Das Ziel: der Aufbau einer autonomen Rüstungsindustrie
Ausgabe 5/2020
Von Jürgen Grässlin
Über Jahrzehnte hinweg waren Heckler [&] Koch (H[&]K) und die Bundesregierung die maßgeblichen Lieferanten bzw. diejenigen, die Kleinwaffentransfers an die Generalität in Ankara genehmigt haben. Entscheidend dabei waren – neben den Direktexporten aus dem H[&]K-Stammwerk in Oberndorf – die Lizenzvergaben für das Schnellfeuergewehr G3 (1967 durch den Bund), das Sturmgewehr HK33 (1998 durch H[&]K) und die Maschinenpistole MP 5 (1983 durch H[&]K). Seither konnten die Kleinwaffen bei der Firma MKEK in Eigenregie bar jeglicher deutscher Kontrolle gefertigt und eingesetzt werden.
Die Folgen dieser völlig enthemmten Lizenzvergabepolitik waren bereits im Bürgerkrieg türkischer Streitkräfte mit kurdischen Kämpfern von 1984 bis 1999 fatal. In ihrer „Siegesbilanz“ verkündete die türkische Regierung: „Insgesamt betragen die Verluste bei den Terroristen 35 384.“ In dieser Propagandaschrift verschwiegen die Regierenden aus Ankara, dass die allermeisten Getöteten ZivilistInnen der kurdischen Bevölkerung waren.
Die Massenvernichtungswaffen G3 und MP5 wirken tödlich – die MP5 bis heute. Im Infokasten rechts „MKEK – Ein Superspreader deutscher Rüstungstechnik“ offenbart Otfried Nassauer einen kurz vor seinem plötzlichen Tod recherchierten Blick auf eine desaströse Lizenzvergabe, gemessen an den Opferzahlen der tödlichsten aller Waffengattungen: eben der Kleinwaffen.
Die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft – aktuell bei Drohnenkriegen. Nicht nur im Bereich der Kleinwaffen können der Nato-Partner Türkei und die Bundesregierungen auf eine Jahrzehnte währende Tradition deutsch-türkischer Waffenbrüderschaft zurückblicken. Allein vom Leopard-2-Kampfpanzer von Krauss-Maffei Wegmann hatte Deutschland der Türkei 354 Stück geliefert.
Leo-2 wurden seitens der Truppen von u.a. bei der völkerrechtswidrigen Intervention im November 2019 in Nordsyrien eingesetzt. Dessen ungeachtet hat die Bundesregierung neuerliche Rüstungsexporte in die Türkei bewilligt. Allein für 2019 genehmigte sie Kriegswaffentransfers im Gesamtwert von 31,6 Millionen Euro an das Militär in Ankara. Schlimm genug und doch weitaus weniger als in den Jahrzehnten zuvor.
Aktuelles Beispiel in einer langen Historie deutsch-türkischer Waffenbrüderschaft ist der Einsatz deutschen Know-hows in türkischen Kampfdrohnen. Für das ARD-Politikmagazin „Monitor“ resümiert Georg Restle: In Libyen oder Syrien kämen zunehmend Waffen zum Einsatz, „in denen eine ganze Menge deutscher Technologie stecken dürfte. Es handelt sich um Gefechtsköpfe – gezielt abgefeuert von Drohnen. […] Wie wichtig dem türkischen Präsidenten Erdogan diese neuen Waffen dabei sind, kann man auf Bildern wie diesem sehen, wo er die Drohnen sogar per Hand signiert.“
Der Monitor-Bericht – verfasst von Jochen Taßler, Nikolaus Steiner und von Otfried Nassauer in seiner letzten großen Rüstungsrecherche – dokumentiert den „Aufstieg der Türkei zur Drohnenmacht und welche Rolle deutsche Rüstungsexporte dabei spielen“. Der Monitor-Beitrag ist abrufbar in der ARD-Mediathek unter: https://bit.ly/3l4NeOZ
Steigerung der Militärausgaben unter Erdoğan. In den vergangenen Jahren machten türkische Regierung und Generalität vielfach auf sich aufmerksam, einmal mehr in ungutem Sinne. Unter Führung des macht- und militärorientierten Präsidenten Erdoğan wurden die Militärausgaben drastisch erhöht.
Außenpolitisch ließ und lässt Erdoğan die Muskeln spielen – sei es in der Konflikteskalation mit dem Nato-Partner Griechenland um den Zugang zu Rohstoffen im östlichen Mittelmeer, sei es als aktive Kriegspartei im Libyenkrieg, sei es bei der Beschaffung russischer statt US-amerikanischer „Abwehrwaffen“ (wohlwissend um die harte Konfliktlinie mit den USA), sei es bei der Einmischung in die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Region Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan.
Die Wahl von Erdoğans zum zwölften Präsidenten der Republik Türkei markiert einen Wendepunkt. Nach dessen Wahl am 28. August 2014 wurden die außenpolitischen Ziele aggressiver gesteckt und die türkischen Militärausgaben massiv erhöht: von 12,3 (2015) auf 14,4 (2016), 15,5 (2017), 19,6 (2018) und nunmehr 20,8 Milliarden US-Dollar 2019.
Türkische Rüstungsexport-Riesen im Großwaffenbereich. Mehr Geld bedeutet mehr Rüstungsbeschaffungen und -exporte. In seinem Ranking der Top 100 rüstungsproduzierender und -exportierender Unternehmen führt das Stockholm International Peace Research Institute (Sipri) gleich zwei türkische Großkonzerne auf. Die Turkish Aerospace Industries (TAI) auf Platz 84 mit leicht steigenden Waffentransfers im Volumen von 1,070 Milliarden Dollar 2018. Zum Vergleich, 2017 hatten diese mit 1,065 Milliarden Dollar knapp darunter gelegen.
Der eindeutige Gewinner der Erdoğan´schen Aufrüstungspolitik aber ist der börsennotierte Rüstungskonzern Askerî Elektronik Sanayii A.Ş. (Aselsan) mit Sitz in Ankara, der sich im Mehrheitsbesitz der türkischen Streitkräfte befindet. Der Großkonzern fertigt und exportiert Kommunikations- und Verteidigungsgeräte, Überwachungssysteme und Mittel zur elektronischen Kriegsführung. In den vergangenen Jahren verzeichnete das Unternehmen einen steten Aufstieg. War Aselsan 2008 noch nicht in den Sipri-Top-100 verzeichnet, so tauchte der Rüstungsriese 2012 auf Platz 87 auf und avancierte nach einer zehnjährigen Boomphase auf Platz 54 (2018).
Basis dieses Aufstiegs bilden die stetig steigenden Waffenexporte, die allein von 2017 auf 2018 um 41 Prozent von 1,237 auf 1,740 Milliarden Dollar in die Höhe katapultiert wurden. Beide Unternehmen sind weit überwiegend auf den Export von Kriegswaffen ausgerichtet: TAI mit 86 Prozent Aselsan gar mit 93. Ergänzend sei erwähnt, dass zahlreiche weitere rüstungsproduzierende Unternehmen in den vergangenen Jahren wirtschaftlich schnell gewachsen, jedoch noch außerhalb der Top 100 platziert sind.[nbsp] Das Ziel der Erdoğan-Regierung im 21. Jahrhundert ist klar definiert und wird mit Nachdruck verfolgt: der Aufbau einer landeseigenen, vom Ausland autonomen Rüstungsindustrie.
Antimilitaristische Handlungsoptionen im Wahljahr 2021. Auch unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel war die Bundesrepublik Deutschland anderthalb Jahrzehnte lang ein verlässlicher Partner für die Machthaber in Ankara.
Welche Handlungsoptionen stehen uns für 2021 zur Verfügung? Im kommenden Herbst findet die Bundestagswahl statt.
Bis dahin offenbaren sich verstärkt Chancen, die Aufrüstungs- und Militarisierungspolitik, und damit auch die Frage von Rüstungsexporten an menschenrechtsverletzende und kriegsführende Staaten, verstärkt zum Thema zu machen. Zumal in Corona-Zeiten augenscheinlich wird, dass genug Geld da ist für Rüstung – und viel zu wenig für Gesundheit.
Jürgen Grässlin ist Mitglied im DFG-VK-BundessprecherInnenkreis.