Dieser Beitrag ist erschienen in der ZivilCourage 1/2021 |
Pazifismus
Zum Beitrag von Hauke Thoroe über den früheren DFG-Präsidenten Martin Niemöller
Von Stefan Philipp
Lieber Hauke Thoroe,
als Du angekündigt hattest, eine Besprechung der Ziemann-Biografie über Martin Niemöller liefern zu wollen, habe ich schnell zugesagt. Dass der frühere U-Boot-Kommandant in der kaiserlichen Marine, spätere NSDAP-Wähler, dann KZ-Häftling und nach dem Zweiten Weltkrieg Kirchenpräsident sich schließlich zum Pazifisten wandelte und weltweit bekannt und geachtet war … ein solcher Mensch kann mit einigem Recht als „Jahrhundertgestalt“ bezeichnet werden. Dass er auch noch Präsident der DFG-VK und bis zu seinem Tod 1984, vor bald vier Jahrzehnten also, Ehrenpräsident war, macht ihn auch und gerade für die LeserInnen der ZivilCourage, von denen viele mit dem Namen Niemöller wenig anfangen dürften, interessant.
Dass nun für jemand wie Dich aus der Gruppe der Unter-35-Jährigen, der auch erst zwei Jahre DFG-VK-Mitglied ist, die Lektüre des Ziemann-Werks „verstörend“ ist, das kann ich gut verstehen. Auch wenn mir durchaus einiges, was Du aus der Biografie darstellst, neu war, so sind doch die grundsätzlichen Fakten kein Geheimnis und waren es in der DFG-VK auch nicht. Ich erinnere an die Veröffentlichung eines Beitrags von mir in der ZivilCourage Nr. 1/2017 anlässlich des 125. Geburtstages von Niemöller (www.dfg-vk.de/files/zivilcourage/ZC-01-17-WEB.pdf). Darin sind auch seine Schattenseiten skizziert.
Diese können, sollen und dürfen benannt werden; unbedingt. Du sprichst von einer „Beißhemmung“. Die braucht es aus meiner Sicht nicht. Viel mehr sollten wir ein realistisches, und damit differenziertes Bild entwickeln. Frei nach Goethe: Wo viel Licht ist, gibt es auch viel Schatten. Allerdings dürfte das realistische Bild nicht schwarz-weiß sein, sondern zahlreiche und farbige Schattierungen dazwischen enthalten. Um das von Dir gezeichnete Bild bunter zu gestalten, habe ich einige wenige Aspekte näher betrachtet.
Zur zentralen Kritik
Eine zentrale Kritik von Dir an Niemöller ist, dass er sich als Pastor und Funktionär der Bekennenden Kirche zwar gegen die Anwendung des „Arierparagrafen“ im Bereich der evangelischen Kirche wandte, nicht aber gegen die Diskriminierung und Entrechtung von Juden insgesamt. Und zweitens, dass er und die Bekennende Kirche nicht den Schritt von der Verweigerung zum Widerstand gegen das Nazi-Regime gegangen seien. Was Du dazu, auf Ziemann gestützt, an Fakten darstellst, ist sicherlich richtig. Dass ein anderes Verhalten von Niemöller und seiner Kirche wünschenswert und politisch richtig und notwendig gewesen wäre, ist klar. Es ist aber die Frage, ob man das wirklich erwarten durfte und konnte. Und das erscheint mir zweifelhaft.
Schon im Neuen Testament heißt es im Brief des Apostels Paulus, geschrieben in der Mitte des ersten Jahrhunderts, an die christliche Gemeinde in Rom, dem sog. Römerbrief, im 13. Kapitel in den ersten beiden Versen: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen.“
Das ist gewissermaßen christlich-kirchliche DNA, dass sich christliche Religion und Kirche nicht gegen die „weltliche“, aber „von Gott“ eingesetzte Obrigkeit wenden und für politsche Veränderungen kämpfen.
Durch die konstantinische Wende im 4. Jahrhundert wurde das Christentum zur Staatsreligion, seitdem gab es die Verbindung von „Thron und Altar“.
Die protestantischen Kirchen sind ein Resultat der durch Martin Luther ausgelösten Reformation. Noch heute ist das Augsburger Bekenntnis aus dem 16. Jahrhundert eine verbindliche Bekenntnisschrift. In dessen Artikel 16
heißt es, „dass alle Obrigkeit in der Welt und geordnetes Regiment und Gesetze gute Ordnung sind, die von Gott geschaffen und eingesetzt sind“ (weshalb übrigens „Christen … rechtmäßig Kriege führen … können“).
Vor diesem Hintergrund und der obrigkeitsstaatlichen Tradition der evangelischen Kirche ist der „Kirchenkampf“ und die Entstehung der Bekennenden Kirche zu sehen. Die Nazi-Ideologie gründete auf einer angeblichen Volksgemeinschaft nach dem Motto „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Opposition wurde zum Verbrechen, alle gesellschaftlichen Bereiche wurden gleichgeschaltet, die Nazis sprachen von einem „positiven Christentum“ und hätten gerne eine zentral regierte Reichskirche gehabt.
Gegen diesen Versuch der Gleichschaltung wurde die Bekennende Kirche gegründet. Ihre theoretische Grundlage war die Barmer Theologische Erklärung von 1934, die gegen den nationalsozialistischen Totalitätsanspruch z.B. diese These setzte: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären (…).“ Politischer Widerstand lag der Bekennenden Kirche und den meisten ihrer AnhängerInnen fern – mindestens in den Anfangsjahren nach 1933. Später gab es dann einige, die aus ihrem Glauben die Konsequenz des aktiven Widerstands gezogen haben.
„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen …“
Dieser vielleicht berühmteste Ausspruch Niemöllers endet so: „Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Auch wenn diese Sätze, wohl erstmals in Reden ab 1946 formuliert, kein Aufruf zu einem
vielleicht zukünftig nötig werdenden Widerstand sind, so sind sie doch nicht anders zu verstehen als das Eingeständnis eines Fehlers nach der Etablierung des Nazi-Staates.
Ich erinnere mich, dass dieses Niemöller-„Gedicht“ in meiner Jugend in den 1970er Jahren, als ich in der evangelischen Jugendarbeit aktiv war und mich dann in der Friedensbewegung engagierte, große Bedeutung hatte. Für uns brachte es eine Haltung zum Ausdruck, die wir für unbedingt richtig hielten und als Handlungsaufforderung verstanden: zu Unrecht nicht schwei-
gen und dagegen aktiv werden.
Nun gibt es immer wieder Streit darüber, ob Niemöller auch „die Juden“ darin einbezogen hat im Sinne von „Als die Nazis die Juden holten“. Auch Du, Hauke, thematisierst das ja in Deinem Text und weist darauf hin, dass Ziemann keine autorisierte Fassung gefunden hätte, in der „die Juden“ genannt worden wären. Mir scheint dieser Streit einerseits akademisch zu sein und vielleicht auch ein Element in der beabsichtigten „Demaskierung“ Niemöllers als Antisemit. Ein solcher war er sicher jahre-, wenn nicht jahrzehntelang – so, wie viele, wenn nicht die meisten Deutschen. Du hast ja nachvollziehbar dargestellt, wie sich sein völkischer Antisemitismus über einen lutherischen Anti-Judaismus zur kulturellen Judenfeindlichkeit entwickelt hat. Das macht es natürlich nicht besser, sondern bleibt eine tiefschwarze Schattenseite.
Bezüglich des Gedichts gibt es aber noch Folgendes zu sagen: Die „Abholung“ und Inhaftierung in Lagern von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern begann direkt nach der Machtübernahme 1933. Die Verfolgung, Inhaftierung, Mundtotmachung und Ermordung politischer Gegener setzte sich in den Jahren danach fort.
Jüdische Deutsche wurden entrechtet, gedemütigt und aus dem öffentlichen und gesellschaftlichen Leben verdrängt und in, wenn auch vielen, Einzelfällen misshandelt und getötet. Die Vernichtung der deutschen und europäischen Juden kündigte Hitler 1939 in einer Reichstagsrede im Januar an und praktizierte sie im Schatten des von Deutschland begonnenen Krieges. Zu diesem Zeitpunkt war Niemöller bereits seit zwei Jahren im KZ und als öffentliche Stimme zum Schweigen gebracht.
Die Verunglimpfung Georg Elsers
Als „verstörend“ bezeichnest Du, dass und wie lange Niemöller den Widerständler Georg Elser verleumdet hat, der für den 8. November 1939 ein Spengstoff-Attentat in München vorbereitet hatte, bei dem Hitler und ein großer Teil der NS-Führung getötet werden sollten, das aber knapp scheiterte. Hier ist Niemöller einer klassischen Verschwörungstheorie aufgesessen und hat diese weiterverbreitet. Strukturell Ähnliches erleben wir ja nun auch in Pandemiezeiten und dass wissenschaftliche Erkenntnisse Verschwörungstheoretiker nicht von ihren Märchenerzählungen abbringen. Dass soll Niemöller keineswegs entschuldigen.
Aber ich könnte mir vorstellen, dass er in seiner jahrelangen Haftzeit im KZ so von objektiven Informationen abgeschnitten war, dass ihm „Lagertratsch“ in diesem Fall plausibel erschien und sich das so bei ihm verfestigte, dass er auch nach der Befreiung bei diesem „Geschwurbel“ blieb. Im Übrigen war er ja beleibe nicht der Einzige, der in der Beurteilung Elsers falsch lag. Wenn ich das richtig sehe, dann dauerte es Jahrzehnte, bis die historische Forschung den Sprengstoff-Anschlag Elsers als den Widerstandsakt eines Einzelnen belegt hatte. Und dann dauerte es ja bis in die 1990er Jahre, bis seine Tat in der offiziellen Gedenkkultur der Bundesrepublik gewürdigt wurde.
Atomtod und Friedensbewegung
Deine Behauptung, Niemöllers Engagement für und in der Friedensbewegung sei „völkisch motiviert“, halte ich für sehr verkürzt und nicht hinreichend belegt. Nach der militärischen Befreiung vom Faschismus war Deutschland ein in vier Besatzungszonen geteiltes Land. Nach der Gründung der BRD im Mai 1949 und der DDR im Oktober 1949, beide beschränkt in ihrer Souveränität, verlief zwischen diesen die Grenze zwischen den beiden Blöcken, der westliche angeführt von den USA, der östliche von der Sowjetunion. In einem Krieg wäre die beiden deutschen Staaten das – vielleicht atomare – Schlachtfeld gewesen. In dieser Situation vor dem drohenden Atomtod zu warnen und sich dagegen auszusprechen, dass die beiden deutschen Teilstaaten zu Frontstaaten der sich feindlich gegenüberstehenden Blöcke werden, hat einerseits sicherlich mit einem nationalen Interesse zu tun, ist aber andererseits auch Ausdruck praktischer Vernunft (wenn man staatliche Verfasstheit als Ordnungsrahmen akzeptiert). Ich will nur daran erinnern, dass die Gesamtdeutsche Volkspartei der 1950er Jahre als der parteipolitische Ausdruck dieses Denkens getragen wurde von Menschen wie Gustav Heinemann (später SPD-Bundespräsident), Johannes Rau (später SPD-Bundespäsident), Erhard Eppler (später SPD-Bundesminister), Robert Scholl (Vater der Geschwister Scholl).
Fans
Dass Du die Unterstützer und Anhänger Niemöller durchgängig als Fans bezeichnest, finde ich bösartig. Das Wort leitet sich vom lateinischen „Fanaticus“ ab, was sich mit „in rasende Begeisterung versetzt“ übersetzen lässt, sowie vom englischen „Fanatic“, „eifernd“ bedeutend.
Soweit nur einige kurze Bemerkungen zu Deinem ausführlichen Text. Ich bin Dir dankbar für diesen Anstoß und hoffe, dass ihn nun weitere DFG-VK-Mitglieder aufnehmen und sich äußern.
Viele Grüße von Stefan Philipp