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Niemöller

7. April 2021

Beitrag zur Diskussion über Niemöller (01)

Online-Beitrag vom 7. April 2021

Pazifismus

Wir haben aktuell dringendere Aufgaben als die Beschäftigung mit Niemöller

Von Thomas Rödl

Martin Niemöller bei einer Kundgebung zum Antikriegstag der DFG-IdK in München Ende der 1960er Jahre (Foto: Archiv des Helmut-Michael-Vogel-Bildungswerks der DFG-VK)

(Red.) In der ZivilCourage 1/2021 ist ein Beitrag von Hauke Thoroe erschienen, der sich nach der Veröffentlichung von Benjamin Ziemann: Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition (München 2019) kritisch mit Leben und Werk des früheren Präsidenten der DFG-VK auseinandersetzte. Dazu sind zahlreiche Zuschriften eingegangen, die als LeserInnenbriefe in der ZivilCourage 2/2021 veröffentlicht werden/wurden. Die umfassendste und umfangreichste Reaktion ist von Thomas Rödl, die hier als Diskussionsbeitrag online veröffentlicht wird.

Die Kirchen haben sich mit den Nazis arrangiert. Niemöller und Bonhoeffer und ein paar weitere waren eben die Ausnahme. Damit könnte man das bewenden lassen. Jetzt nachträglich zu sagen, was sie hätten besser machen können, steht uns nicht zu. Wer wirklich Widerstand geleistet hat wurde schon vor 1933 von der SA oder nachher in den KZs von der SS erschlagen. Diejenigen, die Kohle hatten und Verbindungen ins Ausland, hatten sich rechtzeitig abgesetzt. 40 Prozent der Deutschen hatten Hitler gewählt, noch mehr sind ihm nachgelaufen zumindest in den Anfangsjahren. Der Rest hat sich arrangiert. In dieser Phase musste sich ein Mann wie Niemöller doch sehr genau überlegen, was er öffentlich sagen kann, was er bewirken kann, wenn er im KZ erschlagen wird. Von seinem Kirchenvolk war keine Hilfe zu erwarten, denn die Evangelischen dürften zum großen Teil Hitler gewählt haben. 

Wer weiß, was wir gerade alles falsch machen und wie die Historiker in 50 Jahren unsere Texte verstehen werden?

Judenverfolgung

Die Juden wurden sofort nach der Machtergreifung diskriminiert, schikaniert, ausgegrenzt und entrechtet. Alles bekannt. Die KZs, z.B. Dachau, waren voll mit Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewohnheitsverbrechern, Homosexuellen, Sinti und Roma (Zigeuner darf man nicht mehr sagen) und „Bibelforschern“ (= Zeugen Jehovas, die einzige christliche Gruppe die sich wirklich verweigert hat). Erst 1938 im Zuge der Reichspogromnacht wurden dann viele Juden nach Dachau eingeliefert. Dachau und die anderen KZs im Reich waren keine Vernichtungslager so wie später Auschwitz u.a. Wie die „Endlösung der Judenfrage“ gedacht war, konnte 1938 niemand wissen. Das wurde erst im späteren Verlauf des Krieges so geplant und umgesetzt. Heute haben wir die Kenntnis über die Verfolgung und Ermordung der Juden in den von der Wehrmacht besetzten Ländern, bis hin zum Holocaust. Das war 1938 ff. einfach nicht vorstellbar! Als die Nazis 1942 ff. die Juden aus dem Reich deportiert haben, erzählten sie ihnen was vom neuen Siedlungsgebiet für die Juden im Osten. Nur so hat das funktioniert.

Völkische Motivation für die Friedensbewegung?

1971 bin ich der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) beigetreten und habe bei den Aktionen „Amis raus aus Vietnam“ mitgemacht. Am Infostand habe ich die richtigen alten Nazis kennengelernt, die uns wahlweise „nach Dachau“, „ins Arbeitslager“ oder „in die Gaskammer“ schicken wollten. Bei der IdK waren die Menschen, die das „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ ernst genommen, „das andere Deutschland“ glaubhaft repräsentiert haben. Als erstes weigern wir uns, für Deutschland Soldat zu werden. Internationale Solidarität, natürlich, mit dem Volk von Vietnam, mit den Völkern, die für ihre Befreiung kämpfen. „Wir maßen uns nicht an, die Mittel des Freiheitskampfes zu verurteilen“ im Programm der DFG-VK von 1974. Wir wollen gewaltfreie Konfliktlösung.

Der Protest gegen den Krieg hierzulande war unser Beitrag, um einen in Gang befindlichen Völkermord zu verhindern, um eine politische Lösung zu unterstützen. 

Den Niemöller als Pfarrer empfand ich damals völlig deplatziert inmitten der Alt-68er, langhaarigen Hippies, Anarchisten, Kommunisten, Atheisten, Radikalen, die wir sein wollten. Aber er konnte gut reden und hat uns motiviert und uns das Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelt. Er repräsentierte die kleine Minderheit der Deutschen, die es gewagt hatten, Hitler zu widersprechen. Details uninteressant, wir waren eine Aktivgruppe der IdK, keine Historiker oder Völkerkundler. Hätte er nur eine winzige Andeutung gemacht, er würde der Ideologie der Nazis nahestehen, dann hätte er nicht reden dürfen bzw. dann wäre er nicht zum Präsidenten gewählt worden. Er als Kirchenmann mag vom gerechten Krieg gesprochen haben, im Programm der DFG-VK von 1974 (und in allen späteren Programmen) findet sich der Begriff nicht. Wie viele glauben heute noch an den gerechten Krieg, nennen das aber nicht so?

Zitat Hauke Thoroe (S. 30): „Die Argumentation mit einem völkischen Referenzrahmen, der Sklaventum nicht an einer individuellen Positionierung in einer Gesellschaft festmacht, sondern an der Souveränität eines angeblichen Volkes…“ Wie positioniert sich der Sklave? Da kann ich intellektuell leider nicht mithalten. Hat der Niemöller mit dem anderen Sklaven geredet? Der Sklave hatte meist keine Gelegenheit, Briefe zu schreiben. Unbestreitbar haben sich Menschen in den Kolonien zusammengeschlossen und sich bewaffnet und die Kolonialherren kollektiv verjagt. Nicht individuell positioniert. Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ja natürlich, Was denn sonst? „Unsere Epoche ist gekennzeichnet … durch das Bestreben vieler Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, ihre volle Unabhängigkeit zu erringen“ (aus dem Programm von 1974). Noch dazu auf Vietnam bezogen, ein Volk (!) mit Kultur und Jahrhunderten staatlicher Strukturen vor der Eroberung durch Frankreich. Völkisch? Eurozentrismus? Schwachsinn! „Wir die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen künftige Geschlechter vor der Geisel des Krieges zu bewahren“. Steht so in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen. „Wir stehen für die Überwindung des Völker- und Rassenhasses“. Satzung der DFG-VK, Paragraf 2 Absatz 2. Wie sollen wir das sonst formulieren? 

Das deutsche Volk ist vom Atomtod bedroht. Stimmt leider, damals wie heute. Ist jetzt die Benutzung des Begriffs Volk ein Indiz für völkische Denkweise? War die Nationale Volksarmee der DDR eine völkische Armee? Gibt’s jetzt eine neue Sprachverordnung, die besagt, dass der Begriff Volk nicht mehr verwendet werden darf?

Wiederbewaffnung

„Die Ablehnung der Wiederbewaffnung sei national wenn nicht nationalistisch motiviert“. Sagt das der Herr Ziemann? 

Das zentrale Motiv für die Ablehnung der Wiederbewaffnung war doch die Stimmung „Nie wieder Krieg!“. Die Deutschen waren unfrei in der Nazi-Diktatur, unbestreitbar, und die BRD als Staat 1949 ff. war nicht souverän, sondern unter der Kontrolle der Siegermächte mit expliziten Sonderrechten. 

Fakt ist: Die Mehrheit der politischen Repräsentanten der nationalistischen und konservativen Strömungen in Westdeutschland, nämlich CDU und CSU (und andere Rechte) wollten die „Westintegration“ und die Wiederaufrüstung; als wichtigen Schritt zurück zur Souveränität. Damit natürlich eng verbunden ab 1960 der Wiederaufbau der Rüstungsindustrie in Westdeutschland. Der Widerstand gegen die Remilitarisierung wurde maßgeblich betrieben von der KPD, die Volksbefragung gegen die Wiederaufrüstung verboten, dann die KPD als solche. Die einstigen Widerstandskämpfer gegen die Nazis unter Adenauer wieder im Knast. Bekanntlich hat Adenauer schon vor der Gründung der BRD den USA eine westdeutsche Armee versprochen – gegen den sozialistischen Block, der sich da grade gebildet hatte. 

„Wiederbewaffnung“ und „Westintegration“ wurden von den Nationalkonservativen verknüpft, aber auch von den Siegermächten, weil eine Wiederaufrüstung Westdeutschlands nur unter der Bedingung der Unterwerfung, oder schöner gesagt Eingliederung in die Militärstrukturen der Nato akzeptabel war. Die Bundeswehr war nicht selbständig handlungsfähig, der Nato-Oberkommandierende ist immer ein US-General.

Aber „nationalistisch“ ist ja nicht gleich faschistisch gleich rassistisch gleich militaristisch gleich antisemitisch gleich Befürwortung des Holocaust. Im deutschen Faschismus war diese Kombination gegeben. Ein merkwürdiges Argument für die Wiederbewaffnung. Wenn die Ablehnung der Wiederbewaffnung nationalistisch ist, dann haben diese Nationalisten die Vorstellung eines Staates ohne Armee? Wär doch mal was Neues. Friedliche Nationalisten sozusagen. „Du darfst aber keine nationalistischen Motive haben“? Ist das ein Axiom von Prof. Ziemann oder von Hauke bzw. was soll das über Niemöller sagen? Ist etwa jede/r ein/e NationalistIn, der/die sich Gedanken macht, wie sein/ihr Staat sich in den internationalen Beziehungen verhalten soll? Sich einen souveränen Staat wünscht, der sich nicht anderen imperialistischen Mächten unterordnet und das Völkerrecht akzeptiert. Das ist doch entscheidend: Überstaatliche Rechtsordnung, friedliche Beilegung von Streitigkeiten, Rüstungskontrolle. Kein Staat, der seine Interessen auf Kosten von anderen Staaten mit Militärgewalt durchsetzt. Pazifismus ist gleich Internationalismus, per Definitionem. Hitler hat gegen Juden, Bolschewisten, Sozialdemokraten und Pazifisten polemisiert. Der Gedanke der internationalen Verständigung ist der schärfste intellektuelle Gegner des Nationalismus, der Nazi-Ideologie.

Neutralität

Eben ein Deutschland, das nicht mit Militärmacht nach der Weltherrschaft giert. Und auch nicht Seite an Seite mit den Amis gegen die Sowjetunion marschiert. 

„Ein großer Teil der aktiven Gruppen (der Internationale der Kriegsdienstgegner) unterstützte die Neutralisierungsbestrebungen der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) Gustav Heinemanns und setzte sich für Gespräche mit den übrigen östlichen Staaten ein.“ https://www.dfg-vk.de/unsere-geschichte

So, wie es die bekannte „Stalin-Note“ 1952 angeboten hatte. Neutralität wäre möglich gewesen, hätte man im Westen die Stalin-Note ernst genommen; evtl. als bewaffnete Neutralität, wie eben Österreich, die Schweiz oder Schweden. Selbstverständlich wäre das die bessere Variante gewesen. Ohne 10 000 Atomwaffen auf deutschem Boden, Entschuldigung, auf dem Territorium der BRD und der DDR. Das ist doch nicht nationalistisch oder gar völkisch im Sinne von Hitlers Ideologie der Rassereinheit. 

Mit der Wiederaufrüstung, dem Beitritt zur Nato, der Restauration der Rüstungsindustrie haben sich doch gerade die alten Nazis und die Militaristen durchgesetzt, die immer noch in Amt und Würden und im Apparat waren, die „Elite in Wirtschaft und Staat“, die die Nazis an die Macht gebracht haben. Denen Hitler versprochen hat, den Bolschewismus bzw. die Sowjetunion zu beseitigen. Beitritt zur Nato: Ein Bündnis der deutschen Eliten mit den USA, gemeinsam gegen die Sowjetunion, um die DDR und die verlorenen Ostgebiete wieder „heim ins Reich“ holen. Jetzt reden sie immer lauter von „strategischer Autonomie“, einer Militärmacht Europa unter deutscher Führung, zusammen mit Frankreich, das sollte uns interessieren.

Ich kann mich nicht erinnern, dass Niemöller öffentlich für eine nationale Armee plädiert hat, sondern für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit, für allgemeine Abrüstung und kollektive Sicherheit – in Übereinstimmung mit dem Programm der DFG-VK von 1974. Diese politischen Vorstellungen gilt es zu untersuchen, nicht ob er vom „deutschen Volk“ gesprochen hat.

Fazit

Niemöller war eher die Gallionsfigur, nicht der Steuermann oder gar der Käpt´n, um im Bild zu bleiben. Die Grundsatzerklärung der WRI hat mich überzeugt, nicht eine einzelne Persönlichkeit. Wir waren keine Fans, er war keine Lichtgestalt. (Denn der Begriff Lichtgestalt ist einzig auf Franz Beckenbauer anzuwenden.) Niemöller ist Geschichte. Was ist die Erinnerungskultur der DFG-VK, keine Ahnung. https://www.dfg-vk.de/unsere-
geschichte
– hier wird Niemöller mit einem Halbsatz erwähnt. Für unsere aktuellen praktischen Fragen folgt aus dieser Biografie des Prof. Ziemann gar nichts. 

Was bleibt, ist Verwirrung: Warum war jetzt Niemöller eigentlich im KZ? Die Nazis waren Antisemiten, die Nazi-Gegner auch? Die Nazis waren völkisch, die Friedensbewegung auch? Wer von „Volk“ und „Völkern“ redet, denkt völkisch und ist also ein Nazi? Die Nazis waren nationalistisch, die Gegner der Wiederaufrüstung auch? Völker hört die Signale und ignoriert solchen Unfug!

Ziemann arbeitet offensichtlich mit der Bundesstiftung Aufarbeitung zusammen, deren Hauptanliegen scheint zu sein, alles schlecht zu reden, was in der DDR war. Der Versuch die Friedensbewegung insgesamt schlecht zu reden, passt gut in das Zeitalter der „Überwindung des Nachkriegspazifismus“ und ins Zeitalter der antirussischen Propaganda von Staats wegen.

Jetzt hab ich doch noch was gelernt: Keine Briefe schreiben! Nicht verraten wie Ihr wirklich denkt – es könnte gegen Euch verwendet werden. Nur Dokumente hinterlassen, die belegen, dass wir von gar nix was gewusst haben. Der Gedanke von Zensur und Gedankenkontrolle ist immer noch lebendig. Wer weiß, wer in 20 oder 30 Jahren an der Macht ist?

Im Jahr 2070 ff. werden sich die Historiker der Volksrepublik China (verflixt, schon wieder das Volk!) vielleicht mit der Frage beschäftigen, wieso das christliche zivilisierte Abendland den Massenmord an muslimischen Menschen im Irak, Jemen, Syrien, Libyen, Afghanistan u.a. Ländern seit 2001 teils toleriert, teils ignoriert hat. Oder warum sich die BürgerInnen (jetzt korrekt!) in der Bundesrepublik Deutschland nicht gegen den begrenzten Atomkrieg gewehrt haben. Will besagen: Wir haben aktuell dringendere Aufgaben.

Thomas Rödl ist seit Jahrzehnten aktiv im DFG-VK-Landesverband Bayern. Dieser Beitrag wird/wurde veröffentlicht als Leserbrief in der ZivilCourage 2/2021 und bezieht sich auf den Beitrag „Wie viel Antisemitismus kann man übersehen?“ von Hauke Thoroe in ZivilCourage 1/2021.

Kategorie: Pazifismus Stichworte: Niemöller, Rödl, Thoroe

28. März 2021

Wo viel Licht ist, gibt es auch viel Schatten

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 1/2021

Pazifismus

Zum Beitrag von Hauke Thoroe über den früheren DFG-Präsidenten Martin Niemöller

Von Stefan Philipp

Lieber Hauke Thoroe,

als Du angekündigt hattest, eine Besprechung der Ziemann-Biografie über Martin Niemöller liefern zu wollen, habe ich schnell zugesagt. Dass der frühere U-Boot-Kommandant in der kaiserlichen Marine, spätere NSDAP-Wähler, dann KZ-Häftling und nach dem Zweiten Weltkrieg Kirchenpräsident sich schließlich zum Pazifisten wandelte und weltweit bekannt und geachtet war … ein solcher Mensch kann mit einigem Recht als „Jahrhundertgestalt“ bezeichnet werden. Dass er auch noch Präsident der DFG-VK und bis zu seinem Tod 1984, vor bald vier Jahrzehnten also, Ehrenpräsident war, macht ihn auch und gerade für die LeserInnen der ZivilCourage, von denen viele mit dem Namen Niemöller wenig anfangen dürften, interessant.

Dass nun für jemand wie Dich aus der Gruppe der Unter-35-Jährigen, der auch erst zwei Jahre DFG-VK-Mitglied ist, die Lektüre des Ziemann-Werks „verstörend“ ist, das kann ich gut verstehen. Auch wenn mir durchaus einiges, was Du aus der Biografie darstellst, neu war, so sind doch die grundsätzlichen Fakten kein Geheimnis und waren es in der DFG-VK auch nicht. Ich erinnere an die Veröffentlichung eines Beitrags von mir in der ZivilCourage Nr. 1/2017 anlässlich des 125. Geburtstages von Niemöller (www.dfg-vk.de/files/zivilcourage/ZC-01-17-WEB.pdf). Darin sind auch seine Schattenseiten skizziert. 

Diese können, sollen und dürfen benannt werden; unbedingt. Du sprichst von einer „Beißhemmung“. Die braucht es aus meiner Sicht nicht. Viel mehr sollten wir ein realistisches, und damit differenziertes Bild entwickeln. Frei nach Goethe: Wo viel Licht ist, gibt es auch viel Schatten. Allerdings dürfte das realistische Bild nicht schwarz-weiß sein, sondern zahlreiche und farbige Schattierungen dazwischen enthalten. Um das von Dir gezeichnete Bild bunter zu gestalten, habe ich einige wenige Aspekte näher betrachtet.

Zur zentralen Kritik

Eine zentrale Kritik von Dir an Niemöller ist, dass er sich als Pastor und Funktionär der Bekennenden Kirche zwar gegen die Anwendung des „Arierparagrafen“ im Bereich der evangelischen Kirche wandte, nicht aber gegen die Diskriminierung und Entrechtung von Juden insgesamt. Und zweitens, dass er und die Bekennende Kirche nicht den Schritt von der Verweigerung zum Widerstand gegen das Nazi-Regime gegangen seien. Was Du dazu, auf Ziemann gestützt, an Fakten darstellst, ist sicherlich richtig. Dass ein anderes Verhalten von Niemöller und seiner Kirche wünschenswert und politisch richtig und notwendig gewesen wäre, ist klar. Es ist aber die Frage, ob man das wirklich erwarten durfte und konnte. Und das erscheint mir zweifelhaft.

Schon im Neuen Testament heißt es im Brief des Apostels Paulus, geschrieben in der Mitte des ersten Jahrhunderts, an die christliche Gemeinde in Rom, dem sog. Römerbrief, im 13. Kapitel in den ersten beiden Versen: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen.“ 

Das ist gewissermaßen christlich-kirchliche DNA, dass sich christliche Religion und Kirche nicht gegen die „weltliche“, aber „von Gott“ eingesetzte Obrigkeit wenden und für politsche Veränderungen kämpfen.

Durch die konstantinische Wende im 4. Jahrhundert wurde das Christentum zur Staatsreligion, seitdem gab es  die Verbindung von „Thron und Altar“. 

Die protestantischen Kirchen sind ein Resultat der durch Martin Luther ausgelösten Reformation. Noch heute ist das Augsburger Bekenntnis aus dem 16. Jahrhundert eine verbindliche Bekenntnisschrift.   In dessen Artikel 16
heißt es, „dass alle Obrigkeit in der Welt und geordnetes Regiment und Gesetze gute Ordnung sind, die von Gott geschaffen und eingesetzt sind“ (weshalb übrigens „Christen … rechtmäßig Kriege führen … können“). 

Vor diesem Hintergrund und der obrigkeitsstaatlichen Tradition der evangelischen Kirche ist der „Kirchenkampf“ und die Entstehung der Bekennenden Kirche zu sehen. Die Nazi-Ideologie gründete auf einer angeblichen Volksgemeinschaft nach dem Motto „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Opposition wurde zum Verbrechen, alle gesellschaftlichen Bereiche wurden gleichgeschaltet, die Nazis sprachen von einem „positiven Christentum“ und hätten gerne eine zentral regierte Reichskirche gehabt. 

Gegen diesen Versuch der Gleichschaltung wurde die Bekennende Kirche gegründet. Ihre theoretische Grundlage war die Barmer Theologische Erklärung von 1934, die gegen den nationalsozialistischen Totalitätsanspruch z.B. diese These setzte: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären (…).“ Politischer Widerstand lag der Bekennenden Kirche und den meisten ihrer AnhängerInnen fern – mindestens in den Anfangsjahren nach 1933. Später gab es dann einige, die aus ihrem Glauben die Konsequenz des aktiven Widerstands gezogen haben.

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen …“

Dieser vielleicht berühmteste Ausspruch Niemöllers endet so: „Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Auch wenn diese Sätze, wohl erstmals in Reden ab 1946 formuliert, kein Aufruf zu einem
vielleicht zukünftig nötig werdenden Widerstand sind, so sind sie doch nicht anders zu verstehen als das Eingeständnis eines Fehlers nach der Etablierung des Nazi-Staates. 

Ich erinnere mich, dass dieses Niemöller-„Gedicht“ in meiner Jugend in den 1970er Jahren, als ich in der evangelischen Jugendarbeit aktiv war und mich dann in der Friedensbewegung engagierte, große Bedeutung hatte. Für uns brachte es eine Haltung zum Ausdruck, die wir für unbedingt richtig hielten und als Handlungsaufforderung verstanden: zu Unrecht nicht schwei-
gen und dagegen aktiv werden.

Nun gibt es immer wieder Streit darüber, ob Niemöller auch „die Juden“ darin einbezogen hat im Sinne von „Als die Nazis die Juden holten“. Auch Du, Hauke, thematisierst das ja in Deinem Text und weist darauf hin, dass Ziemann keine autorisierte Fassung gefunden hätte, in der „die Juden“ genannt worden wären. Mir scheint dieser Streit einerseits akademisch zu sein und vielleicht auch ein Element in der beabsichtigten „Demaskierung“ Niemöllers als Antisemit. Ein solcher war er sicher jahre-, wenn nicht jahrzehntelang – so, wie viele, wenn nicht die meisten Deutschen. Du hast ja nachvollziehbar dargestellt, wie sich sein völkischer Antisemitismus über einen lutherischen Anti-Judaismus zur kulturellen Judenfeindlichkeit entwickelt hat. Das macht es natürlich nicht besser, sondern bleibt eine tiefschwarze Schattenseite. 

Bezüglich des Gedichts gibt es aber noch Folgendes zu sagen: Die „Abholung“ und Inhaftierung in Lagern von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern begann direkt nach der Machtübernahme 1933. Die Verfolgung, Inhaftierung, Mundtotmachung und Ermordung politischer Gegener setzte sich in den Jahren danach fort. 

Jüdische Deutsche wurden entrechtet, gedemütigt und aus dem öffentlichen und gesellschaftlichen Leben verdrängt und in, wenn auch vielen, Einzelfällen misshandelt und getötet. Die Vernichtung der deutschen und europäischen Juden kündigte Hitler 1939 in einer Reichstagsrede im Januar an und praktizierte sie im Schatten des von Deutschland begonnenen Krieges. Zu diesem Zeitpunkt war Niemöller bereits seit zwei Jahren im KZ und als öffentliche Stimme zum Schweigen gebracht.

Die Verunglimpfung Georg Elsers

Als „verstörend“ bezeichnest Du, dass und wie lange Niemöller den Widerständler Georg Elser verleumdet hat, der für den 8. November 1939 ein Spengstoff-Attentat in München vorbereitet hatte, bei dem Hitler und ein großer Teil der NS-Führung getötet werden sollten, das aber knapp scheiterte. Hier ist Niemöller einer klassischen Verschwörungstheorie aufgesessen und hat diese weiterverbreitet. Strukturell Ähnliches erleben wir ja nun auch in Pandemiezeiten und dass wissenschaftliche Erkenntnisse Verschwörungstheoretiker nicht von ihren Märchenerzählungen abbringen. Dass soll Niemöller keineswegs entschuldigen. 

Aber ich könnte mir vorstellen, dass er in seiner jahrelangen Haftzeit im KZ so von objektiven Informationen abgeschnitten war, dass ihm „Lagertratsch“ in diesem Fall plausibel erschien und sich das so bei ihm verfestigte, dass er auch nach der Befreiung bei diesem „Geschwurbel“ blieb. Im Übrigen war er ja beleibe nicht der Einzige, der in der Beurteilung Elsers falsch lag. Wenn ich das richtig sehe, dann dauerte es Jahrzehnte, bis die historische Forschung den Sprengstoff-Anschlag Elsers als den Widerstandsakt eines Einzelnen belegt hatte. Und dann dauerte es ja bis in die 1990er Jahre, bis seine Tat in der offiziellen Gedenkkultur der Bundesrepublik gewürdigt wurde.

Atomtod und Friedensbewegung

Deine Behauptung, Niemöllers Engagement für und in der Friedensbewegung sei „völkisch motiviert“, halte ich für sehr verkürzt und nicht hinreichend belegt. Nach der militärischen Befreiung vom Faschismus war Deutschland ein in vier Besatzungszonen geteiltes Land. Nach der Gründung der BRD im Mai 1949 und der DDR im Oktober 1949, beide beschränkt in ihrer Souveränität, verlief zwischen diesen die Grenze zwischen den beiden Blöcken, der westliche angeführt von den USA, der östliche von der Sowjetunion. In einem Krieg wäre die beiden deutschen Staaten das – vielleicht atomare – Schlachtfeld gewesen. In dieser Situation vor dem drohenden Atomtod zu warnen und sich dagegen auszusprechen, dass die beiden deutschen Teilstaaten zu Frontstaaten der sich feindlich gegenüberstehenden Blöcke werden, hat einerseits sicherlich mit einem nationalen Interesse zu tun, ist aber andererseits auch Ausdruck praktischer Vernunft (wenn man staatliche Verfasstheit als Ordnungsrahmen akzeptiert). Ich will nur daran erinnern, dass die Gesamtdeutsche Volkspartei der 1950er Jahre als der parteipolitische Ausdruck dieses Denkens getragen wurde von Menschen wie Gustav Heinemann (später SPD-Bundespräsident), Johannes Rau (später SPD-Bundespäsident), Erhard Eppler (später SPD-Bundesminister), Robert Scholl (Vater der Geschwister Scholl).

Fans

Dass Du die Unterstützer und Anhänger Niemöller durchgängig als Fans bezeichnest, finde ich bösartig. Das Wort leitet sich vom lateinischen „Fanaticus“ ab, was sich mit „in rasende Begeisterung versetzt“ übersetzen lässt, sowie vom englischen „Fanatic“, „eifernd“ bedeutend.

Soweit nur einige kurze Bemerkungen zu Deinem ausführlichen Text. Ich bin Dir dankbar für diesen Anstoß und hoffe, dass ihn nun weitere DFG-VK-Mitglieder aufnehmen und sich äußern.

Viele Grüße von Stefan Philipp

Kategorie: Pazifismus Stichworte: 202101, DFG-VK, Niemöller

28. März 2021

Wie viel Antisemitismus kann man übersehen?

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 1/2021

Pazifismus

Eine kritische Auseinandersetzung mit der DFG-VK-„Lichtgestalt Martin Niemöller

Von Hauke Thoroe

Gründungsurkunde der DFG-VK von 1974 mit der Unterschrift Niemöllers als Präsident

Als einer von wenigen Prominenten hat Martin Niemöller einen festen Platz in der Erinnerungskultur der DFG-VK. Auch aus dem Gedenkkanon der Bundesrepublik ist der Dahlemer Pfarrer nicht wegzudenken. Er sei widerständig gegen die Judenverfolgung gewesen und habe nach 1945 einen großen Beitrag zur Anerkennung und Aufarbeitung der deutschen Schuld geleistet. Nach der Lektüre der 600 Seiten starken Biografie „Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition“ (München 2019) von Benjamin Ziemann drängt sich einem der Schluss auf, dass dies eine sehr wohlwollende Interpretation sein könnte. Triggerwarnung: Der Text zitiert antisemitische Hetze.

Der Autor Benjamin Ziemann ist Professor für Neuere deutsche Geschichte an der englischen Universität Sheffield. Er forscht zu kirchlichen und militärischen Themen. Bei der Betrachtung Niemöllers liegt sein Hauptaugenmerk auf dem Kirchenkampf. Niemöllers Zeit in der Friedensbewegung schenkt der Autor verhältnismäßig wenig Beachtung. Im Archiv der DFG-VK ist er nicht gewesen, diesen Bereich rekonstruiert der Autor aus anderswo archivierten Briefwechseln und Tagebucheinträgen. Das ist schade, aber vielleicht verständlich. Denn Niemöller ist ja nicht berühmt, weil er in der DFG-VK war, sondern als Prominenter zur Friedensbewegung dazu gestoßen.

Ich habe versucht, ein angemessenes Resümee zu formulieren. Leider lässt mich die Lektüre der Biografie vor allem verstört zurück. In der Geschichtswissenschaft findet eine breite Kontroverse statt, welche Formen von Dissidenz in Nazi-Deutschland als „Widerstand“ gelten sollen und welche lediglich als „Verweigerung“ zu bewerten seien. Angesichts dessen, dass man im Nationalsozialismus auch bei „Verweigerung“ ruckzuck tot sein konnte und diese Niemöller letztlich auch für sieben Jahre in „Schutzhaft“ brachte, habe ich deutliche „Beißhemmungen“, mir ein Urteil anzumaßen. 

Damit eine historische Person zur Figur der Zeitgeschichte wird, ist neben dem konkreten Wirken des jeweiligen Menschen auch die Rezeption durch Öffentlichkeit und Publikum entscheidend. Dieses Publikum ist (mittlerweile mehrheitlich) genau wie ich mit der „Gnade der späten Geburt“ gesegnet. Deshalb frage ich mich, warum Niemöllers Fans ihn nicht kritischer hinterfragt haben. Benjamin Ziemann zeigt auf, dass es dazu reichlich Anlass gegeben hätte.

Widerstand gegen die Judenverfolgung?

Das öffentliche Bild von Niemöller als Kämpfer gegen die Judenverfolgung stützt sich vor allem auf die angebliche Ablehnung des sogenannten „Arierparagrafen“. Das antisemitische „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde im April 1933 erlassen und schloss unerwünschte Personen vom Öffentlichen Dienst aus. 

Der Protest hiergegen brachte Niemöller von 1938-45 ins Konzentrationslager, zunächst nach Sachsenhausen und dann bis 1945 nach Dachau. Dabei war Niemöller 1933 keinesfalls eine grundsätzliche Gegner*in des Nationalsozialismus, im Gegenteil, er war ein „Sympathisierender mit der NSDAP“ der die NS-Politik unterstützte (S. 372; hier und im Folgenden beziehen sich die angegebenen Seitenzahlen immer auf die Ziemann-Biografie). 

Bereits in den 1920-ern war Niemöller in antisemitischen Vereinen aktiv, die als Juden konstruierte Menschen ausschlossen (S. 407). Im Laufe des Jahres 1932 wandelte sich durch die Beschäftigung mit Luthers „Judenschriften“ Niemöllers Ressentiment von einem völkischen Antisemitismus zu einem mittelalterlich anmutenden Antijudaismus ganz im Sinne des Reformators (S. 201 ff. und S. 222-223). 

In Widerspruch zum NS-Regime geriet Niemöller, als die evangelische Kirche am 6. September 1933 beschloss, den „Arierparagrafen“ auch im kirchlichen Raum anzuwenden. Dagegen protestierten Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller. Ihre Erklärung interessierte sich jedoch de facto bloß für die 18 betroffenen Pfarrer und schweigt zur Entrechtung von 300 000 Betroffenen im Öffentlichen Dienst (S. 200). Ziemann schreibt: „Solidarität mit den Deutschen jüdischen Glaubens war von ihm – wie den allermeisten Mitgliedern des Notbundes – nicht zu erwarten“ (S. 223).

Deshalb forderte das Dahlemer Gemeindemitglied Prof. Dr. Elisabeth Schliemann mit einem Brief Niemöller auf, sich ebenfalls zur Diskriminierung von Juden außerhalb der Kirche zu äußern. Niemöller lehnte ab. Er antwortete, dass „die Kirche vom Staat nichts anderes zu fordern [habe], als dass er der Verkündung keine Hemmnisse bereitet und die Kirche Kirche sein lässt (…) Die Kirche predigt nicht dem Staat in seine (gerecht oder ungerecht angewandte) Gewalt hinein, auch nicht in der Judenfrage (…).“ Und er fügte hinzu, dass er das „Recht unseres Volkes bejahe, sich gegen einen übergroßen und schädlichen Einfluss des Judentums nachdrücklich zu wehren, der meines Erachtens dagewesen ist“ (S. 205).

Bereits im Herbst 1933 relativierte Niemöller auch die Solidaritätsverpflichtung in dem von ihm selbst mitverfassten Gründungsmanifest des Pfarrernotbundes (S. 206). In dem Aufsatz „Sätze zur Arierfrage“ schrieb er, dass „die bekehrten Juden als durch den heiligen Geist vollberechtigte Glieder“ der Kirche „anzuerkennen“ seien. An der „Gemeinschaft der Heiligen“ bestehe kein Zweifel. Es gäbe allerdings Grenzen für die Anerkennung der Rechte getaufter Juden: „Wir als Volk [haben] unter dem Einfluss des jüdischen Volkes schwer zu tragen gehabt“, und so erfordere die Anerkennung der Gleichheit aller Getauften in diesem Fall erhebliche „Selbstverleugnung“ (S. 206). Von kirchlichen „Amtsträgern jüdischer Abstammung“ müsse man deshalb die „gebotene Zurückhaltung“ verlangen. Pfarrer „nichtarischer Abstammung“ sollten kein „Amt im Kirchenregiment oder eine besonders hervortretende Stellung in der Volksmission“ einnehmen (S. 206). 

Auf einer Synode im Herbst 1933 beschloss der Pfarrernotbund folgerichtig, sich nicht gegen die Ausgrenzung der als Juden verfolgten Menschen aus dem öffentlichen Leben zu stellen: „Die Taufe begründet freilich für niemanden irdische Ansprüche und Rechte“ (S. 269). Die Synode diskutierte sogar, ob man noch klarstellen solle, dass die Taufe „kein weltliches Bürgerrecht“ verleihe, beließ es aber bei der ursprünglichen Formulierung.

Nach 1945 verbreitete Wilhelm Niemöller das Narrativ, die Beteiligung seines Bruders Martin 1935 an der Denkschrift der „2. Vorläufigen Kirchenleitung“ sei der entscheidende Schritt der Bekennenden Kirche von der „Verweigerung“ zum „Widerstand“ gewesen (S. 282, 307). 

Professor Ziemann zeigt hingegen auf, dass es ausgerechnet Martin Niemöller war, der durch seine Interventionen immer wieder verhinderte, dass die Bekennende Kirche den Schritt von der Verweigerung zum Widerstand vollzog (S. 283). Niemöller sorgte dafür, dass die Denkschrift entschärft und durch das NS-Regime unterstützende Passagen ergänzt wurde (S. 282). Er positionierte sich gegen die Veröffentlichung in der Presse. Nachdem ausländische Medien sie trotzdem druckten, sorgte Niemöller hinter den Kulissen dafür, dass die Denkschrift in den Kirchen in einer nochmals entschärften Variante verlesen wurde (S. 281). Dies hielt die Niemöllers nach dem Krieg jedoch nicht davon ab, aus Martins Beteiligung an der Denkschrift einen Höhepunkt des Widerstandes zu konstruieren (S. 282).

„Lichtgestalten“ der DFG

Die Geschichte der DFG(-VK) kennt einige bedeutende Persönlichkeiten. Als erste natürlich die beiden, die die Deutsche Friedensgesellschaft 1892 in Berlin maßgeblich gründeten: Bertha von Suttner (1843-1914) und Alfred Hermann Fried (1864-1921). Daneben den langjährigen DFG-Vorsitzenden Ludwig Quidde (1858-1941), den zeitweiligen DFG-Sekretär Carl von Ossietzky (1889-1938) und – als Ehrenmitglied – Albert Schweitzer (1875-1965); alle geehrt mit dem Friedensnobelpreis.
Eine wichtige Person war Martin Niemöller (1892-1984). Marineoffizier in der kaiserlichen Marine, evangelischer Pastor, deutschnational und NSDAP-Wähler, Führungsmitglied der Bekennenden Kirche in der Nazi-
Zeit,  KZ-Häftling als „persönlicher Gefangener des Führers“ von 1938 bis 1945, Kirchenpräsident einer Landeskirche und einer der Präsidenten des Weltkirchenrates. Und: Atomwaffengegner, Pazifist, seit 1957 Präsident der DFG, seit 1958 auch der Internationale der Kriegsdienstgegner, dann der DFG-IdK, schließlich ab 1974 der DFG-VK und von 1976 bis zu seinem Tod Ehrenpräsident.
Die Deutsche Verlagsanstalt bewirbt die bei ihr 2019 erschienene Niemöller-Biografie so: „Das Leben einer Jahrhundertgestalt: die erste umfassende Biografie“. (Benjamin Ziemann: Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition, München 2019; 640 Seiten; 39 Euro. Besprechungen z.B. von Michael Heymel https://bit.
ly/2MLAiSa
und Karl-Heinz Fix https://bit.ly/3cN6cs7)
Die Lektüre dieser Biografie kann aber auch „verstörend“ sein – gerade für DFG-VK-Mitglieder und vielleicht besonders für solche, die noch nicht schon Jahre im Verband sind, so wie unser Autor Hauke Thoroe. 
Grund genug, die Diskussion anzustoßen mit dem Beitrag von Hauke Thoroe und dem daran anschließenden Brief von Stefan Philipp.

Antisemitismus nach 1945

Auch nach 1945 äußerte Niemöller sich immer wieder antisemitisch. 

1946 schrieb er einen Offenen Brief an Frederik J. Forell, den Leiter des Emergency Committee for German Protestantism. Niemöller behauptete darin, dass die Bewohner*innen der britischen Zone in den letzten Tagen „nur 700 Kalorien“ bekommen hätten. „Das bedeutet weniger als die niedrigste Ration, von der man jemals in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager berichtet hat.“ Die Folge sei „Verhungern im eigentlichen Sinne“ (S. 374). Weiter versuchte er mit wilden Zahlenspielen zu suggerieren, dass seit der Kapitulation des „Dritten Reiches“ im Mai 1945 „mindestens 6 Millionen Deutsche verschwunden“ seien. Hinter all dem stehe nichts anderes als „die praktische Durchführung des Morgenthau-Planes mit der Absicht, ein ganzes Volk bis zu seinen Wurzeln auszurotten“. Die Herrschaft der Alliierten über Deutschland sei letztlich nur eine Fortsetzung der „Terrorherrschaft der Gestapo“ (S. 374).

Auch im Ausland nahm Niemöller kein Blatt vor den Mund. Am 7. März 1946 sagte er in Zürich beim „Schweizerischen Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland“: „Es besteht ein neuer Antisemitismus in Deutschland, der aber nichts mit den zurückwandernden Juden zu tun hat. Er ist dadurch entstanden, dass die Amerikaner die Entnazifizierung durch Juden ausführen lassen“ (S. 381). 

Auf einer Pressekonferenz 1947 in New York erklärte er hingegen, dass es in Deutschland keinen Antisemitismus mehr gebe. 

Auf derselben Amerika-Reise gab Niemöller der deutsch-jüdischen Zeitung „Aufbau“ ein Interview. Er wurde gefragt, was nach Deutschland zurückkehrende Juden erwarte. Niemöller antwortete mit der rhetorischen Frage, was die Juden denn im „überfüllten und verarmten Deutschland“ tun sollten, „vorausgesetzt, dass sie nicht Bauern werden wollen?“ (S. 381). Prof. Ziemann schreibt dazu, dass der Antwort das aus völkischen Vorstellungen stammende antisemitische Stereotyp zugrunde liege, dass Juden zu harter körperlicher Arbeit weder willens noch fähig seien (S. 380). 

Nach der Rückkehr aus den USA wurde Niemöller auf einer Pressekonferenz ebenfalls nach dem Antisemitismus in Deutschland gefragt. Niemöller antwortete, der Antisemitismus sei in Deutschland „totgeschlagen worden“, als 1938 die Synagogen brannten. Aber in den letzten Monaten sei der Antisemitismus als „allgemeines Gefühl“ wieder hervorgetreten, wie es ihn auch vor 1933 gegeben habe. „Der Grund dafür?“ Dass „überall in den amerikanischen Stellen (…) Juden sitzen. Wir müssen das Kind doch beim Namen nennen. (…) Wenn ich als Jude von Amerika nach Deutschland herüber ginge, nachdem ich dem Gemetzel unter Hitler entgangen bin, würde ich auch in Hasspolitik und Rachepolitik machen, vorausgesetzt, dass ich nicht Christ bin“ (S. 380). 

Auch im Herbst 1947 beklagte sich Niemöller gegenüber Ewart Turner, dass die Lebensmittelrationen auf 100 Gramm Fleisch pro Woche gekürzt worden seien. Normalverbraucher würden also in den kommenden Monaten sterben. Es werde „jener Jude (in der US-Militärverwaltung – Anmerkung der Verfasser*in) recht behalten, der meine Frage danach, was mit den zu vielen Menschen in der westlichen Zone passieren werde, sagte: ,Keine Sorge, wir kümmern uns darum, dieses Problem wird in einer recht natürlichen Weise gelöst werden!‘“ (S. 381-382).

Ähnliche Gedanken prägten auch Niemöllers Alltagshandeln. Im Juni 1946 geriet er mit Wilhelm Beez aneinander. Dieser war Landrat und Kreisvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) und in dieser Position für die Verteilung von „Care“-Paketen zuständig. Landrat Beez war vom SPD-Ortsverband Büdingen zugetragen worden, dass Niemöller dem Kaiserenkel Prinz Hubertus von Preußen, der Fürstenfamilie Ysenburg und lokalen Nazi-Größen für Opfer des NS-Regimes bestimmte Lebensmittel zuschanzte. Beez strich deshalb Niemöller von der Verteilerliste. Niemöller war empört: „Sie unterstützen wohl nur Judenfreunde?“ (S. 375). 

Der Vorfall sprach sich herum, und der „Spiegel“ bat Niemöller um eine Stellungnahme. Niemöller wiederholte seinen Vorwurf öffentlich und bekräftigte, diesen beweisen zu können. Das brachte das Fass zum Überlaufen, und die VVN setzte Niemöller ganz vor die Tür. Niemöller reagierte uneinsichtig. In einem Vortrag im August in der Büdinger Kirche sagte er, die „Angriffe“ auf ihn seien „wie in den vergangenen 15 Jahren üblich“ abgelaufen und warf damit die VVN mit dem Naziregime in einen Topf (S. 375). 

Die sich hier andeutende Transformation vom völkischen Antisemitismus über einen lutherischen Anti-Judaismus zur kulturellen Judenfeindlichkeit setzte sich bei Niemöller bis ins Alter fort. 1962 schlug ihm Helmut Gollwitzer vor, gemeinsam am 9. November an den Gedenkveranstaltungen in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, teilzunehmen. Doch Niemöller behauptete, keine Zeit zu haben. Denn am 9. November beginne auch die Jahrestagung der Deutschen Friedensgesellschaft. Im folgenden Jahr fragte Gollwitzer erneut. Diesmal müsse er nach London, sagte Niemöller. Warum die Kirche ein Interesse an Israel haben solle, sei ihm „schleierhaft“. Und dass sich die Araber*innen durch den „jüdischen Staat“ gefährdet und attackiert sehen“, das könne er „ihnen nicht übel nehmen“ (S. 505). 

1967 verschärfte Niemöller dieses Argument noch gegenüber Elsa Freudenberg, um deren jüdische Abstammung er wusste. Er sei der Überzeugung, dass er, „wenn er Araber wäre, bestimmt Antisemit wäre, weil hier ein fremdes Volk auf meinem Boden einen Staat gegründet hat, den meine Väter seit 1 200 Jahren bewohnt haben“. Elsa Freudenberg konterte, dass das nur ein Spiel mit Worten sei, dass der Hass der Araber sich nur „gegen den Staat Israel richtet und nicht gegen den einzelnen Juden“ (S. 506).

Anerkennung der deutschen Schuld?

Angesichts dieser Befunde muss man auch die Stuttgarter Schulderklärung von Herbst 1945 und Niemöllers Engagement dafür kritisch betrachten. In der gängigen Geschichtserzählung betonen seine Fans, dass Niemöller maßgeblich hinter der „Stuttgarter Erklärung“ gestanden habe. Diese Erklärung ist in der Geschichtserzählung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bis heute zentral, wenn es um den Neuanfang nach 1945 geht.

Niemöller argumentierte tatsächlich für ein Schuldbekenntnis und warb auch für die Stuttgarter Erklärung. Jedoch sticht der instrumentelle Charakter hervor (S. 400). 

Im Spätsommer 1945 sagte er auf einer Tagung des Reichsbruderrates (Leitungsgremium der Bekennenden Kirche), die das vorbereiten sollte, was später als „Stuttgarter Erklärung“ bekannt wurde, man solle den anklagenden Hinweis auf die Besatzungsmächte „noch“ unterlassen, denn „die Amerikaner hören es noch nicht“. Er betonte, dass die Deutschen erst dann keine „Hohn- und Spottlieder der Welt“ mehr hören würden, wenn sie ein hinreichendes Zeichen der Einsicht in ihre Schuld abgelegt hätten (S. 400). 

Der dann im Herbst 1945 verabschiedete Text des Stuttgarter Bekenntnisses ist sehr kurz. Er umfasst drei Absätze. Die Erklärung betont zunächst die deutsche Schuld und nennt die Nazi-Taten folgendermaßen: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ 

Bereits im zweiten Absatz stellt sich die Kirche als Hort des Widerstandes dar: „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist [des NS] gekämpft“.

Im dritten (und letzten) Absatz wird mit vorher erzeugter moralischer Legitimität postuliert, dass nur durch den „gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt und Vergeltung der heute von neuem mächtig werden will“ begegnet werden könne.

Mit dieser Floskel von der Vergeltung werden die Alliierten in ein Fass mit den Nazis geworfen und der Aufarbeitung der Verantwortung für die Nazi-Verbrechen eine Absage erteilt. Aus dem großspurigen Verweis auf die Lehren aus der Vergangenheit wird die Legitimation abgeleitet, sich überall einmischen zu dürfen.

Die deutsche Außenpolitik basiert bis heute auf diesem Trick. Die Stuttgarter Erklärung ist in meinen Augen somit ein frühes Beispiel von „Aufarbeitungsweltmeisterei“.

Von 1945 bis zum Bekanntwerden seiner antisemitischen Ausfälle in den USA 1947 war Niemöller fast non-stop unterwegs, um für die Stuttgarter Erklärung zu werben. Diese Veranstaltungen wurden oft von Deutschen gestört, für die bereits die Vorstellung, dass an den vergangenen 12 Jahren überhaupt irgendwas schlecht außer der Niederlage gewesen sei, zu viel war. Benjamin Ziemann schreibt, dass Niemöllers Reden keinem festen Skript folgten und nur aus Zeitungsartikeln und Mitschriften der Zuhörenden dokumentiert sind. Die Reden seien regelmäßig um seinen bekanntesten Spruch oder ähnliche Figuren orientiert gewesen: 

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Mit dem Wissen um Niemöllers Gedankenwelt sticht ins Auge, dass Prof. Ziemann schreibt, dass er keine einzige von Niemöller autorisierte Fassung finden konnte, in der die verfolgten Juden in das bekannte Zitat eingeschlossen sind (S. 521). Prof. Ziemann stellt außerdem heraus, dass im Gegensatz zum obigen Zitat Niemöllers Schuld nicht im Schweigen bestanden habe. Niemöller „schwieg keinesfalls zur Verfolgung von Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen (…), sondern er bekämpfte die Mitglieder dieser Parteien.“ (S. 521).

Wie ambivalent Niemöllers Schuldbekenntnis war, zeigen weitere Zitate. Noch 1947, zwei Jahre nach dem Stuttgarter Bekenntnis, schrieb Niemöller einen Essay gegen das „Märchen von der deutschen Kollektivschuld“. Er bezichtigt die Amerikaner eines „gewollten Massenmordes an einem Volke“. Denn die Amerikaner hätten keine Demokratie nach Deutschland gebracht, und seit Kriegsende seien „mehr deutsche Menschen verschwunden und umgekommen“ als während der zwölf Jahre des „Hitler-Terrors gemordet wurden, einschließlich der angeblich 6 Millionen verschwundenen Juden“ (S. 490).

Völkische Motivation für die Friedensbewegung

Eine völkisch-nationalistische Sichtweise zeigt sich auch bei Niemöllers Engagement in der Friedensbewegung. 

Niemöller postulierte 1958 Sätze wie „Das deutsche Volk ist dem sicheren Atomtod ausgeliefert“ oder „Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht“ (S. 458).

Zitate aus einem Text von 1951 gegen die Wiederbewaffnung zeigen, dass der Begriff „Volk“ hier nicht nur Floskel ist. Die „Not der Deutschen“ sei, dass ihr Land „entweder Kriegsschauplatz oder Brücke“ sein werde. Durch den Kalten Krieg seien die Deutschen „nur noch Objekte“ für „die Pläne anderer Mächte“. Wenn die Deutschen der Logik des Kalten Krieges folgten und sich für eine Seite entschieden, würde sie nur die „Verewigung unserer Not“ und „der Unfreiheit“ erreichen (S. 435). Niemöller fühlte sich hier ganz im Einklang mit der Bevölkerung, denn die Ablehnung der Wiederbewaffnung sei national, wo nicht ausgesprochen nationalistisch motiviert“ (S. 435). 

Prof. Ziemann schließt daraus, dass Niemöller die Wiederbewaffnung ablehnte, weil sie multinational im Bündnis mit anderen Staaten gedacht wurde und nicht als nationale deutsche Armee. 

Einer völkischen Argumentation zur Wiederbewaffnung, die „Freiheit“ nicht als Freiheit des Einzelnen definiert, sondern als nationale Bestimmung, kann ich wenig abgewinnen. Ich bezweifle, dass ein solcher Freiheitsbegriff eine Grundlage für eine emanzipatorische Politik, die Gewalt zwischen Menschen und Staaten abbaut, sein kann. 

Unverständlich ist für mich, dass Niemöller nie mit der Kadetten-Crew von 1910 brach. Die Offiziere der Marine betrachteten ihre „Crew“ als Lebensbund und pflegten ihre Kameradschaft in jährlichen Treffen, bei denen gemeinsam gesoffen und gefressen wurde. 

In der 1910 beginnenden Offiziersausbildung segelte Niemöller u.a. mit Dönitz und 13 weiteren späteren Admirälen der NS-Kriegsmarine. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher*innen war es Niemöller, der in einer Zeugenaussage beschwor, dass der Oberbefehlshaber der Marine und letzte deutsche Reichskanzler Karl Dönitz selbstverständlich nichts von den Konzentrationslagern gewusst haben könne (S. 506). 

Es gab zwar einigen Streit und Ärger in der Crew, nachdem Niemöller zu Unrecht vorgeworfen wurde, die Offiziersausbildung als „Hohe Schule des Berufsverbrechertums“ bezeichnet zu haben, und Niemöller damit konterte, dass Dönitz und die anderen nicht genug getan hätten, um ihn trotz zweifelsfreier nationaler Gesinnung aus dem KZ frei zu bekommen, doch auch noch 1980 besuchte er das „Crew-Treffen“ in Kiel. 

Die Verleumdung Georg Elsers

Verstörend ist auch die Verleumdung Niemöllers eines anderen „persönlichen Gefangenen des Führers“. Im Januar 1946 sprach er vor Göttinger Student*innen über den „SS-Unterscharführer Georg Elser“ der angeblich „1939 das Attentat im Bürgerbräukeller auf Hitlers persönlichen Befehl durchzuführen hatte“ (S. 412). Angehörige Elsers suchten daraufhin die Auseinandersetzung mit Niemöller. Dieser kanzelte sie ab und rechtfertigte seine verunglimpfenden Lügen mit von ihm mitangehörten Gesprächen der SS-Wachmannschaft im KZ Dachau.

Trotz gegenteiliger Forschungsergebnisse hielt er den Lagertratsch der SS-Schergen für glaubwürdiger und verunglimpfte Georg Elser bis in die 1970-er Jahre folgendermaßen: „Hiermit möchte ich deutlich machen, dass hinter dem Willen [Elsers – Anm. des Verf.] kein Ethos stand, auch nicht eine Null oder ein Nichts, sondern ganz einfach das, was man in der Menschheit einen verbrecherischen Willen nennt: keine Seele, keine Verantwortung.“

Ulrich Renz vom Georg-Elser-Arbeitskreis Heidenheim bezeichnet Niemöller sogar als „Hauptverursacher eines falschen Elser-Bildes“ (Ulrich, Renz: Der Fall Niemöller. Heidenheim 2002, im Internet einsehbar unter https://bit.ly/3jCm02B). 

Ziemann schildert, dass bei einer großen Ökumene-Veranstaltung 1952 in Indien der deutsche Bischof Hanns Lilje statusbewusst trotz tropischer Temperaturen in schwarzem Bischofskleid schwitzend herumlief und sich bei der Essensausgabe wie selbstverständlich vordrängelte, während Niemöller, in heller Hose und Hemd, sich wie alle anderen hinten anstellte und beim Essen auf dem Boden saß (S. 494). Einen deutschen Faschisten stellt man sich anders vor. 

Der „friedensbewegte“ Niemöller

Benjamin Ziemann beschreibt, dass es weniger Niemöllers Rolle als „Lichtgestalt“ gewesen sei, die für die Friedensbewegung wichtig gewesen sei. Viel mehr habe u.a seine Theologie ermöglicht, das sich Kirchen den Anliegen der Friedensbewegung geöffnet habe und so breite Bündnisse, an denen sich viele Menschen beteiligen, gesellschaftlich möglich wurden. Auch sei es der deutschen Friedensbewegung durch Niemöllers Engagement in der Ökumene gelungen, ihren Eurozentrismus zu überwinden und Frieden als ein Ziel zu begreifen, das nur im Rahmen der „Menschheitsfamilie“ erreicht werden könne (S. 470). Ziemann deutet Niemöller zudem als die zentrale Person, die die DFG-VK für die Unterwanderung durch die DKP geöffnet habe, da alle Menschen gleich seien, wenn sie sich nur für den Frieden engagieren wollen.

Ziemann beschreibt, wie Niemöller im Laufe der Jahre durch den „Atomschock“ und seine Mitarbeit in der Ökumene seinen Antibolschewismus ablegt. Die Aufgabe des Antibolschewismus ging letztlich so weit, dass Niemöller 1976 versuchte, Pastoren in der DDR zu erklärten, dass der Sozialismus die einzige gerechte Gesellschaftsordnung sei und Milliardäre enteignet werden sollten (was in einem Tumult endete (S. 503)). An seinem Lebensende konnte er mit seiner fundamentalistischen Theologie vermutlich selber nicht mehr viel anfangen, wie er mehrmals andeutete (S. 503). 

Unterstützung des Vietcong in seinem „gerechten Krieg“

An seinem Lebensende verortete sich Niemöller selbst schließlich weit links der Kommunist*innen (S. 503). Der späte Niemöller sah sich als „Revolutionär“ und warb z.B. beim Bundeskongress der DFG-VK 1972 für eine Unterstützung des Vietkong: „Wenn Sklaven sich wehren, ist das gerechter Krieg. Wir machen zwar nicht mit, aber unsere Sympathie ist beim vietnamesischen Volk“ (471). 

Man beachte die erneuten und auch im hohen Alter auftretenden Argumentation mit einem völkischen Referenzrahmen, der Sklaventum nicht an einer individuellen Positionierung in einer Gesellschaft festmacht, sondern an der Souveränität eines angeblichen Volkes und der Abwesenheit von fremder Besatzung. Und bei der Floskel vom gerechten Krieg stellen sich mir die Nackenhaare auf.

Mein Bild von Niemöller ist ein gespaltenes. Die Niemöllers, der eine Parteimitglied, der andere begeisterter Wähler Hitlers, deuteten nach 1945 ihre religiöse Verweigerung im NS-Regime zu politischem Widerstand um, und verschwiegen, dass genau sie es waren, die verhindert hatten, dass aus der religiösen Verweigerung der Bekennenden Kirche politischer Widerstand geworden war. Gleichzeitig verunglimpfte Martin Niemöller mit Georg Elser einen der wenigen Menschen, die tatsächlich die Courage hatten, Widerstand zu leisten. Er war auch nach 1945 bereit, Gräuelmärchen aus Nazi-Propaganda und an andere Verschwörungstheorien zu glauben, und verbreitete diese öffentlich. Und dass seine Fans dem nicht widersprochen haben, ist auch Teil des Gesamtbildes.

Kein aufrechter Bekenner

Niemöller stützte seine Theologie auf den zentralen Begriff des „Bekennens“. Mit dem Schuldbekenntnis schließt er an diese rhetorische Figur an. Da ist es irritierend, dass er sowohl in der Nazizeit (S. 305) als auch danach kontinuierlich bereit war, seinen Lebenslauf zu schönen, wenn es ihm opportun erschien. Die Umdeutungen rund um die 2. Denkschrift der vorläufigen Kirchenleitung habe ich schon erwähnt (S. 307 ff.). Niemöller strickte die Legende, das er im KZ eine Freilassung gegen Widerruf abgelehnt habe, obwohl es genau umgekehrt war (S. 315). Seine Meldung zur Marine aus der Haft redete Niemöller nach 1945 erst damit schön, dass er nur in Freiheit habe Christ sein können, obwohl eindeutig seine nationalistische Weltanschauung der Grund war (S. 325). Als das nicht verfing, erfand er die Story, dass er sich dem militärischen Widerstand habe anschließen wollen. Quellenkritisch betrachtet kann er von diesem aber nicht gewusst haben (S.325, 362). 

Fast schon unterhaltsam ist auch das zeitgenössische Vor und Zurück um das Debakel mit dem Besuch bei Hitler 1934 (S. 221 ff.). Der Besuch mündete in ein Debakel. Hitler beschloss danach, den Bischof, gegen den die Bekennende Kirche opponierte, noch mehr zu unterstützen. Niemöller redete in der Folge seinen Beitrag möglichst klein. Nach 1945 macht er aus dem Patzer jedoch eine heldenhafte Widerstandsgeschichte mit ihm in der Hauptrolle (S. 221 ff.). 

Auf dem Höhepunkt des erwähnten Skandals mit der VVN, der angeblich „nur Judenfreunde“ unterstütze, behauptet Niemöller, dass er, der „Kämpfer für Recht und Wahrheit“ sich nach „anfänglicher Sympathie“ bereits nach der Ermordung eines kommunistischen Arbeiters und Gewerkschafters im oberschlesischen Dorf Potempa durch eine Gruppe uniformierter SA-Männer im August 1932 „von der NSDAP“ abgewandt habe (S. 377). Seine Fans ignorierten all dies, obwohl er mehrmals von Medien bei so offenkundigen Lügen wie der Story mit Potempa ertappt wurde. 

Die Martin-Niemöller-Stiftung behauptet noch heute, im „Als sie die Kommunisten holten“-Zitat kämen Juden nicht vor, weil Niemöller diese nicht habe nennen können, weil „die große Verfolgungswelle“ erst eingesetzt habe, als er schon im KZ gewesen sei
(https://bit.ly/3tCJKYE)
. Dieses Argument lässt sich schnell entkräften: Die Verfolgung der Juden ging gleich 1933 in der ersten Woche nach der Machtübertragung mit einem gewalttätigen Boykott los, und die Reichspogromnacht dürfte selbst in Sachsenhausen erfahrbar gewesen sein. Interessanter ist aber der Zusammenhang: Von der Judenverfolgung soll Niemöller im KZ nichts mitbekommen haben, während er gleichzeitig über den militärischen Widerstand im Bilde gewesen sein will?

Auch das häufig benutzte Argument, dass Niemöller ein Kind seiner Zeit gewesen sei, und man deshalb Verständnis für seine Äußerungen haben müsse, halte ich für Verharmlosung. In Niemöllers Umfeld gab es Menschen, die denselben Zeitumständen und Bedrohungen ausgesetzt waren und trotzdem darauf beharrten, dass alle Menschen Menschen seien (das schreibe ich hier so plakativ, denn genau darauf, diese einfache Erkenntnis zu negieren, läuft Antisemitismus und die Zustimmung zur Machtübertragung hinaus). In der Bekennenden Kirche gilt dies z.B. für Franz Hildebrandt, Karl Barth, Gerhard Jacobi, Christa Müller, Georg Schulz, Elisabeth Schmitz und Elisabeth Schiemann, die bereits 1933 Niemöller und der antisemitischen NS-Politik widersprachen (S. 209 und S. 223). 

Aus der Crew von 1910 gilt dies für den Kapitänleutnant (und späteres DFG-Mitglied) Heinz Kraschutzki, dem die Einsicht bereits im Ersten Weltkrieg kam und der sich aktiv an der Novemberrevolution beteiligte (aber weiterhin an den Crew-Treffen teilnahm). Auch die bereits 1916 erfolgte Aufsehen erregende Entfernung des Kapitänleutnants Hans Paasche (Crew von 1899) aus der kaiserlichen Flotte dürfte dem Marineoffizier Niemöller zu Ohren gekommen sein. Niemöller selbst trat dem Argument von den Zeitumständen entgegen, wenn er Heinz Kraschutzki später so vorstellte: „Das ist mein alter Marinekamerad Kraschutzki. Ihm hat schon der Erste Weltkrieg die Augen geöffnet über das Wesen des Militarismus. Bei mir war leider noch ein Zweiter nötig.“ (Ralph Giordano: Rufer in der Wüste. In: Die Zeit, 10.6.1999).

Zu einem aufrechten Bekenner hätte gehört, dass Niemöller seine Vergangenheit konsistent aufarbeitet. Das tat er jedoch nicht. Gleichzeitig stritt Niemöller in späten Jahren für eine gerechtere Welt, wo er konnte. Der Wandel der Einstellungen und Überzeugungen Martin Niemöllers ist nicht im Sinne eines Saulus-Paulus-Erlebnisses passiert. Ich denke, man sollte sich Niemöllers Einstellungswandel eher wie einen kontinuierlichen lebenslangen Prozess vorstellen. Da Niemöller auch immer mehr oder weniger in seinen alten Vorstellungen festhing, dürfte ihm das aufrechte Bekennen zu seiner Vergangenheit so schwer gefallen sein. 

Zu Niemöllers Geschichte gehören jedoch auch die Fans, die nicht genauer nachfragten oder es gar nicht so genau wissen wollten, wenn Niemöller für peinliche Details schnell mal eine Ausrede konstruierte. 

Uns sollte das Beispiel Niemöller mahnen, auch bei „großen“ Männern (und Frauen) genau hinzuschauen. Auch unsere eigene Blendung beim Betrachten von vermeintlich beeindruckenden Vorbildern müssen wir immer wieder hinterfragen. Denn charismatische Anführer*innen sind nichts ohne ihre Fans, die sie kritiklos beklatschen.

Hauke Thoroe ist aktiv im DFG-VK-Landesverband Berlin-Brandenburg.

Kategorie: Pazifismus, Rezensionen Stichworte: 202101, DFG-VK, Geschichte, Judenverfolgung, Nazizeit, Niemöller, Präsident, Ziemann

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