgeschehen. Die Regierung Erdoğan versucht seit vielen Jahren, von innenpolitischen Problemen durch außenpolitische Volten abzulenken – so verwundert auch diesmal die Intervention nicht. Sie steht auch in einer gewaltvollen Tradition der türkischen Regierung, fasst der türkische Kriegsdienstverweigerer Beran Mehmet İşci zusammen. Er analysiert die Rolle der Türkei in diesem Beitrag: https://bit.ly/389CgnX

Mit Blick auf Armenien bleibt bemerkenswert, dass der Ministerpräsident, der sich selbst durch eine gewaltfreie Revolution an die Spitze des Staates arbeitete (siehe ZC 03/2018, 05/2018), seit 2019 eine unbedingte Eingliederung der Region nach Armenien verlangt. Dies trug sicherlich zur Eskalation des Konfliktes bei, da sowohl Aserbaidschan als auch Russland dies als Kampfansage für einen politischen Lösungsprozess des Konfliktes betrachteten. Den gewaltsamen Angriff im September dieses Jahres rechtfertigt dies keinesfalls. Doch wie vorauszusehen war, ist Paschinjan kein Pazifist (ZC 05/2018).

Auch in Nagorny-Karabach wird die KDV nicht akzeptiert. Viele Verweigerer*innen werden wegen Befehlsverweigererung zu hohen Haftstrafen verurteilt. Ähnliches gilt für Armenien, wo zuletzt Ende Oktober die Haftstrafen für KDVer empfinlich verschärft wurden (https://bit.ly/3mRYDlR).

Den Krieg im Jemen beenden: neue Gerichtsverfahren in Großbritannien und Belgien. Nach den erfolgreichen Verfahren von Aktivist*innen in Großbritannien gegen Lieferungen nach Saudi-Arabien, die die britische Regierung danach schlicht durch Anpassung ihrer Mitteilungspolitik unterlief (ZC 03/2020), ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ende Oktober startete CAAT erneut ein Verfahren gegen die britische Regierung, da die Kampagne die Einschätzung der Regierung für bloße Augenwischerei hält. Von „vereinzelten Menschenrechtsverletzungen“ könne bei Hunderten von Angriffen gegen Wohngebiete, Schulen, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen in keiner Weise mehr gesprochen werden. Mehr zum neuen Verfahren hier: https://bit.ly/3mVh3Ck

In Belgien hat eine Koalition von CNAPD, LDH, Amnesty International und Vredesactie ein Verfahren beim Staatsrat, dem obersten Verwaltungsgericht, gegen die fortgesetzten Exporte der belgischen Waffenproduzenten nach Saudi-Arabien angestrengt. In einem ersten Verfahren war ein teilweises Exportverbot erreicht worden, allerdings durften Lieferungen an die königliche Hofwache geliefert werden, da sie nach Auffassung des Gerichtes nicht im Krieg in Jemen eingesetzt werden würde. Nach Recherchen von Vredesactie steht das allerdings in Zweifel. Nun müssen die Richter*innen sich mit diesen neuen Recherchen beschäftigen (https://bit.ly/3l0QDhN).

Unterstützung aus der Ferne – auch in einer Pandemie. Nicht immer können wir Aktive vor Ort sein, aber unsere Solidarität und Unterstützung gilt Menschen in einer bedrohlichen oder gewaltvollen Situation. Aus den Erfahrungen der Unterstützungsgruppe der WRI für politisch Verfolgte in der Türkei ist jetzt die wertvolle Broschüre „Protection from Afar“ entstanden, die sich eben genau dieser Herausforderung annimmt und auch direkt auf andere Kontexte anwendbar sein kann. Die Broschüre ist auf Englisch erschienen und kann über Connection bezogen werden: https://bit.ly/365rdcz

EGMR: Fatale Entscheidung zu Rechten von KDVer in Russland. In einer Entscheidung vom März 2020, die durch die Ablehnung einer Berufungsverhandlung im September jetzt gültig wurde, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Russland die Rechte eines Klägers nach Artikel 9 der europäischen Menschenrechtscharta (Recht auf freie Meinungsäußerung, Religions- und Glaubensfreiheit) nicht verletzt habe. Dem Verweigerer war aufgrund „unzureichender Begründung“ die Verweigerung verwehrt worden, der EGMR entschied, die dafür zuständige Kommission sei „ausreichend unabhängig“. Die knappe Vier-zu-drei-Mehrheit der Kammer zeigt, dass genügend Richter*innen eine fatale Verletzung der Rechte des Klägers vorliegen sahen. WRI, Ebco, Ifor und Connection haben den Gerichtshof für diese Entscheidung hart kritisiert: https://bit.ly/3ezdGxR

USA: Neuregelung der Rekrutierung geht voran. Nach der Wahl geht die Arbeit weiter. Konkret steht in den USA die Entscheidung entweder für eine Beendigung aller Einzugsregelungen und des „Selective Service“ oder eine Ausweitung der Rekrutierung auch auf Frauen* aus. Ein breites Bündnis von Aktivist*innen und Organisationen hat jetzt die Chance, einer Resolution zur Beendigung Schub zu verleihen. Ein entsprechender Gesetzesentwurf ist im Kongress eingebracht und soll 2021 diskutiert werden. Mehr Informationen bei „World Beyond War“ (https://bit.ly/3mTGTX9).

Thailand: Proteste für Demokratie gewaltsam aufgelöst. Die jungen und friedlichen Demokratieproteste in Thailand, die eine Reform der Monarchie fordern, sind Mitte Oktober mehrfach gewaltsam aufgelöst worden. Human Rights Watch hat dabei diverse Brüche internationaler Menschenrechtsstandards dokumentiert: https://bit.ly/367WUSC

Die Wasserwerfer, die hier zum Einsatz kamen, stammen vom koreanischen Produzenten „Jino Motors“, der in der Vergangenheit auch fleißig an Kunden wie Syrien, Jemen oder Indonesien geliefert hat. Aktivist*innen in Südkorea haben Ende Oktober darauf gedrängt, solche Waffenverkäufe zu stoppen. Hier mehr dazu: https://bit.ly/3l3fz8C

Desinvestition, Entmilitarisierung und Abrüstung: Zwischenruf der WILPF. Die internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit hat einen nötigen Zwischenruf fürs Innehalten und Umdenken in Zeiten der Pandemie formuliert. Ray Acheson bringt darin zum Ausdruck, dass es Zeit dafür ist, Kriegs(güter)investitionen zurückzunehmen, Gesellschaften zu entmilitarisieren (auch durch eine Entpatriarchalisierung der Gesellschaft) und eine allgemeine Abrüstung zu starten. Die Pandemie mache das mehr als überdeutlich sichtbar, denn „derzeit sind wir bis an die Zähne bewaffnet, ohne noch das Geld für eine simple Gesichtsmaske über zu haben“. Es ist Zeit dagegen etwas zu unternehmen! Der ganze Text findet sich hier: https://bit.ly/3oY3ROS

Griechenland: Wieder Verweigerer gerichtlich verfolgt. Der griechische Staat führt derzeit ein Verfahren gegen einen Verweigerer aus dem Jahr 2004 (!). Im Verfahren scheint es aber nicht um die Strafgebühren wegen des nicht angetretenen Kriegsdienstes zu gehen, diese wurden bereits von seinem Konto konfisziert. Viel eher scheint es um eine generelle Verhandlung seiner Verweigerung und den Antrag auf Ersatzdienst zu gehen, die damals abgelehnt wurden. Das europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung (Ebco) zählt über die letzten 15 Jahre mehrere Menschenrechtsverletzungen gegenüber dem Verweigerer durch den griechischen Staat. Das Verfahren wird von griechischen Antimilitarist*innen und Ebco beobachtet. Mehr hier: https://bit.ly/3etnZUj

David Scheuing ist Vertreter der DFG-VK bei der War Resisters´ International (WRI), dem internationalen Dachverband der DFG-VK mit Sektionen in weltweit 45 Ländern, gewählt. An dieser Stelle berichtet er regelmäßig in der ZivilCourage aus der WRI, um den LeserInnen das globale Engagement von KriegsgegnerInnen sichtbar zu machen. Das sind keine tieferen Analysen, sondern kleine kursorische Überblicke und Nachrichten; es geht dabei nicht um Vollständigkeit, vielmehr um Illustration. Ideen und Vorschläge für kommende Ausgaben sind erwünscht. Der Autor ist per E-Mail erreichbar unter scheuing@dfg-vk.de

Kategorie: International Stichworte: 202005

28. Dezember 2020

Solidarität mit den Gefangenen für den Frieden

Ausgabe 5/2020

Zum Internationalen Tag der  Gefangenen für den Frieden am 1. Dezember bittet die War Resisters‘ International (WRI), zu deren Sektionen auch die DFG-VK zählt, um Solidarität mit Menschen, die weltweit wegen ihrer Kriegsdienstverweigerung oder ihres Engagements für Frieden inhaftiert sind.

Ihre Namen und Gefängnisadressen werden in der Liste der Gefangenen für den Frieden veröffentlicht. Die WRI ruft dazu auf, den Gefangenen Kartengrüße als Zeichen der Solidarität und der Ermutigung in die Haft zu schicken. Selbst wenn die Karten die Adressaten und Adressatinnen nicht erreichen sollten, machen sie deutlich, dass die Gefangenen nicht vergessen sind, was sich auf die Haftbedingungen günstig auswirken kann.

Besonders katastrophal ist die Menschenrechtslage in Eritrea. Dort werden Männer und Frauen zu einem zeitlich unbegrenzten Nationaldienst gezwungen, teils Militär-, teils Arbeitsdienst unter härtesten Bedingungen. Turkmenistan inhaftiert regelmäßig Zeugen Jehovas wegen Militärdienstverweigerung. In Kolumbien kommt es immer wieder zu illegalen Zwangsrekrutierungen. In Kamerun werden Menschen, die sich gewaltfrei für Menschenrechte und Autonomierechte des englischsprachigen Landesteils einsetzen, inhaftiert. In den USA ist Rafil Dhafir seit 2003 für 22 Jahre wegen humanitärer Hilfslieferungen in den Irak in Haft, die US-Sanktionen widersprachen.

Die Liste https://www.wri-irg.org/en/inprison enthält die Adressen von Gefangenen stellvertretend für viele andere, deren Adresse unbekannt ist oder die keine Publizität wünschen.

Karten können privat geschrieben werden oder, wie es die DFG-VK Mainz-Wiesbaden macht, gemeinsam mit Live-Musik, Bildern und Filmen, Speis und Trank: Freitag, 4. Dezember, 19 Uhr, Infoladen, Blücherstraße 46, Wiesbaden; corona-bedingt auf 15 Personen beschränkt, verbindliche Voranmeldung empfohlen: dfgvkmz@web.de oder www.dfg-vk-mainz.de

Auch die DFG-VK-Gruppe Mittelbaden beteiligt sich jedes Jahr an der Solidaritätsaktion und schreibt gemeinsam Karten an die Gefangenen für den Frieden; Termin in diesem Jahr: Montag, 7. Dezember, 19 Uhr, in Offenburg; Anmeldung und nähere Information erhältlich über mittelbaden@dfg-vk.de

Gernot Lennert

Kategorie: International Stichworte: 202005

28. Dezember 2020

„Die Bundeswehr macht sich selbst lächerlich“´

Verfassungsbeschwerde gegen Hausdurchsuchungen wegen Adbusting

Von Amab Anonymus

Ausgabe 5/2020

Das Landeskriminalamt (LKA) Berlin verzweifelt dermaßen an überklebten Werbeplakaten, dass es Pazifist*innen und Antimilitarist*innen mit Hausdurchsuchungen zu Leibe rückt. Die Begründung: Adbusting – also die Verfremdung, Umgestaltung z.B. von Reklameplakaten für die Bundeswehr – mache die Bundeswehr „gar lächerlich.“

Dagegen klagt nun die Aktivist*in Frida Henkel* vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Dabei unterstützt sie der Strafrechts-Professor Mohamad El-Ghazi und der Staats- und Verfassungsrechts-Professor. Andreas Fischer-Lescano. „Die Polizei macht sich selbst lächerlich, wenn sie wegen veränderter Poster Hausdurchsuchungen macht“, sagt Frida. „Dazu braucht sie das Adbusting überhaupt nicht.“

Die Aktivistin wurde im Mai 2019 zusammen mit einer anderen Person beim Aufhängen eines korrigierten Bundeswehrplakats von einer Zivilstreife beobachtet. Die nahm die Personalien der zwei Aktivist*innen auf und beschlagnahmte das Plakat. Den scheinheiligen Satz „Geht Dienst an der Waffe auch ohne Waffe?“ verbesserten die beiden zu „Kein Dienst an der Waffe geht ohne Waffe!“

Im September 2019 folgten Hausdurchsuchungen in drei Wohnungen im Umfeld der Betroffenen. Dagegen legt Frida Henkel nun Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. „Etwas Papier, Kleister und die Aussage Kein Dienst an der Waffe geht ohne Waffe reichen für Polizei und Landgericht also aus, um derart massiv in unsere Privatleben einzudringen“, meint sie. „Dass das passiert ist, kann ich mir nur damit erklären, dass wir inhaltlich Kritik geübt haben.“

Auch Andreas Fischer-Lescano, Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht, Rechtstheorie und Rechtspolitik an der Universität Bremen, kritisiert: „Das Vorgehen gegen spezifische Meinungsinhalte wird von Artikel 5 des Grundgesetzes grundsätzlich untersagt. Es wird Zeit, dass die deutschen Sicherheitsbehörden diesen Grundsatz auch dann beherzigen, wenn es um Adbusting geht, das sich kritisch mit ihren Praxen und Imagekampagnen auseinandersetzt.“ Eindeutig sei, dass Hausdurchsuchungen unverhältnismäßig sind.

Mohamad El-Ghazi, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Uni Trier, ist ähnlicher Meinung: „Wir sprechen hier, wenn überhaupt, über einfachen Diebstahl beziehungsweise über Sachbeschädigung. Bei Adbusting geht es maximal um Bagatellkriminalität. Ich glaube, es ist relativ eindeutig, dass hier Hausdurchsuchungsmaßnahmen, also Eingriffe in die Wohnung, unverhältnismäßig sind.“

Die harte Verfolgung von Adbustings ist kein Einzelfall: Im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern (GETZ) war Adbusting 2018/19 gleich viermal Thema. Das GETZ wurde 2012 zur Bekämpfung von Rechtsterrorismus nach dem Auffliegen des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ gegründet. Im Jahr 2019 stand Adbusting im Verfassungsschutzbericht. Das Bundesamt für Verfassungsschutz nannte Adbusting-Aktionen, die Polizei und Militär kritisieren, in einem Atemzug mit Angriffen auf Beamte. Auch der Militärische Abschirmdienst (MAD) sammelt Informationen zu linken Adbustings, weil es seine Aufgabe sei, „die Sicherheit der Liegenschaften der Bundeswehr und ihrer Verbündeten zu gewährleisten.“ Die DFG-VK kritisierte dies in einer Pressemitteilung.

Die Polizeien von Berlin, Bayern und Thüringen ließen gefundene Poster auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren untersuchen. Dies ist nur bei „erheblichen“ Straftaten erlaubt. Die Verfahren zu Adbusting mit Werbevitrinen endeten bisher mit Einstellungen wegen Geringfügigkeit. Der erste und bis jetzt größte Fall vor Gericht im Oktober 2019 wurde eingestellt. Die Staatsanwaltschaften von Berlin, Erfurt und Hamburg stellten Verfahren wegen Adbusting ein, weil sie keine Strafbarkeit erkennen konnten.

Kritik aus der Politik. Ulla Jelpke, Bundestagsbgeordnete der Linken, unterstützt das Anliegen: „Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Sicherheitsbehörden womöglich deswegen gleich Gewalt und Extremismus rufen, weil die Plakatkünstler mit ihrer Kritik an Gewalt durch Polizei und Militär durchaus ins Schwarze getroffen haben. Getroffene Hunde bellen.“ Auch Anne Helm von der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus sagt: „Adbusting ist kein Terrorismus.“

Frida Henkel hatte bereits eine Beschwerde gegen die Durchsuchung beim Landgericht eingereicht. Diese wurde abgelehnt. Frida dazu: „Sogar das Landgericht muss anerkennen, dass Adbusting keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder sonst irgendwen bedeutet und in diesem Sinne eine ‚unerhebliche Straftat‘ sei.“

Doch weil LKA und Staatsanwaltschaft keinen ausreichenden Tatverdacht hatten, sagt das Landgericht, sie hätten durchsuchen müssen, um zu schauen, ob sie nicht doch einen Tatverdacht hätten finden können. Deshalb sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorliegend „noch“ gewahrt gewesen. „Wer das jetzt gaga findet, hat es begriffen“, erläutert Frida.

Wann mit einer Entscheidung in Karlsruhe zu rechnen ist, das ist unklar. Das Bundesverfassungsgericht nimmt nur sehr wenige Beschwerden überhaupt zur Entscheidung an. Und die Bearbeitung kann Monate, mitunter Jahre dauern.

„Wenn unser Anlagen in unserem Sinne entschieden wird und das LKA eins auf den Deckel kriegt, knallen bei uns natürlich die Sektkorken. Aber auch so dürften die vielen Medienanfragen und die Kritik aus der Politik beim LKA dafür sorgen, dass die sich das mit den Hausdurchsuchungen beim nächsten Mal zweimal überlegen.“

Der ungenannte Autor ist der Redaktion bekannt. Er ist aktiv bei der Antimilitaristischen Aktion Berlin in der DFG-VK (Amab).

Der Carl-von-Ossietzky-Solidaritätsfonds der DFG-VK unterstützte Frida Henkel im Jahr 2019 beim Aufbringen der Anwalts- und Verfahrenskosten. Spenden für  den CvO-Solifonds bitte an: IBAN DE47 3702 0500 0008 1046 06 bei der Bank für Sozialwirtschaft.

* Frida Henkel heißt nicht Frida Henkel. Die Jura-Studentin will Rechtsanwältin werden, aber ihren richtigen Namen nicht auf „ewig“, weil das Internet ja nichts vergisst, mit Adbusting verbunden wissen.

Kategorie: Antimilitarismus Stichworte: 202005, Adbusting

28. Dezember 2020

In Ulm: „Stadtrundfahrt zum Nachdenken“

Eine zur Nachahmung empfohlene Aktivität zu Rüstung und Militär

Ausgabe 5/2020

Von Rainer Schmid

Im Rahmen der Ulmer Friedenswochen 2020 führten wir eine Busfahrt durch. Mit 40 Personen war der Doppelstockbus unter Corona-Bedingungen gut gefüllt. Es war eine gute Entscheidung, einen Bus zu chartern, so waren wir unabhängig vom Wetter und auch gehbehinderte Personen konnten teilnehmen.

Wir steuerten insgesamt 16 Orte an: 8 Rüstungsfirmen, 1 Kirche, ein Kriegerdenkmal, das Bundeswehr-Krankenhaus, das Bundeswehr-Karrierecenter, zwei Kasernen, das Finanzamt Ulm und das Beschussamt. 9 Orte schauten wird „nur“ durch die Busfenster an, an 7 Orten stiegen wir aus.

Auf der Fahrt zwischen den einzelnen Stationen wurden grundsätzliche Fragen gestellt: Entsteht durch Rüstung und Militär wirklich Sicherheit? Welche zivilen Methoden gibt es, Frieden zu stiften?

Am Finanzamt wurde über Rüstungssteuer-Verweigerung informiert, der „Verein Friedenssteuer e.V.“ vorgestellt. Am Karrierecenter wurden die DFG-VK-Flyer „Felix“ und „Lilly“ verteilt und ein DFG-VK-Banner entrollt: „Kein Werben fürs Töten und Sterben“. Am Bundeswehr-Krankenhaus wurde gefordert, dieses in ein ziviles Krankenhaus zu verwandeln. An der Pauluskirche wurde über die Militärkonzerte nachgedacht, die regelmäßig dort stattfinden. An einem Kriegerdenkmal wurde betont, dass diese Denkmäler nicht heilig sind. Wenn Menschen diese gebaut haben, dann können sie diese verändern oder abreißen. Eine weitere Möglichkeit: Auf Tafeln könnte man an die Opfer der deutschen Angriffskriege erinnern.

Während der Fahrt arbeiteten wir in verteilten Rollen. Einer von uns hatte die Route und die Zeit im Blick. Zwei von uns waren als Referent*innen tätig. An jeder Station gab es kurze Erklärungen.  

Ein Problem: Die Erklärungen werden leicht zu lang. Es geschieht schnell, dass man an einer Station hängenbleibt. Deshalb haben wir alle Texte vorher aufgeschrieben. Die Tour wurde vorher einmal abgefahren. Die Rede- und Fahrzeiten wurden gestoppt. Die Zeit für das Ein- und Aussteigen wurde addiert.

Insgesamt hat die Tour 2 Stunden und 40 Minuten gedauert. Ein geplantes Abschlussgespräch in einem Vereinsheim wurde nicht angenommen. Die Leute waren einfach zu erschöpft.

Der „Verein Friedensarbeit Ulm“ hat die Rundfahrt finanziert und verantwortet. Ein Fernsehteam hat teilgenommen. Der Beitrag wurde auf Regio-TV gesendet.  

Weitere Informationen: https://bit.ly/3eFxmjQ

Rainer Schmid ist seit Langem aktiv in der DFG-VK und arbeitet u.a. zum Thema Kirche und Militär.

Kategorie: Antimilitarismus Stichworte: 202005

28. Dezember 2020

Erinnerung an NS-Verfolgte in Wattenscheid

Antifaschistischer Stadtplan vorgestellt

Von Felix Oekentorp

Ausgabe 5/2020

Der Wattenscheider Hannes Bienert war ein Antifaschist, wie er im Buche steht. Als 16jähriger noch in die Wehrmacht und an die Flak gezwungen, desertierte er und lebte seitdem das Motto „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“. Ihm ist es zu verdanken, dass drei Stelen, ein privat finanziertes Denkmal, an die ermordeten jüdischen Menschen aus Wattenscheid erinnern. Er hat mit seiner Hartnäckigkeit dafür gesorgt, dass der Platz vor dem Wattenscheider Rathaus den Namen von Betti Hartmann trägt, sie war als 15jährige in Auschwitz ermordet worden. In den letzten Wochen vor seinem Tod hatte Hannes ein neues Projekt begonnen, den „Antifaschistischen Stadtplan Wattenscheid“.

Einige Orte in Wattenscheid hatte er bereits recherchiert, die an die Zeit des Faschismus erinnern, und dafür auch schon Informationen zusammengetragen. Einen Großteil seiner handschriftlichen Informationen hatte er mir zur Digitalisierung anvertraut. Sein Tod im Jahr 2015 führte dazu, dass dieses Projekt einige Jahre auf Eis lag, es geriet aber nicht in Vergessenheit. Das Alois-Stoff-Bildungswerk der DFG-VK NRW hatte die Fertigstellung auf seine Agenda gesetzt, aber aus Kapazitätsgründen immer wieder verschoben.

Mit der Einrichtung einer voll geförderten Stelle beim Bildungswerk waren die Voraussetzungen geschaffen worden, das Stadtplanprojekt endlich zu vollenden. Und weitere Fördermittel, diesmal vom Verfügungsfonds der „Sozialen Stadt Wattenscheid“ an den Kooperationspartner des Bildungswerks, das Wattenscheider „Kuratorium Stelen der Erinnerung“ für die Layout- und Druckkosten der Broschüre kamen dazu.

Auf 44 Seiten werden den Lesenden dieser Broschüre manche Orte vor Augen geführt, an denen diese bis dato gedankenlos vorübergegangen sein mögen. Natürlich werden darin der Betti-Hartmann-Platz und die Stelen gewürdigt, aber auch die Stolpersteine werden mit Namen und Adresse gewürdigt, zu den in dem Stadtplan genannten 47 sind zwischenzeitlich weitere fünf am 8. Oktober hinzugekommen.

Im Stadtplan ebenfalls gewürdigt werden Paul Cohn, ein jüdischer Fußballer und Gründungsmitglied eines der Vorgängervereine der SG Wattenscheid 09, und Nikolaus Groß, christlich überzeugter Hitlergegner, der von seiner Kirche alleingelassen im Januar 1945 in Plötzensee hingerichtet wurde und der 2001 selig gesprochen wurde. Sein Sohn hatte gegen diese nachträgliche Vereinnahmung durch die Kirche protestiert.

In Wattenscheid gibt es ein Viertel mit Straßennamen von Militaristen. Ich konnte es mir nicht verkneifen, die Herren Seydlitz (Namensgeber auch der Kaserne in Kalkar an der wir alljährlich im Ostermarsch-Bündnis demonstrieren) und Derfflinger dadurch lächerlich zu machen, dass Anekdoten um die nach ihnen benannte Kriegsschiffe der kaiserlichen Kriegsmarine Eingang fanden in die Stadtplan-Broschüre. Das Derfflinger-Kriegsschiff bewegte sich bei seinem Stapellauf nur wenige Zentimeter und kam erst vier Wochen später ins Wasser, das nach Seydlitz benannte wurde schon bei seinem zweiten Einsatz getroffen und schwer beschädigt und nach verlorenem Krieg von der eigenen Besatzung versenkt.

Ein Stadtplanausschnitt von 1939, vom Katasteramt der Stadt Bochum kostenlos für dieses Projekt zur Verfügung gestellt, belegt, wie die Nazis sich auch im Straßenbild breitgemacht haben: Ein Platz der SA, ein Adolf-Hitler-Platz und eine Horst-Wessel-Promenade sind Zeugen der faschistischen Besitznahme des öffentlichen Raums.

Helmut Horten bekommt in diesem antifaschistischen Stadtplan ebenfalls ein eigenes Kapitel, war doch das von ihm „arisierte“ Kaufhaus Hess in Wattenscheid das zweite, auf dem er seinen Reichtum gründete.

Dieser Stadtplan ist natürlich nicht für das Verstauben im Regal erstellt. Er liegt zur Mitnahme aus in den Stadtarchiven von Bochum und Wattenscheid und in den dortigen Stadtbibliotheken, und die Schulen in Wattenscheid haben Exemplare davon erhalten mit dem Angebot, auch Klassensätze bekommen zu können.

Schließlich fand am Sonntag, den 11. Oktober, auf Grundlage dieses Stadtplans ein erster antifaschistischer Stadtrundgang Wattenscheid statt. Dazu fanden sich zahlreiche Teilnehmende ein, gerade so viele, wie unter Corona-Bedingungen noch zu verantworten sind. Es wurden von den Teilnehmenden auch weitere Aspekte und Orte zur Sprache gebracht, die in künftige Auflagen des Stadtplans Eingang finden werden.

Vielleicht kann dieser Stadtplan auch Inspiration sein, an anderen Orten ähnliche Projekte zu starten als kleine Beiträge gegen das Wiedererstarken der Faschisten.

Der antifaschistische Stadtplan Wattenscheid kann bestellt werden beim DFG-VK-Bildungswerk (dfg-vk_bildungswerk_nrw@t-online.de) oder beim DFG-VK-Landesverband NRW (nrw@dfg-vk.de).

Felix Oekentorp ist Landessprecher der DFG-VK NRW, hauptamtlich Beschäftigter beim Alois-Stoff-Bildungswerk der DFG-VK NRW und Vorsitzender des Kuratoriums „Stelen der Erinnerung“.

Kategorie: Antimilitarismus Stichworte: 202005, Erinnerungskultur

20. Dezember 2020

MKEK – Ein Superspreader deutscher Rüstungstechnik

Von Otfried Nassauer

Ausgabe 5/2020

Die Maschinenpistole MP5 von Heckler & Koch ist seit Jahrzehnten ein Bestseller. Zu ihrer Verbreitung hat die staatliche türkische Waffenschmiede MKEK in Kirikkale bei Ankara einen erheblichen Beitrag geleistet. Seit 1983 hält sie eine Lizenz, um diverse Versionen der MP5 auch ohne Zulieferungen aus Deutschland produzieren zu können, darunter Standardversionen wie die MP5A3, aber auch die bei Spezialkräften und Geheimdiensten besonders beliebte Kurzausführung MP5K.

Bis 2014 war MKEK der einzige Hersteller von Maschinenpistolen in der Türkei. Erst dann kam ein weiteres Produkt auf den Markt, für das aber bisher kein Export gesichert dokumentiert ist. Deshalb ist davon auszugehen, dass (fast) alle der mindestens 20 702 Maschinenpistolen, die in den Jahren 2006 bis 2019 in 43 Länder exportiert wurden, MP5 aus der MKEK-Lizenzproduktion waren. Die Zahlen stammen aus den nur unvollständig abgegebenen offiziellen Jahresmeldungen der Türkei an das UN-Waffenregister (Unroca) für diesen Zeitraum. Dort sind 21 Empfängerländer für die MP5 explizit genannt und weitere 22 gelistet, die mit Maschinenpistolen nicht genau bezeichneten Typs aus der Türkei beliefert wurden, bei denen es sich (fast) vollständig ebenfalls um MP5 gehandelt haben muss.

Als die Bundesregierung Heckler & Koch 1983 genehmigte, den Lizenzvertrag mit MKEK abzuschließen, wurde dieser an zwei Bedingungen geknüpft: Die Produktion war nur „für den Eigenbedarf“ zulässig, und MKEK erhielt „keine Exportrechte zugestanden“. Die 2006 bis 2019 an die Vereinten Nationen gemeldeten MP5-Exporte sowie alle, die nicht an die Vereinten Nationen gemeldet wurden oder in den Jahren vor Einrichtung des Melderegisters geliefert wurden, verstoßen gegen diese beiden Lizenzbedingungen. Darunter auch Lieferungen an Länder wie Aserbaidschan, Saudi-Arabien, Georgien, die Demokratische Republik Kongo, Venezuela, Vietnam oder die Ukraine und Belarus.

Die Bundesregierung hat diese Verstöße nie geahndet. Sie hat das Geschehen scheinbar lieber erst gar nicht zur Kenntnis genommen. Im Sommer 2020 antwortete sie auf die Frage, ob MKEK die Sturmgewehre G3 und HK33 oder die Maschinenpistole MP5 noch produziere, lapidar mit dem Satz: „Die Bundesregierung hat keine Kenntnis davon, ob die angegebenen Waffen noch gefertigt werden.“ Beste Voraussetzungen also dafür, dass MKEK auch künftig viele jener Kunden beliefern kann, die Heckler & Koch aufgrund seiner „Grüne Länder Strategie“ heute nicht mehr zu beliefern verspricht.

Otfried Nassauer war der Gründer und Leiter des Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Er starb überraschend am 1. Oktober, ein Nachruf von Jürgen Grässlin findet sich auf Seite 31 in dieser ZivilCourage.

Kategorie: Antimilitarismus Stichworte: 202005, Rüstung

20. Dezember 2020

Rüstungsexport- und Militärmacht Türkei

Das Ziel: der Aufbau einer autonomen Rüstungsindustrie

Ausgabe 5/2020

Von Jürgen Grässlin

Über Jahrzehnte hinweg waren Heckler [&] Koch (H[&]K) und die Bundesregierung die maßgeblichen Lieferanten bzw. diejenigen, die Kleinwaffentransfers an die Generalität in Ankara genehmigt haben. Entscheidend dabei waren – neben den Direktexporten aus dem H[&]K-Stammwerk in Oberndorf – die Lizenzvergaben für das Schnellfeuergewehr G3 (1967 durch den Bund), das Sturmgewehr HK33 (1998 durch H[&]K) und die Maschinenpistole MP 5 (1983 durch H[&]K). Seither konnten die Kleinwaffen bei der Firma MKEK in Eigenregie bar jeglicher deutscher Kontrolle gefertigt und eingesetzt werden.

Die Folgen dieser völlig enthemmten Lizenzvergabepolitik waren bereits im Bürgerkrieg türkischer Streitkräfte mit kurdischen Kämpfern von 1984 bis 1999 fatal. In ihrer „Siegesbilanz“ verkündete die türkische Regierung: „Insgesamt betragen die Verluste bei den Terroristen 35 384.“ In dieser Propagandaschrift verschwiegen die Regierenden aus Ankara, dass die allermeisten Getöteten ZivilistInnen der kurdischen Bevölkerung waren.

Die Massenvernichtungswaffen G3 und MP5 wirken tödlich – die MP5 bis heute. Im Infokasten rechts „MKEK – Ein Superspreader deutscher Rüstungstechnik“ offenbart Otfried Nassauer einen kurz vor seinem plötzlichen Tod recherchierten Blick auf eine desaströse Lizenzvergabe, gemessen an den Opferzahlen der tödlichsten aller Waffengattungen: eben der Kleinwaffen.

Die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft – aktuell bei Drohnenkriegen. Nicht nur im Bereich der Kleinwaffen können der Nato-Partner Türkei und die Bundesregierungen auf eine Jahrzehnte währende Tradition deutsch-türkischer Waffenbrüderschaft zurückblicken. Allein vom Leopard-2-Kampfpanzer von Krauss-Maffei Wegmann hatte Deutschland der Türkei 354 Stück geliefert.

Leo-2 wurden seitens der Truppen von u.a. bei der völkerrechtswidrigen Intervention im November 2019 in Nordsyrien eingesetzt. Dessen ungeachtet hat die Bundesregierung neuerliche Rüstungsexporte in die Türkei bewilligt. Allein für 2019 genehmigte sie Kriegswaffentransfers im Gesamtwert von 31,6 Millionen Euro an das Militär in Ankara. Schlimm genug und doch weitaus weniger als in den Jahrzehnten zuvor.

Aktuelles Beispiel in einer langen Historie deutsch-türkischer Waffenbrüderschaft ist der Einsatz deutschen Know-hows in türkischen Kampfdrohnen. Für das ARD-Politikmagazin „Monitor“ resümiert Georg Restle: In Libyen oder Syrien kämen zunehmend Waffen zum Einsatz, „in denen eine ganze Menge deutscher Technologie stecken dürfte. Es handelt sich um Gefechtsköpfe – gezielt abgefeuert von Drohnen. […] Wie wichtig dem türkischen Präsidenten Erdogan diese neuen Waffen dabei sind, kann man auf Bildern wie diesem sehen, wo er die Drohnen sogar per Hand signiert.“

Der Monitor-Bericht – verfasst von Jochen Taßler, Nikolaus Steiner und von Otfried Nassauer in seiner letzten großen Rüstungsrecherche – dokumentiert den „Aufstieg der Türkei zur Drohnenmacht und welche Rolle deutsche Rüstungsexporte dabei spielen“. Der Monitor-Beitrag ist abrufbar in der ARD-Mediathek unter: https://bit.ly/3l4NeOZ

Steigerung der Militärausgaben unter Erdoğan. In den vergangenen Jahren machten türkische Regierung und Generalität vielfach auf sich aufmerksam, einmal mehr in ungutem Sinne. Unter Führung des macht- und militärorientierten Präsidenten Erdoğan wurden die Militärausgaben drastisch erhöht.

Außenpolitisch ließ und lässt Erdoğan die Muskeln spielen – sei es in der Konflikteskalation mit dem Nato-Partner Griechenland um den Zugang zu Rohstoffen im östlichen Mittelmeer, sei es als aktive Kriegspartei im Libyenkrieg, sei es bei der Beschaffung russischer statt US-amerikanischer „Abwehrwaffen“ (wohlwissend um die harte Konfliktlinie mit den USA), sei es bei der Einmischung in die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Region Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan.

Die Wahl von Erdoğans zum zwölften Präsidenten der Republik Türkei markiert einen Wendepunkt. Nach dessen Wahl am 28. August 2014 wurden die außenpolitischen Ziele aggressiver gesteckt und die türkischen Militärausgaben massiv erhöht: von 12,3 (2015) auf 14,4 (2016), 15,5 (2017), 19,6 (2018) und nunmehr 20,8 Milliarden US-Dollar 2019.

Türkische Rüstungsexport-Riesen im Großwaffenbereich. Mehr Geld bedeutet mehr Rüstungsbeschaffungen und -exporte. In seinem Ranking der Top 100 rüstungsproduzierender und -exportierender Unternehmen führt das Stockholm International Peace Research Institute (Sipri) gleich zwei türkische Großkonzerne auf. Die Turkish Aerospace Industries (TAI) auf Platz 84 mit leicht steigenden Waffentransfers im Volumen von 1,070 Milliarden Dollar 2018. Zum Vergleich, 2017 hatten diese mit 1,065 Milliarden Dollar knapp darunter gelegen.

Der eindeutige Gewinner der Erdoğan´schen Aufrüstungspolitik aber ist der börsennotierte Rüstungskonzern Askerî Elektronik Sanayii A.Ş. (Aselsan) mit Sitz in Ankara, der sich im Mehrheitsbesitz der türkischen Streitkräfte befindet. Der Großkonzern fertigt und exportiert Kommunikations- und Verteidigungsgeräte, Überwachungssysteme und Mittel zur elektronischen Kriegsführung. In den vergangenen Jahren verzeichnete das Unternehmen einen steten Aufstieg. War Aselsan 2008 noch nicht in den Sipri-Top-100 verzeichnet, so tauchte der Rüstungsriese 2012 auf Platz 87 auf und avancierte nach einer zehnjährigen Boomphase auf Platz 54 (2018).

Basis dieses Aufstiegs bilden die stetig steigenden Waffenexporte, die allein von 2017 auf 2018 um 41 Prozent von 1,237 auf 1,740 Milliarden Dollar in die Höhe katapultiert wurden. Beide Unternehmen sind weit überwiegend auf den Export von Kriegswaffen ausgerichtet: TAI mit 86 Prozent Aselsan gar mit 93. Ergänzend sei erwähnt, dass zahlreiche weitere rüstungsproduzierende Unternehmen in den vergangenen Jahren wirtschaftlich schnell gewachsen, jedoch noch außerhalb der Top 100 platziert sind.[nbsp] Das Ziel der Erdoğan-Regierung im 21. Jahrhundert ist klar definiert und wird mit Nachdruck verfolgt: der Aufbau einer landeseigenen, vom Ausland autonomen Rüstungsindustrie.

Antimilitaristische Handlungsoptionen im Wahljahr 2021. Auch unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel war die Bundesrepublik Deutschland anderthalb Jahrzehnte lang ein verlässlicher Partner für die Machthaber in Ankara.

Welche Handlungsoptionen stehen uns für 2021 zur Verfügung? Im kommenden Herbst findet die Bundestagswahl statt.

Bis dahin offenbaren sich verstärkt Chancen, die Aufrüstungs- und Militarisierungspolitik, und damit auch die Frage von Rüstungsexporten an menschenrechtsverletzende und kriegsführende Staaten, verstärkt zum Thema zu machen. Zumal in Corona-Zeiten augenscheinlich wird, dass genug Geld da ist für Rüstung – und viel zu wenig für Gesundheit.

Jürgen Grässlin ist Mitglied im DFG-VK-BundessprecherInnenkreis.

Kategorie: Antimilitarismus, Rüstungsexporte Stichworte: 202005, H&K, Waffenexporte

20. Dezember 2020

„Es  ist  ein  Skandal  der  Nachkriegsgeschichte“

Interview mit Hannah Brinkmann, die ein grafisches Erzählungsbuch über ihren
Onkel gemacht hat. Er hatte sich 1974 als abgelehnter KDVer das Leben genommen.

Ausgabe 5/2020

Du erzählst in Deinem Buch die Geschichte eines Kriegsdienstverweigerers, der nach vergeblichen Versuchen, anerkannt zu werden, Suizid begangen hat. Warum hast Du das Thema aufgegriffen?

Hermann Brinkmann war mein Onkel. Ich bin 1990 geboren und habe ihn nicht kennengelernt. Erst als meine Großmutter starb und ich in ihrem Nachlass eine Todesanzeige von ihm fand, bin ich darauf gestoßen. In der Todesanzeige hat die Familie damals den Fall öffentlich gemacht und die einzelnen Daten sehr genau aufgelistet. Als ich das sah, habe ich mich das erste Mal gefragt, was das überhaupt bedeutet. Ich hatte vorher noch nie von Kriegsdienstverweigerung gehört, wusste nichts von der Problematik.

Wie hat Deine Familie reagiert, als Du ihr von Deinem Projekt erzählt hast?

Hermanns Geschichte ist sehr politisch. Aber für die Teile meiner Familie, die damals dabei waren, ist es auch eine sehr private. Sie hatten sich damals entschieden, mit der Todesanzeige an die Öffentlichkeit zu gehen und diese Anzeige in der FAZ zu veröffentlichen.

Und doch: Nach so langer Zeit sich wieder damit auseinanderzusetzen, das war für einige schwierig. Andere waren sehr offen und bereit, darüber zu sprechen und mir viel zu erzählen. Insgesamt habe ich viel Unterstützung aus meiner Familie erhalten. Dafür bin ich sehr dankbar.

Überraschend zu hören, dass die Familie damals an die Öffentlichkeit ging, Du aber so wenig darüber gehört hattest.

Zum einen, denke ich, ist viel Zeit vergangen. Zum anderen waren die Folgen der Veröffentlichung auch relativ traumatisch. Da standen dann Journalisten der Bild-Zeitung kurz nach der Beerdigung im Garten. Der Fall hat viel Aufsehen erregt.

Aber auch der Umgang damit war sehr unterschiedlich. Von einem Onkel weiß ich, dass er viel mit seinen Töchtern darüber gesprochen hat. Mein Vater hingegen hat eher wenig darüber geredet. Er hat es wohl anders verarbeitet.

Warum war es Dir so wichtig, das Thema aufzugreifen und ein Buch daraus zu machen?

Irgendwie war mein Onkel in der Familie immer präsent. Ich wusste, dass er Suizid begangen hatte. Aber die Entscheidung, ein Buch zu machen, entstand erst, als ich mich mit den politischen Dimensionen auseinandersetzte, erfahren habe, was KDVern in Deutschland in dieser Zeit passiert ist. Es war Unrecht. Und umso mehr ich herausgefunden habe, desto sicherer war ich mir, dass das nicht nur eine persönliche Geschichte ist, die unsere Familie betrifft. Mein Onkel Hermann steht als ein Beispiel dafür, was meines Erachtens ein Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte ist. Das muss erzählt werden.

Du schilderst in Deinem Buch sehr eindrücklich das Prüfungsverfahren.

Es war für mich eines der wichtigsten Punkte darzustellen, was da passiert ist. Vorsitzende der Prüfungsausschüsse waren Juristen aus der Bundeswehrverwaltung. Und auch viele Beisitzer waren total voreingenommen. Ich wollte die Verhandlung im Buch so darstellen, dass sie auch den Stress und die Demütigung zeigt, denen der Verweigerer in diesem Moment ausgesetzt war. Gerade wenn der Verweigerer dann noch jemanden vor sich hat, der unberechtigte Konfliktfragen stellt, sein Amt missbraucht, war er diesem hilflos ausgeliefert.

Hattest Du die Chance, die Akten des Verfahrens einzusehen?

Die Akten der Verhandlungsprotokolle aus den 70er Jahren wurden 2004 vernichtet – unter ihnen war vermutlich auch Hermanns Akte.

Wie lange arbeitest Du an so einem Buch?

An diesem Buch habe ich seit Anfang 2016 gearbeitet, immer mal mit kleinen Unterbrechungen. Seit Ende 2018 habe ich mich dann ausschließlich damit beschäftigt.

Das ist eine lange Zeit. Warum hat es so lange gedauert?

Ich bin keine Historikerin, und der Stoff spielt 1973 und 1974. Ich bin Comic-Zeichnerin und Autorin. So musste ich erst einmal recherchieren, mich in das Thema einarbeiten. Ich musste herausfinden, was wichtig ist und was nicht.

Hast Du jedes Bild gezeichnet, oder konntest Du Vorlagen für andere Teile wiederverwenden?

In jedem Bild ist die Gestaltung eine andere, die Gesichtsausdrücke sind anders. Nur Grundstrukturen z.B. von Gesichtern konnte ich wiederverwenden. Das heißt, dass ich tatsächlich jedes Bild in dem Buch gezeichnet habe.

In Deutschland tun wir uns ja schwer, einen eingängigen Begriff zu finden, um das zu beschreiben, was Du gemacht hast. Du nennst es grafische Erzählung, der Verlag Graphic Novel. Warum hast Du diese Form gewählt?

Ich komme eigentlich aus der Malerei. Während meines Studiums bin ich in die Illustration gegangen. Aber als Kind und als Teenager habe ich schon viel geschrieben. Das Schreiben, das Erzählen von Geschichten war immer Teil meiner Identität. Im Studium hatte ich dann Gelegenheit, bei Anke Feuchtenberger grafische Erzählung zu studieren. Das hat für mich sehr viel Sinn gemacht, weil hier beides zusammenkam. Ich konnte zeichnen und zugleich erzählen. Da wurden mir ganz neue Welten eröffnet.

Zum Beispiel in diesem Buch. Das Haus, in dem Hermann lebt, ist das Haus meiner Großmutter gewesen. Das gibt es noch heute. Als Kind verbrachte ich viel Zeit dort. Und in der grafischen Erzählung habe ich die Möglichkeit, das Haus so darzustellen, dass andere wirklich wissen, wie und wo das alles stattfindet. Es eröffnet eine neue Erzählebene.

Was ich auch so gerne mag: Wer das Buch liest, kann in einem Raum, auf einer Seite verweilen, solange er oder sie das will. Das geht beim Film nicht. Eine grafische Erzählung ist eine ruhige Art, eine Geschichte darzustellen, die Raum lässt. Aber sie ist auch sehr eindrücklich. Das gefällt mir daran so sehr.

Welche Hoffnung verbindest Du mit der Veröffentlichung des Buches?

Ich wünsche mir gerade für meine Generation, die nicht mit der Wehrpflicht konfrontiert ist, dass ein Bewusstsein zu diesem Thema entsteht. Die Wehrpflicht wurde nicht einfach abgeschafft und weg ist sie. Vielmehr ist es etwas, was wir uns, was die Generationen vor uns, erkämpft haben. Es wurden auch Opfer gebracht, dass wir jetzt keine Wehrpflicht mehr haben.

Wichtig ist dieses Thema aber auch im Hinblick darauf, dass einige Politiker*innen wieder eine Wehrpflicht einführen wollen.

Und auch das: Die fehlende Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung ist ein Problem, unter dem viele junge Männer – und auch Frauen – in anderen Ländern leiden. Sie werden dort dazu gezwungen, einen Dienst an der Waffe abzuleisten, den sie nicht wollen. Sie werden dort politisch und strafrechtlich verfolgt. Mir ist wichtig, dass an dieser Stelle Bewusstsein geschaffen wird für ein Grundrecht, das im Falle meines Onkels mit Füßen getreten wurde, das auch noch heute allzu oft nicht gewährt wird.

Hannah Brinkmann arbeitet in ihrem für den Leibinger-Preis nominierten Debüt „Gegen mein Gewissen“ das Schicksal ihres Onkels Hermann Brinkmann auf, das in den 1970er Jahren bundesweit Schlagzeilen machte und eine Debatte über die Rechtmäßigkeit der Gewissensprüfungen für Kriegsdienstverweigerer auslöste. Sie wählte dafür die Form einer grafischen Erzählung, eine bebilderte Geschichte.

Für die ZivilCourage sprach Rudi Friedrich, DFG-VK-Mitglied und seit Jahrzehnten bei Connection e.V. aktiv in der Unterstützungsarbeit für KDVer und Deserteure, mit Hannah Brinkmann (de.connection-ev.org).

Hannah Brinkmann: Gegen mein Gewissen. Avant-Verlag GmbH, Berlin 2020, 232 Seiten, 30,00 Euro; ISBN 978-3-96445-040-1

Kategorie: Pazifismus, Wehrpflicht Stichworte: 202005, Kriegsdienstverweigerung

20. Dezember 2020

Friedensprojekt oder Global Military Player

Zur Verantwortung Europas in der Welt

Ausgabe 5/2020

Von Andreas Zumach

Europa muss Verantwortung übernehmen! – aber wie? Immer öfter wird gefordert, dass Europa und auch Deutschland „mehr internationale Verantwortung übernehmen“ müssten angesichts der zahlreichen Krisen einerseits und der politischen und ökonomischen Bedeutung andererseits.

Gemeint ist fast immer, man müsse militärisch aufrüsten und stärker präsent sein, um in Konflikten intervenieren zu können etc. Doch wäre dies eine verantwortliche Politik? Wie sahen die Ergebnisse solcher Versuche, „Verantwortung zu übernehmen“ bisher aus? Und: Wie könnte eine wirkliche Übernahme von Verantwortung in der Welt aussehen?

Die EU und ihre Vorgängerinstitutionen seit 1951 (Montanunion, EWG, EG) sind Friedensprojekte! Ohne jede Einschränkung! Das war die feste Überzeugung der Generation meines Großvaters und meines Vaters, die in den beiden Weltkriegen zwangsweise zum Militär eingezogen wurden, gegen die Franzosen kämpfen mussten, in Frankreich verwundet wurden und in Gefangenschaft gerieten. In den Jahrzehnten nach den beiden Weltkriegen verbrachten sie ihre Auslandsurlaube mit der Familie am liebsten in Frankreich.

Die große Verantwortung meiner und der nachfolgenden Generationen ist es, dafür zu sorgen, dass Deutsche, Franzosen und andere Europäer künftig nicht gegen Dritte Krieg führen.

Doch die historische Erzählung und die Selbstwahrnehmung der EU vom „Friedensprojekt“, das 2012 mit der Verleihung des Friedensnobelpreises in den Köpfen und Herzen vieler Europäer*innen noch einmal bekräftigt wurde, verhindert selbst bei Friedensbewegten, Linken und Grünen nach wie vor die Wahrnehmung und kritische Analyse der Realitäten und den notwendigen politischen Widerspruch und Widerstand.

Zu dieser Selbstwahrnehmung trägt bei, dass Europa (die Europäische Union und die Schweiz sowie andere Nicht-EU-Mitglieder) nach den zwei von hier ausgegangenen Weltkriegen in manch zivilisatorischer Hinsicht weiter ist als die anderen Kontinente: In Europa existieren die meisten Demokratien und die meisten teil-oder gesamtkontinentalen Verträge, die zwischen den Mitgliedsstaaten entweder der EU oder des Europarats und der OSZE vereinbart wurden. Darunter Gewaltverzichtsabkommen, ein Rüstungskontrollvertrag und eine Menschenrechtskonvention, deren Einhaltung alle Bürger*innen vor einem europäischen Menschenrechtsgerichtshof einklagen können.

Allerdings gelten all diese zivilisatorischen Errungenschaften im Wesentlichen nur nach innen, aber nicht gegenüber dem „Rest der Welt“ außerhalb der EU/Europas.

Nimmt man den in Friedensbewegung und -forschung schon lange gebräuchlichen erweiterten, nicht nur auf militärische Mittel begrenzten Friedensbegriff zum Maßstab, war die EU auch vor dem Ende des Kalten Krieges vor 30 Jahren schon längst kein reines Friedensprojekt mehr.

In der Außenwirtschafts- und Handelspolitik und bei dem Versuch, Länder des Südens zur Marktöffnung, Privatisierung, Deregulierung und anderen neoliberalen Konzepten zu nötigen, ging und geht die EU nicht weniger aggressiv vor als die USA, Kanada, Japan oder andere Staaten der Nordens. Ein Beispiel sind die sogenannten „Europäischen Partnerschaftsabkommen“ (EPA) der EU mit einer Reihe nord-und westafrikanischer Staaten. Auch verhalten sich in der EU ansässige Konzerne bei ihren globalen Aktivitäten nicht sozialer, menschenrechtskonformer oder umweltfreundlicher als Konzerne aus anderen Staaten. Aktuell sabotiert die EU im Uno-Menschenrechtsrat in Genf die Bemühungen um ein Abkommen mit verbindlichen Menschenrechtsstandards für Unternehmen. Die Zeiten, da die EU als international führend galt bei der Bekämpfung der globalen Erwärmung, sind längst vorbei. Führend ist sie dafür inzwischen als der Welt zweitgrößter Rüstungsexporteur (27 Prozent) hinter den USA und vor Russland und China.

Seit dem Ende des Kalten Krieges militarisiert die EU zunehmend ihre 1992 beschlossene „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP). Nach dem Kosovo-Krieg 1999 wird eine EU-Eingreiftruppe geschaffen sowie eine Rüstungs- und Verteidigungsagentur. 2009 verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten im Vertrag von Lissabon, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. In der 2016 vereinbarten „Globalstrategie“ wird die Schaffung weiterer gemeinsamer militärischer Instrumente vereinbart, 2018 eine „Permanente Strukturierte Zusammenarbeit“ (Pesco) im militärischen Bereich sowie die „regelmäßige reale Aufstockung der Verteidigungshaushalte“. Zu den 47 bislang beschlossenen Pesco-Projekten gehören EU-Kampfhubschrauber und -Artillerie sowie bewaffnete EU-Drohnen.

Seit 2003 gab oder gibt es weiterhin 40 Auslandsmissionen der EU – die meisten davon in Afrika und auf dem Balkan. Davon sind zwar zwei Drittel zivil. Doch 80 Prozent des eingesetzten Personals sind Soldaten. Nicht wenige der 40 Auslandseinsätze – darunter jene am Horn von Afrika, im Tschad, Kongo, in Georgien und Libyen – dien(t)en zumindest indirekt auch der Sicherung von Ressourcen. Keine der militärischen Missionen hat ihr zu Beginn von der EU erklärtes Ziel einer nachhaltigen Befriedung und Stabilisierung der Einsatzländer/-regionen erfüllt.

2019 beschloss die EU erstmals ein gemeinsames Rüstungsbudget, für das in der Haushaltsplanung 2021-2027 über 13 Milliarden Euro budgetiert wurden. Mit weiteren 6,5 Milliarden Euro soll die militärische Infrastruktur in den Mitgliedsländern verbessert werden. Zugleich wurden Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und andere zivile Maßnahmen gekürzt. Im Februar dieses Jahres lancierte Frankreichs Präsident Emmanuelle Macron zudem die Idee einer eigenständigen atomaren Abschreckungskapazität der EU, unabhängig von den USA.

Gerechtfertigt wird die Militarisierung der EU von politischen Führungen in Brüssel, Berlin, Paris und anderen Hauptstädten mit der Behauptung, die EU habe eine „internationale Verantwortung“ und müsse zur Wahrnehmung dieser Verantwortung ein „globaler Player“ werden auf Augenhöhe mit anderen „globalen Playern“ (USA, China, Russland). Dazu seien eigene militärische Instrumente und Fähigkeiten unerlässlich.

Die EU muss wieder zum Friedensprojekt werden – die Alternativen für eine zivile, nach außen friedensfähige Eropäische Union sind:

Oberste Priorität hat die Einstellung und Korrektur aller oben genannten Politiken, mit denen die EU derzeit Unfrieden, Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und Ressourcenkonflikte im „Rest“ der Welt befördert und verschärft:

Rüstungsexporte; ungerechte bilaterale bzw. in der World Trade Organization durchgesetzte Handelsverträge; Dumping subventionierter Agrarexporte; Export von elektronischem und anderem Giftmüll;

Einstellung aller Maßnahmen zur militärischen Aufrüstung der EU u.a.: Pesco; Aufbau interventionsfähiger gemeinsamer Streitkräfte; Rüstungsprojekte;

Beendigung laufender, von der EU eigenmächtig beschlossener Militäreinsätze;

Verpflichtung, vorhandene Streitkräfte und militärische Kapaziäten der EU-Mitgliedsstaaten künftig nur noch einzusetzen im Rahmen von Missionen, für die ein Mandat des Uno-Sicherheitsrates vorliegt;

Umschichtung der im EU-Haushalt vorgesehenen Mittel für militärische Zusammenarbeit, Rüstungsprojekte etc. auf die Etats für zivile Instrumente zur Konfliktbearbeitung, Entwicklungszusammenarbeit u.ä. sowie deutliche Erhöhung dieser Etats;

Ein strategisches Langzeitprogramm für die nächsten 30 Jahre zur wirtschaftlichen und damit auch politischen Stabilisierung der Staaten im Krisenbogen zwischen Marokko und Afghanistan, weil sich nur so die Ursachen und der Nährboden für Gewaltkonflikte, gescheiterte Staaten, islamistisch gerechtfertigten Terrorismus sowie Fluchtbewegungen aus dieser Weltregion überwinden lassen. Bestandteil dieses Programms sollten sein u.a. Ausbildungsprogramme für in den Ländern des Krisenbogens dringend benötigte Fachkräfte auf Basis des in Deutschland, Österreich und der Schweiz praktizierten dualen Ausbildungssytems; Anreize (z.B. Steuernachlässe, Subventionen) für Unternehmen aus der EU, in Ländern des Krisenbogens nachhaltig mit dem Ziel der Schaffung von Arbeitsplätzen zu investieren;

Beendigung der Flüchtlingsabwehr mit militärischen und polizeilichen Mitteln (Frontex) im Mittelmeer und anderen Außengrenzen der EU. Stattdessen Entwicklung und Umsetzung einer Flüchtlings- und Migrationspolitik, die den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno von 1948 sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1953 entspricht. Das ist Ziel 10 der im Jahre 2015 von einem Uno-Gipfel beschlossenen 17 „Ziele für eine nachhaltige Entwicklung“, zu deren Umsetzung bis spätestens 2030 sich auch alle EU-Mitgliedsstaaten bereits verpflichtet haben;

Beschluss, Finanzierung und Durchführung von EU-Projekten zu Rehabilitierung und dem Wiederaufbau in Nachkriegsgebieten. Aktuell dringend erforderlich wäre ein Programm zur Minenbeseitigung in Syrien;

Aktive Diplomatie und Vermittlungsangebote für Konflikte außerhalb Europas, in denen die EU oder einzelne ihrer Mitgliedsstaaten keine eigenen Interessen verfolgen. Besonders dringend wäre ein Angebot an China und Indien zur Vermittlung in dem gefährlich eskalierenden Konflikt zwischen den beiden Atomwaffenmächten um die Wasserressourcen aus dem Hochland von Tibet, in dem die neun größten Flüsse Asiens entspringen. Ohne eine Deeskalation diese Konflikts und seine kooperative Lösung droht mittelfristig ein Krieg, bei dem dann möglicherweise Atomwaffen eingesetzt werden;

Mit Blick auf Atomwaffen sollte die EU die folgende Schritte unternehmen, um die eigene Sicherheit zu erhöhen, den zunehmend gefährdeten Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von A-Waffen (NPT) zu stärken und die Bestrebungen zur weltweiten Abschaffung dieser Massenvernichtungsmittel zu unterstützen: den Abzug der noch auf den Territorien von EU-Staaten (Deutschland, Belgien, Niederlande) gelagerten Atomwaffen der USA durchsetzen; Unterzeichnung des Uno-Abkommens zum Verbot von Atomwaffen durch alle EU-Mitgliedsstaaten; klare Absage an alle (derzeit vor allem von Frankreich beförderten, aber auch von deutschen Politikern unterstützten) Überlegungen für eine eigenständige atomare Abschreckung der EU; aktive Unterstützung für die bereits 2010 von der NPT-Überprüfungskonferenz geforderte Uno-Konferenz über eine A-,B-,C-waffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten, deren Durchführung bislang von Israel und den USA verhindert wird;

Deeskalation des Verhältnisses zu Russland; Beendigung der wirkungslosen und kontraproduktiven Sanktionen, die die Regierung Putin weder zur Aufgabe der 2014 völkerrechtswidrig annektierten Krim noch zur Einstellung der Unterstützung für die Aufständischen im Donbas bewegen konnten; Initiative der EU für eine neue, von der Uno organisierte und überwachte Volksabstimmung auf der Krim mit der Wahloption für eine weitestgehende Autonomie der Krim innerhalb der Ukraine.

Andreas Zumach ist DFG-VK-Mitglied und Journalist. Seit 1988 ist er Uno- und Schweiz-Korrespondent für die Taz mit Sitz in Genf.

Kategorie: Pazifismus Stichworte: 202005, Europa

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„Eine Supermacht Europa verhindern“

17. Januar 2023

Michael Schulze von Glaßer
Titel: Warum Pazifismus wichtiger denn je ist
Erschienen in ZivilCourage 4-22/1-23

ZC-4-22/1-23-Editorial

16. Januar 2023

Stefan Philipp
Editorial zum Heft 3/2022

Zweifel sind keine Schande

16. Januar 2023

Ernst Rattinger
Leitartikel
Erschienen in ZivilCourage 4-22/1-23

Warum Pazifismus wichtiger denn je ist

16. Januar 2023

Michael Schulze von Glaßer
Titel: Warum Pazifismus wichtiger denn je ist
Erschienen in ZivilCourage 4-22/1-23

„Ein Signal mangelnder Zivilcourage“

27. November 2022

Andreas Zumach
„Ein Signal mangelnder Zivilcourage“
Erschienen in ZivilCourage 3/2022

… gefördert von: Bertha-von-Suttner-Stiftung

27. November 2022

Hauke Thoroe
… gefördert von: Bertha-von-Suttner-Stiftung
Erschienen in ZivilCourage 3/2022

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