Dieser Beitrag ist erschienen in der ZivilCourage 4/2021 |
Leitartikel
Von Christop Neeb
Kevin Kühnert, früher Juso-Chef und nun stellvertretender SPD-Vorsitzender, kandidiert im September für den Bundestag. Im November fragte ihn der „Spiegel“: „Bei welchem Thema haben Sie ihre Meinung zuletzt geändert?“ Seine Antwort: „Ich bin vielleicht nicht mehr so pazifistisch, wie ich es als 15-jähriger war. Ich habe aus der deutschen Geschichte gelernt, dass Pazifismus in seiner Reinform naiv ist – auch wenn Frieden das Maß der Dinge bleibt.“
Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler hat ein Buch über den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Krieg veröffentlicht (Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen; Frankfurt 2010). Einer der Ausgangspunkte ihrer Überlegungen: Das menschliche Leben ist gefährdet, es könnte verloren gehen und wir nehmen in unserer jeweiligen Gegenwart vorweg, dass wir selbst dies betrauern würden. „Wer nicht betrauerbar ist, lebt außerhalb des Lebens. […] Die Wahrnehmung der Betrauerbarkeit geht der Wahrnehmung des Gefährdetseins des Lebens vorher und ermöglicht diese Wahrnehmung erst.“ (S. 22) Leben, das nicht betrauert werden wird, ist irrelevant, so Judith Butler und weiter: „[…] es ist kein Leben denkbar, das nicht gefährdet wäre, außer natürlich in der Phantasie und ganz besonders in der Phantasie der Militärs.“ (S. 31)
Militär bedeutet die maximale Gefährdung der anderen, der nicht Betrauerten, bei minimaler Gefährdung der eigenen Leute. Die Reaktion: Maximale Gefährdung der eigenen Leute durch andere bei minimaler Gefährdung der anderen selbst. Das Ergebnis ist: Alle sind maximal gefährdet – bei maximalen Kosten.
Die willkürliche Maximierung von Gefährdungen für die einen und deren Minimierung für die anderen verstößt gegen grundlegende Normen der Gleichbehandlung. Wenn jedoch die anderen das Gleiche tun, ist die Gleichbehandlung wiederhergestellt.
„Meiner Ansicht nach wird der Krieg in ganz bestimmte Rahmen gestellt, um Affekte in Verbindung mit der differenzierenden Betrauerbarkeit von Leben zu kontrollieren und zu steigern.“ (Butler, S. 32) Konkret bedeutet dies, dass Emanzipation, Feminismus, Sexualpolitik etc. im Dienst derzeitiger Kriege vereinnahmt werden. Eine spezifisch deutsche Variante ist, die tatsächlichen oder vorgeblichen Lehren aus der deutschen Geschichte für aktuelle Kriege zu vereinnahmen. Dies ist das eine, was in dem Zitat von Kühnert zum Ausdruck kommt.
Es geht aber nicht nur darum, den Krieg in einen ganz bestimmten Rahmen zu stellen, um ihn gegen Kritik zu immunisieren, sondern auch darum, die Kritik und die Kritiker in einen Rahmen zu stellen, der so negativ und so ausschließend wie möglich ist. Eigene Leute, die naiv sind, gehören zwar zu den Betrauerbaren, deren Leben relevant ist und minimal gefährdet sein sollte, aber politisch sollen sie irrelevant sein. Auch dies kommt in dem Zitat von Kühnert zum Ausdruck.
Egal ob er nun den beiden genannten Rahmungen auf den Leim gegangen ist oder ob er sie aktiv betreibt: Er muss sich entscheiden. Ein bisschen Pazifismus geht nicht. Es ist dann keiner mehr.
Was Kühnert hier bewusst vermischt oder unbewusst verwechselt, ist die ethische und politische Haltung einerseits und die Umsetzung andererseits. Gesinnungsethik und Verantwortungsethik sind keine Gegensätze, sie bedingen einander. Praktische Politik bedeutet, ausgehend von radikalen Positionen einen politischen Raum zu eröffnen, um auf bestimmte Ziele hinarbeiten zu können. Unser Grundgesetz funktioniert genau so.
Eine solche Politik ist kompliziert und anstrengend, so wie Willy Brandts neue Ostpolitik, bei der die Sicherheit der anderen Teil der eigenen Sicherheit war. Sie hatte einen Vorlauf von rund zehn Jahren. Sie bot eine Perspektive der Verbesserung für alle und der SPD Wahlchancen.
Christoph Neeb ist Bundeskassierer der DFG-VK.