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Rezensionen

19. Dezember 2021

Buchbesprechung

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 3/2021

Literatur

Ziesar Schawetz (Hrsg.): David McReynolds – Philosophie der Gewaltfreiheit. Das pazifistische Manifest eines Marxisten. (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ziesar Schawetz) (Nr. 10 der Reihe IDK-Texte zur Gewaltfreiheit, hrsg. von Wolfram Beyer; IDK-Verlag Berlin) Berlin 2021; 96 Seiten; 6,80 Euro (zzgl. Versandkosten); Bestellung über www.idk-info.net

Kurz und knapp: Aus der IDK, der Internationale der Kriegsdienstgegner*innen, eine 1947 gegründete (weitere deutsche) Sektion der War Resisters´ International (WRI) und Organisation, die die verschiedenen Fusionen zur DFG-VK nicht mitgemacht hat, kommen immer Broschüren mit wichtigen (Grundlagen-)Texten. Diese widmet sich dem 2018 verstorbenen David McReynolds, einem der prägenden Persönlichkeiten des Pazifismus in den USA – aber auch international, war er doch Jahrzehnte führend in der WRI tätig.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Der ausführliche, kenntnisreiche und einleitende Text von Ziesar Schawetz hilft bestens dabei, die eben nun historische Figur David McReynolds kennenzulernen, zu verstehen, einzuordnen und zu „bewerten“. Die beiden anderen sind Originalton David McReynolds und vielleicht besonders lesenswert für Jüngere. Sie könnten diesen zeigen: Auch „alte weiße Männer“ waren mal jung und können dennoch auch im Alter im Denken und Handeln radikal bleiben. Lesenswert!

Stefan Philipp

Kategorie: Rezensionen Stichworte: 202104, Buchbesprechung, Gewaltfreiheit, McReynolds, Rezension

19. Dezember 2021

Buchbesprechung

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ZivilCourage 3/2021

Literatur

Andreas Zumach: Reform oder Blockade: Welche Zukunft hat die UNO? Zürich 2021; 320 Seiten; 25 Euro

Im Jahr 2015 veröffentlichte Andreas Zumach zum 70jährigen Bestehen der Vereinten Nationen (englisch: United Nations Organization; Uno) das Buch „Globales Chaos – machtlose Uno“. In seiner Besprechung in der ZivilCourage 4/2015 stellte Stefan Phi-lipp damals fest: „Pazifistische Analyse und Strategieentwicklung kommt um die Uno-Frage nicht herum. Das Zumach-Buch ist auch deshalb Pflichtlektüre für PazifistInnen.“ Diese Einschätzung trifft uneingeschränkt auch auf die in diesem Jahr erschienene aktualisierte und stark erweiterte Neuausgabe des Buches unter dem Titel „Reform oder Blockade: Welche Zukunft hat die Uno?“ zu. 

Andreas Zumach schildert in dem neuen Buch nicht nur den weiteren Verlauf der in der ersten Auflage beschriebenen Gewaltkonflikte und stellt die fortschreitende Erosion des Völkerrechts, insbesondere (aber bei Weitem nicht nur) durch die US-Administration unter Präsident Trump, dar, sondern zeigt auch, welche Rolle die Uno bei den gegenwärtig größten Herausforderungen für die Weltgemeinschaft spielt (oder spielen könnte und sollte): die Bewältigung der globalen Folgen des Klimawandels und der Corona-Pandemie. 

Besonders lesenswert ist dazu das Kapitel „Corona, Ebola – Gesundheit als Ware“, in dem Andreas Zumach die Veränderungen der Finanzierung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von staatlichen Pflichtbeiträgen der Uno-Mitgliedsstaaten bis Ende der 1990er Jahre hin zu freiwilligen Leistungen der Regierungen und zweckgebundenen Spenden von Stiftungen und Konzernen (zusammen inzwischen 80 Prozent der Haushaltsmittel der WHO) schildert. Diese Veränderungen hatten gravierende Folgen für die Arbeit der WHO und führten unter anderem dazu, dass die Entwicklung vorbeugender Gesundheitsprogramme, die die sozialen und politischen Ursachen von Krankheit mit in den Blick nehmen, vernachlässigt wurde. 

Sehr differenziert betrachtet An-dreas Zumach in diesem Zusammenhang den Einfluss privater Akteure, wie z.B. der Bill & Melinda-Gates-Stiftung, bei der Finanzierung der WHO. Die unzureichende Finanzierung der gesamten Uno verdeutlicht Andreas Zumach mit diesem Vergleich: Die 193 Uno-Mitgliedstaaten gaben 2019 fast 250 US-Dollar pro Erdbewohner für Rüstung und Militär aus, für die Uno hingegen lediglich 7 US-Dollar. 

Vorschläge für eine Reform und Weiterentwicklung der Uno stellt der Autor in seinem Buch einige vor, wie den 2005 vom damaligen Uno-Generalsekretär vorgestellten Reformplan der Uno „In größerer Freiheit. Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle“ und die 2015 auf einem Uno-Gipfel verabschiedete „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“. Umgesetzt werden konnte davon bislang nur wenig. Der im Januar 2021 in Kraft getretene Atomwaffenverbotsvertrag bleibt deshalb der einzige Lichtblick in der Entwicklung der letzten Jahre. 

Das Buch ist für die praktische politische Arbeit sehr hilfreich. Die systematische Darstellung des Verlaufs von Krisen und Konflikten erleichtert es, aktuelle Ereignisse und das Scheitern der Uno-Mitgliedstaaten besser zu verstehen. Andreas Zumach schildert an vielen Beispielen sehr klar, wie die Aushöhlung der UN-Charta dazu führte, dass das Völkerrecht durch Vertragsbrüche von Mitgliedstaaten im sogenannten Krieg gegen den Terrorismus immer obsoleter wurde. Das Personenverzeichnis in der Neuausgabe steigert den Gebrauchswert des Buches zusätzlich.

Ebenfalls einen hohen Gebrauchswert als gute Argumentationshilfe in der aktuellen Debatte hat übrigens ein Beitrag von Andreas Zumach, der im September (nur) auf der Homepage der Zivilcourage (https://zivilcourage.dfg-vk.de/) erschienen ist: „Der endlose und gescheiterte Krieg. Afghanistan, Irak, Syrien, Mali – und wie weiter?“, abrufbar unter https://bit.ly/3chqMiV

Stefan Lau

Kategorie: Rezensionen Stichworte: 202104, Buchbesprechung, Rezension, UNO, ZUmach

19. Dezember 2021

Buchbesprechung

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ZivilCourage 3/2021

Literatur

Erica Chenoweth: Civil Resistance. What everyone needs to know. Oxford 2021 (Oxford University Press); 334 Seiten; ISBN-10: 0190244402ten; 25 Euro

Was jeder über gewaltfreien Widerstand wissen muss

Erica Chenoweth hat vor zehn Jahren zusammen mit Maria Stephan das Buch „Why Civil Resistance Works“ veröffentlicht. Aktuell hat sie die Ergebnisse ihrer weiteren Forschungen zur Wirkung des gewaltfreien Widerstands in ihrem neuesten Buch „Civil Resistance. What everyone needs to know“ veröffentlicht. Es ist bisher nur in englischer Sprache verfügbar. 

Verdienstvoll ist, dass sie in diesem Buch Fragen beantwortet, die im ersten Buch noch offen geblieben sind. 

Die Autorin hat den nach Berthold Beitz benannten Lehrstuhl in Harvard inne. Dass Beitz sein Geld für seine Arbeit im Rüstungskonzern Krupp bekam, ist ihr nicht anzulasten. Ihr wissenschaftlicher Verdienst ist es, statistisch genau nachgewiesen zu haben, dass gewaltfreie Bewegungen eine wesentlich bessere Erfolgsaussicht haben als gewalttätige.

Dazu hat sie alle politischen Bewegungen seit dem Jahr 1900 ausgewertet, die eine Mindestgröße an Beteiligten überschritten. Sie hat diese Bewegungen in gewalttätige und gewaltfreie unterschieden. Gewaltfreie Bewegungen haben das Ziel, dass Menschen unverletzt bleiben. Als gewalttätig zählt sie solche, bei denen die Anwendung von Gewalt über ein definiertes Maß hinausging. Zu grundsätzlich gewaltfreien Bewegungen mit gewalttätigen Rändern nimmt sie ausführlich Stellung.

Neu ist in diesem Buch, dass sie zum Erfolg gewalttätiger Revolutionen darstellt, dass diese sich auf eine viel größere gewaltfreie Massenbewegung stützen konnten. Am Beispiel des irischen Unabhängigkeitskrieges (1919-1922) gegen die britische Besatzung zeigt sie auf, dass die Bevölkerung schon seit 1870 gewaltfrei eine Selbstorganisation mit Parallelstrukturen aufgebaut hatte, ohne die der Krieg kaum erfolgreich gewesen wäre.

Die Auswertung, ob eine Bewegung mit einem Erfolg, einem Teilerfolg oder einem Misserfolg endete, ist in umfangreicher Tabelle angefügt und damit für jeden nachzuvollziehen. Chenoweth hatte bei ihrer Auswertung keinen Unterschied gemacht, ob eine Bewegung progressive Ziele verfolgte oder konterrevolutionär war. Diesbezüglich ist ihre Statistik völlig neutral. Aber da sie ihre Methodik offenlegt, ist leicht nachzurechnen: Wenn man nur die sozialistischen Revolutionen, antifaschistischen Widerstandsbewegungen und antikoloniale Befreiungsbewegungen auszählt, fällt der Unterschied in der Erfolgsrate zugunsten der Gewaltfreiheit sogar noch deutlicher aus. Sie stimmt der Aussage, dass gewaltfreier Widerstand auch für unmoralische Ziele einsetzbar ist, ausdrücklich zu und nennt dazu die Bewegungen gegen die sozialistischen Regierungen in Bolivien und Venezuela und die Monarchisten in Thailand.

Chenoweth setzt sich mit der Frage auseinander, ob gewaltfreie Methoden nur erfolgreich sind, wenn der Gegner sich „demokratisch“ zurückhält. Sie stellt klar, dass die britische Kolonialherrschaft in Indien ebenso Massenmorde wie Faschisten durchführte. Die antikoloniale Befreiungsbewegung mit Gandhi blieb dennoch überwiegend gewaltfrei. Gewaltfreier Widerstand war auch dann erfolgreich, wenn er sich direkt gegen den Hitlerfaschismus richtete. Chenoweth hat dazu die dänische antifaschistische Widerstandsbewegung ausgewertet und die Proteste der Frauen in der Rosentraße in Berlin, bei denen die Nazis nachgeben mussten.

Demgegenüber sinkt die Erfolgsrate signifikant, wenn eine gewaltfreie Bewegung gewalttätige Ränder akzeptiert. Dass Gewaltaktionen der Bewegung helfen könnten, wird eindeutig widerlegt. Militante Gewalttäter werden nicht etwa gewaltfreie Demonstrationen vor Angriffen von Militär oder Polizei schützen können, sondern bewirken das genaue Gegenteil, dass es nämlich viel mehr Tote und Verletzte gibt. Folglich sollten gewaltfreie Bewegungen sich besser von ihren gewalttätigen Rändern trennen, ihnen die Alternative anbieten, sich auf gewaltfreie Methoden zu beschränken oder die Bewegung zu verlassen.

Nur bei den von faschistischer Ideologie geleiteten Gruppen und Bewegungen führt die Akzeptanz und Anwendung von Gewalt nicht zu einer schlechteren Erfolgsbilanz. Chenoweth erklärt hierzu, dass das Wesen dieser Bewegungen Gewalt sei und sie damit stimmig seien. Demgegenüber gehen diejenigen, die für Frieden, Gerechtigkeit und soziale Rechte eintreten, durch den unauflösbaren Widerspruch zwischen ihren Zielen und gewalttätigen Mitteln in den Misserfolg.

Chenoweth stellt heraus, dass gewaltfreie Bewegungen, die mehr als drei Prozent der Bevölkerung umfassten, erfolgreich waren. Da bleibt doch die Frage offen, weshalb mehr als vier Millionen erklärte Kriegsdienstverweigerer es hierzulande nicht schaffen konnten, das Militär abzuschaffen und Deutschland als internationalen Kriegsdienstverweigerer auf gewaltfreie Außenpolitik zu verpflichten.

Offen bleibt auch die Frage, in welchem Ausmaß die Beschränkung auf Teilforderungen den Erfolg beeinflusst. Hier aufgelistet, aber in ihrem vorherigen Buch ausführlicher dargestellt ist die gewaltfreie philippinische Widerstandsbewegung gegen den faschistischen Diktator Marcos. Weil Corazon Aquino die Eigentumsverhältnisse und Ausbeutung durch internationale Konzerne unangetastet ließ, während die vorher gescheiterte kommunistische Partei der Phi-
lippinen die Beendigung der Ausbeutung und die ökonomische Gleichheit zum Ziel hatte, ließen die USA ihren Statthalter Marcos genau dann fallen, als klar war, dass sie von Aquino nichts zu befürchten haben. Es ist mit der statistischen Methode nicht zu unterscheiden, ob die unterschiedlichen Ziele oder die unterschiedlichen Mittel der Aquino-Partei und der Kommunisten entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg waren.

Chenoweths Beschreibung zu Irland bestätigt den 100 Jahre älteren Bericht John Reeds über die russische Oktoberrevolution „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“. Den hatte sie im Literaturverzeichnis leider gar nicht erwähnt. Da wäre wenig über revolutionären Schusswaffengebrauch, aber sehr viel von gewaltfreien offenen politischen Diskussionen in den Sowjets zu finden. Lenin nannte das bereits im April 1917 „Doppelherrschaft“, dass „neben der Regierung der Bourgeoisie sich eine zwar noch schwache, erst in der Keimform vorhandene, aber dennoch unzweifelhaft existierende und erstarkende zweite Regierung herausgebildet hat: die Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten“, und Millionen russischer Arbeiter und Bauern hatten sich schon lange vor der Oktoberrevolution in Konsum- und Produktionsgenossenschaften organisiert. Erfolgreiche gewalttätige Strukturen profitierten von den vorherigen gewaltfreien Aktionen. Es gab erfolgreiche gewalttätige Bewegungen, aber wenn gewaltfreie Strukturen etabliert sind, sind Gewaltaktionen für den kurzfristigen Erfolg nicht nötig und für den langfristigen Erfolg eher hinderlich.

Der Untertitel „Was jeder wissen muss“ hat hier seine Berechtigung. Das Buch „Civil Resistance“ ist bei Oxford University Press erschienen für 16,95 US-Dollar, die Carl-von-Ossietzky-Buchhandlung beispielsweise importierte es für 16,95 Euro.

Ralf Cüppers

Kategorie: Rezensionen Stichworte: 202104, Buchbesprechung, Gewaltfreiheit

19. Dezember 2021

Wieder entdeckt und gelesen

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 3/2021

Literatur

Was uns „alte“ Bücher heute sagen können

Wer kennt das nicht? Man zieht um, mistet aus, sucht etwas im Bücherregal. Und stößt auf ein altes Buch, von dem man denkt: Das war damals eine wichtige Lektüre, das wollte ich unbedingt noch einmal lesen. Und es könnte auch für andere bereichernd sein. Oder aus einem aktuellen Anlass gelesen werden sollen.

Wer selbst solche alten Schätze wieder entdeckt, der kann sie hier in dieser Rubrik präsentieren.

Werner Glenewinkel präsentiert im Teil 2 unserer Reihe:

Elisabeth Hannover-Drück und Heinrich Hannover (Hrsg.): Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens. Frankfurt am Main 1967

Dieses Buch war damals, 1967, eine wichtige Lektüre und soll heute zum Wiederlesen vorgestellt werden. Denn in diesem Jahr wären Rosa(lie) Luxemburg und Karl Liebknecht beide 150 Jahre alt geworden. Geboren im Jahr der Gründung des Deutschen Reiches, die ja ausführlich in den Medien besprochen wurde, hat ihr Geburtstag wenig mediale Aufmerksamkeit gefunden. Das Theater in Meran hat aus diesem Anlass ein beeindruckendes Theatermemorandum in drei Bildern aufgeführt: „Rosa Luxemburg. Ich war. Ich bin. Ich werde sein.“ Das ist auch der Titel einer ihrer Aufsätze, und in ihm findet sich dieser Satz: „Mensch sein ist von allem die Hauptsache. Und das heißt fest und klar und heiter sein, ja heiter, trotz alledem.“ Auch dieses Theatermemorandum endet in der Nacht zum 15. Januar, in der Rosa Luxemburg und ihr Genosse Karl Liebknecht verschleppt, gefoltert und ermordet wurden. 

Die Herausgeber Elisabeth und Heinrich Hannover, woll(t)en mit diesem Buch keinen Kriminalfall (der es auch ist) aufklären. „Die Täter interessieren sie nicht als Personen, sondern nur als typische Vertreter gesellschaftlicher Gruppen und der von ihnen beherrschten staatlichen Institutionen“, heißt es im Vorwort. Liebknecht und Luxemburg seien nicht gefährlich gewesen, „weil sie über physische Gewalt verfügt hätten, sondern weil sie im Begriff standen, die deutsche Arbeiterschaft über ihre Klasseninteressen aufzuklären (…)“. „Gegen Aufklärung“, heißt es dann weiter, „hat eine Herrschaftsordnung, die weder moralisch noch vernunftmäßig zu rechtfertigen ist, nur ein Mittel: die Gewalt.“ (Seite 7) Denn die Vertuschung des Mordes begann bereits in der Mordnacht, weil „ein wesentlicher Teil der jungen Weimarer Republik in die Hände eines in reaktionärem Geiste geführten Militärs gelegt wurde (…)“. Und „weil die Justiz der Republik ebenfalls in den Händen von Angehörigen ihrer Gesellschaftsschicht lag“ (S. 8). Denn die beiden Arbeiterführer erlebten seit Langem einen ungeheuren Kollektivhass, der von einer gelenkten Hasspropaganda gegen Minderheiten verstärkt wurde. „Die Erzeugung von Progromstimmung“, schreiben die Herausgeber weiter, „gegen aufklärerische Minderheiten – Sozialisten, jüdische Intelligenz, ,Linksintellektuelle‘, Studenten – ist eines der Mittel, mit denen sich die herrschende Klasse die Assistenz der brutalen Dummheit sichert.“ (S. 9)

Mit Hilfe der noch einsehbaren Verfahrensakten sowie zahlreicher Presseberichte stellen die Herausgeber „ein historisches Ereignis als Teil eines dialektischen gesellschaftlichen Prozesses dar“ (S. 10). Nach der Darstellung der politischen Vorgeschichte des Mordes wird die politische Rolle von Luxemburg und Liebknecht kurz skizziert. Ein Satz der bis heute mit Rosa Luxemburg verbunden ist lautet: Die Freiheit ist immer die Freiheit der anders Denkenden. Für Karl Liebknecht ist dieser Satz wohl sehr charakteristisch: Die Furcht ist der schlechteste Ratgeber. 

Dann wird der Mord im Spiegel der zeitgenössischen Presseberichte geschildert. Den Schwerpunkt bildet der Prozeß vor dem Feldkriegsgericht gegen den Husaren Runge und Genossen sowie gegen sechs zum Teil hochrangige Offiziere. Die Auszüge aus dem Verhandlungsprotokoll des Feldkriegsgerichts klingen z.T. unglaublich und gewähren tiefe Einblicke in die Strukturen der jungen Weimarer Republik. Das Urteil soll hier mit dem Kommentar aus der Frankfurter Zeitung vom 16. Mai 1919 beschrieben werden:

„Der Ausgang der vor dem Kriegsgericht wegen der Ermordung von Liebknecht und Rosa Luxemburg geführten Verhandlungen ist aus rechtlichen wie aus politischen Gründen durchaus unbefriedigend. Denn zwei schwere Mordtaten bleiben ungesühnt, da die über einige Angeklagte verhängten Strafen nicht das Hauptverbrechen, den Mord selbst, sondern nur die Begleitumstände betreffen. Das Gericht ist im Gegensatz zu den Anträgen des Anklagevertreters für die meisten Angeklagten zu einem freisprechenden Ergebnis gelangt, weil es den Schuldbeweis nicht als geführt ansah.“ (S. 123)

Damit ist die Dokumentation aber noch nicht beendet. Es folgt der sogenannte Jorns-Prozeß. Kriegsgerichtsrat Jorns, lange Jahre bei der sog. Schutztruppe in China und Deutsch-Südwestafrika kämpfend, hatte die Anklage im Prozess gegen die Mörder von Luxemburg und Liebknecht vertreten. Am 24. März 1928 erschien in der Zeitschrift Das Tagebuch ein anonymer Aufsatz mit dem Titel Kollege Jorns. Darin wird Jorns, der inzwischen Reichsanwalt geworden war, vorgeworfen, er habe in dem Verfahren den Liebknecht-Luxem-
burg-Mördern Vorschub geleistet. Etwa ein Jahr später beginnt vor dem Schöffengericht in Berlin-Mitte die Hauptverhandlung gegen den verantwortlichen Redakteur der Zeitschrift. Josef Bornstein wurde Beleidigung und üble Nachrede vorgeworfen. Er gab den Namen des Verfassers des Artikels nicht preis. Der Prozess wurde dank der Verteidigung durch den SPD-Reichstags-Abgeordneten Dr. Paul Levi und die Vernehmung des kommunistischen Reichstags-Abgeordneten Wilhelm Pieck (dem späteren Staatspräsidenten der DDR) zu einer neuerlichen, wenn auch indirekten, Anklage gegen die freigesprochenen Offiziere. Es verstärkten sich die Indizien für eine Planmäßigkeit der Morde. 

„Das Urteil des Schöffengerichts sprach den Angeklagten Bornstein am 27. April 1929 von der Anklage der Beleidigung und der üblen Nachrede frei. Es sah den Wahrheitsbeweis für die ehrenkränkenden Behauptungen des Aufsatzes in allen wesentlichen Punkten als erbracht erbracht.“ (S. 158) Die Presseberichte zeigten, schreiben die Herausgeber, „die Unterschiede der Berichterstattung und des politischen Denkens, die wir auch in der Presse unserer Tage [also in den 60er Jahren; d. Verf.] wieder finden“ (S. 158).

Die Berliner Volkszeitung schrieb dazu: „Das Gericht hat einen Spruch gefällt, der sicher dem Ansehen der deutschen Justiz außerordentlich zuträglich sein wird. Es hat in vollem Maße das Recht der Presse auf Kritik anerkannt und sich weder auf die formale Ausrede zurückgezogen, dass die Kritik in der Form gefehlt habe, noch auf die, dass in Nebenpunkten der Wahrheitsbeweis nicht erbracht sei. Wenn jetzt gesagt wird, dass der Freispruch für Bornstein eine Verurteilung für Jorns bedeutet, so ist das zutreffend. Aber man muss doch wohl noch einen Schritt weitergehen. Verurteilt worden ist in Moabit das ganze System jenes Helldunkels, das in den Januar Tagen 1919 Deutschland beschattete“ (S. 162).

Fünf Jahre später wird in Schatten der Vergangenheit ein Briefwechsel zwischen dem preußischen Justizministerium und dem preußischen Ministerpräsidenten geschildert. Am Ende steht im Juli 1934 ein Dankesbrief des damals verurteilten Otto Emil Runge. Darin spricht er seinen „besten nationalsozialistischen Dank“ für die ihm gewährte einmalige Entschädigung von 6 000 Reichs-Mark aus. Grundlage ist das Gesetz über die Versorgung der Kämpfer für die nationale Erhebung vom 27. Februar 1934. 

Der Epilog von Elisabeth und Heinrich Hannover klingt bedrückend. „Denn gerade die Partei,“ schreiben sie, „die sich rühmen könnte, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bis in den Ersten Weltkrieg hinein als Mitglieder geführt zu haben, scheint sich nicht gern an sie zu erinnern“ (S. 185). Dann beklagen sie die damals wenig ausgeprägte Erinnerungskultur: Sie erwähnen, dass das nach den Plänen des Architekten Ludwig Mies van der Rohe 1924 auf dem Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde errichtete Denkmal von den Nazis abgebrochen worden sei; dass 1941 die Gräber eingeebnet seien und im Friedhofsregister mit roter Tinte die Verfügung eingetragen worden sei, dass eine Umbettung Karl Liebknechts nicht in Frage käme. Auch zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der faschistischen Herr-
schaft, schreiben sie im damals, den 1960er Jahren, üblichen Sprachgebrauch, gebe es im westlichen Teil Deutschlands kaum eine Straße, die nach einem der beiden großen Sozialisten benannt sei. Wenigstens das hat sich – über 50 Jahre später – geändert. Im Internet erfährt man, dass es mittlerweile über 200 Straßen in Deutschland mit dem Namen Rosa Luxemburg und etwas 300 mit dem Namen Karl Liebknecht gibt. 

Zum Schluss lohnt ein Blick auf die beiden Herausgeber: Elisabeth (1928-2009), studierte Historikerin, und Heinrich (heute 96 Jahre alt), seit 1954 als Rechtsanwalt zugelassen, waren ein produktives Paar. Die Beschäftigung mit Luxemburg und Liebknecht war kein Zufall. Bereits 1966 erschien von ihnen Politische Justiz 1918-1933 im Fischer-Verlag. Heinrich Hannover war von Anfang an in Verfahren wegen politischer Straftaten engagiert (ausführlich dazu Wikipedia zu Heinrich Hannover) und ein entschiedener Verfechter der „Herrschaft des Rechts“. Ohne sie so zu nennen hat er sehr früh auf die „Furchtbaren Juristen“ (so der Titel des Buches von Ingo Müller 1987) hingewiesen hat, die ihre im Nationalsozialismus begonnenen Karrieren ungehindert fortführen und dabei ihrer Gesinnung treu bleiben konnten. Hannover war ein Gegner der westdeutschen Wiederbewaffnung und Mitglied im Verband der Kriegsdienstverweigerer sowie einer der bekanntesten Verteidiger von Kriegsdienstverweigerern. Dass er daneben auch über 40 Jahre hin eine Fülle schöner, anregender Kinderbücher geschrieben hat, macht ihn zu einem ganz besonderen Juristen. 

Werner Glenewinkel ist DFG-VK-Mitglied, promovierter Jurist und war Vorsitzender der Zentralstelle KDV.

Kategorie: Rezensionen Stichworte: 202104, Liebknecht, Luxemburg, politische Justiz

2. September 2021

Buchbesprechung

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 4/2021

Literatur

Werner Glenewinkel: Enkel sind das Dessert des Lebens. Gespräche zwischen den Generationen: Opa-Enkel-Dialoge. Hamburg 2021; 240 Seiten; 10,99 Euro (E-Book: 6,90 Euro) 

Was macht ein alter Pazifist – alt im Sinne von langjährig und seines Lebensalters? Werner Glenewinkel ist so ein alter Pazifist mit 76 Lebensjahren und einigen Jahrzehnten DFG-VK-Mitgliedschaft. Dank seiner Zugehörigkeit zu einer Patchwork-Familie ist er Großvater von fünf Enkelkindern – und schreibt darüber ein Buch. Eigentlich ein Gesprächsbuch. 

Denn er nimmt seine Enkelkinder und ihre Fragen ernst. Und das Buch enthält deshalb überwiegend „Opa-Enkel-Dialoge“.

Der promovierte Jurist Werner Glenewinkel war Asta-Vorsitzender, Zeitsoldat, staatlich nicht anerkannter Kriegsdienstverweigerer, Dozent an einer Fachhochschule, Familientherapeut, Vorsitzender der Zentralstelle KDV … ein reiches Leben mit großem Erfahrungsschatz und vielen Einsichten des kritischen Zeitgenossen fächert sich da auf.

Krieg und Frieden sowie Demokratie und Gerechtigkeit sind die beiden großen Themenbereiche und Interessen im Leben des Großvaters. Und so tauchen diese in vielen der Dialoge mit den Enkeln auf. Die Kinder fragen, er erklärt Zusammenhänge, beschreibt, was er erlebt hat und wie der das bewertet. Damit sind die Gespräche auch ein Stück Geschichtsunterricht, aber eben nicht im Sinne der Vermittlung theoretischer oder sachlicher Inhalte. Sondern entwickelt aus der persönlichen Erfahrung und so, dass die Enkel viel fragen und verstehen können.

Ein Beispiel für den Stil der Dialoge, hier zum Thema Bundeswehr und Kriegsdienstverweigerung: 

(…) Was wäre gewesen, wenn du dich geweigert hättest – wegen „Nie wieder Krieg!“? Ich hätte den Kriegsdienst mit der Waffe veweigern können. Das war ja im Grundgesetz in Artikel 4 Absatz 3 ausdrücklich vorgesehen. Warum hast du das nicht gemacht? Meine Eltern haben mir die Entscheiung überlassen. Ja, leider. Nachdenkliche Pause. Obwohl die den Krieg erlebt hatten? Ja, und ich hatte keinen Lehrer, der mich angeregt hätte, darüber genauer nachzudenken. Und deine Klassenkameraden? Einige mussten nicht zur Bundeswehr. Verweigert hat keiner. Die Enkelkinder drängen sich aufgeregt um den Opa. Opa, muss ich auch zur Bundeswehr? (…)

Und warum „Dessert des Lebens“? Ein schönes Sprachbild. Es beinhaltet auch, das nach der „Mühe der Erziehungsarbeit“ mit den eigenen Kindern nun eine schöne und leichte Lebensphase folgt. Wie der krönende und genussvolle Abschluss einer guten Mahlzeit. Zu wünschen wäre Werner Glenewinkel – und auch den Enkeln –, dass ihm noch viel Zeit bleibt für den fruchtbaren Austausch mit der neuen Generation. 

Und vielleicht kann die Lektüre des Buches andere „alte PazifistInnen“ anregen, seinem Beispiel auf je ihre Weise zu folgen.

Stefan Philipp

Kategorie: Rezensionen Stichworte: 202103, Buchbesprechung, Literatur

2. September 2021

Buchbesprechung

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ZivilCourage 4/2021

Literatur

Heike Klefner, Matthias Meisner (Hg.): Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde. Freiburg 2021; 352 Seiten; 22 Euro

Da reibt sich manche wackere Veteran*in der Friedensbewegung die Augen: Auf den Demos der Corona-Spinner*innen weht die regenbogenfarbene Friedensfahne gleich neben der Reichskriegsflagge und anderen Unappetitlichkeiten. Wie konnte das passieren? Im Buch „Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“ vertreten die von den Herausgeber*innen Heike Kleffner und Matthias Meisner versammelten Autor*innen u.a. die These, dass der anhand der Flaggenverirrung sichtbar werdende fehlende Mindestabstand nach rechts das Ergebnis einer langanhaltenden Entwicklung ist, die in der Friedensbewegung weitgehend ignoriert wurde.

In „Fehlender Mindestabstand“ versammeln die Herausgeber*innen auf ca. 350 Seiten die Beiträge von 39 Autor*innen. In eher kurzen Artikeln beschreiben sie, wie die fehlende Abgrenzung nach rechts in weiten Teilen des Bürger*innentums in der Corona-Krise sichtbar wird. Sie zeigen damit, dass autoritäre Einstellungen und Menschenfeindlichkeit kein Problem der gesellschaftlichen Ränder sind, sondern leider einen festen Platz in der Mitte der Gesellschaft haben. 

Die Autor*innen zeigen auch auf, dass Nazis den Aufruf zum Unpolitisch-sein jenseits von rechts und links nicht zufällig als Einladung interpretieren. Relativierungen der Shoa (Anne-Frank-Bezüge, „Wie 1933!“-Zitate) betreiben nicht nur Täter-Opfer-Umkehr, sie suggerieren auch, dass der Infektionsschutz, das Tragen einer Maske und nette freundliche Cops, die mit dem Wasserwerfer über die Köpfe der Menge hinwegzielen, irgendwie mit dem ab 1933 einsetzendem Terror, der zum Zweiten Weltkrieg und der Ermordung von über sechs Millionen Juden führte, dasselbe seien. Auch Hetze gegen „die da oben“, ,,Bill Gates“ o.ä. verweist auf antisemitische Stereotype, die von weiten Teilen des Bürger*innentums geteilt werden und an die Nazis selbstverständlich anknüpfen können. Und warum sich viele von einem neu-imperialistischen Autokraten wie Putin retten lassen wollen, ist mir nach wie vor unverständlich, lässt sich aber laut den Autor*innen mit einer Akzeptanz für autoritäre Politikmodelle erklären.

Ein Kapitel widmen die Autor*innen eigens der Friedensbewegung. Unter dem Titel „Ein Angstszenario nach dem anderen“ beschreibt Sebastian Leber die Mahnwachen-Bewegung von 2014 und den sog. „Friedenswinter“ als Wiege der Corona-Bewegung. Leber zeigt, dass zentrale Akteure der Berliner Mahnwache auch die Corona-Proteste organisieren. Anhand von Zitaten der Schlüsselfiguren zeichnet er nach, dass es bei beiden Bewegungen um dieselben autoritären Inhalte ging. Für mich war es erschreckend zu lesen, wie krass der Antisemitismus eines Ken Jebsen schon 2014 war, und zu wissen, dass eigentlich ganz vernünftige und angesehene Leute in der Friedensbewegung Jebsen für einen geeigneten Bündnispartner hielten. Auf der einen Seite wollen wir immer ganz seriös sein und mit Lobbyismus Abgeordnete und Entscheidungsträger*innen erreichen, und auf der anderen Seite kreiselt unser politischer Kompass so sehr, dass wir autoritäre und menschenfeindliche Verschwörungsknallis nicht als das erkennen, was sie sind, sondern sie für geeignete Bündnisparter*innen für eine Kampagne wie den „Friedenswinter“ hielten. Ich würde mir deshalb deutlich mehr Positionierungen unserer Verbandsspitze gegen Verschwörungs-Blödsinn wünschen. 

Wer mehr dazu wissen möchte, aber leider keine Zeit hat, dass 22 Euro kostende im Herder-Verlag erschienene Buch zu lesen, ist am Montag, den 11. Oktober, herzlich in die Mehringhöfe in Berlin, Gneisenaustraße 2A. eingeladen. Die Antimilitaristische Aktion Berlin (amab), das Büro für antimilitaristische Maßnahmen (BAMM) und der Berliner Landesverband der DFG-VK veranstalten dort um 19 Uhr eine Diskussion mit dem Titel „Frieden für Deutschland? Was tun gegen Rechtsoffenheit in der Friedensbewegung!“ Dazu haben wir neben der Herausgeber*in Heike Kleffner und dem Autor Sebastian Leber auch Fabian Virchow eingeladen, um die Thesen des Buches zur Friedensbewegung zu diskutieren. 

Und wer lieber Fernsehen guckt, findet hier eine Aufzeichnung der Buchpremiere: https://bit.ly/2VsUc8M

Hauke Thoroe

Kategorie: Rezensionen Stichworte: 202103, Literatur

28. März 2021

Wie viel Antisemitismus kann man übersehen?

Dieser Beitrag ist erschienen in der
ZivilCourage 1/2021

Pazifismus

Eine kritische Auseinandersetzung mit der DFG-VK-„Lichtgestalt Martin Niemöller

Von Hauke Thoroe

Gründungsurkunde der DFG-VK von 1974 mit der Unterschrift Niemöllers als Präsident

Als einer von wenigen Prominenten hat Martin Niemöller einen festen Platz in der Erinnerungskultur der DFG-VK. Auch aus dem Gedenkkanon der Bundesrepublik ist der Dahlemer Pfarrer nicht wegzudenken. Er sei widerständig gegen die Judenverfolgung gewesen und habe nach 1945 einen großen Beitrag zur Anerkennung und Aufarbeitung der deutschen Schuld geleistet. Nach der Lektüre der 600 Seiten starken Biografie „Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition“ (München 2019) von Benjamin Ziemann drängt sich einem der Schluss auf, dass dies eine sehr wohlwollende Interpretation sein könnte. Triggerwarnung: Der Text zitiert antisemitische Hetze.

Der Autor Benjamin Ziemann ist Professor für Neuere deutsche Geschichte an der englischen Universität Sheffield. Er forscht zu kirchlichen und militärischen Themen. Bei der Betrachtung Niemöllers liegt sein Hauptaugenmerk auf dem Kirchenkampf. Niemöllers Zeit in der Friedensbewegung schenkt der Autor verhältnismäßig wenig Beachtung. Im Archiv der DFG-VK ist er nicht gewesen, diesen Bereich rekonstruiert der Autor aus anderswo archivierten Briefwechseln und Tagebucheinträgen. Das ist schade, aber vielleicht verständlich. Denn Niemöller ist ja nicht berühmt, weil er in der DFG-VK war, sondern als Prominenter zur Friedensbewegung dazu gestoßen.

Ich habe versucht, ein angemessenes Resümee zu formulieren. Leider lässt mich die Lektüre der Biografie vor allem verstört zurück. In der Geschichtswissenschaft findet eine breite Kontroverse statt, welche Formen von Dissidenz in Nazi-Deutschland als „Widerstand“ gelten sollen und welche lediglich als „Verweigerung“ zu bewerten seien. Angesichts dessen, dass man im Nationalsozialismus auch bei „Verweigerung“ ruckzuck tot sein konnte und diese Niemöller letztlich auch für sieben Jahre in „Schutzhaft“ brachte, habe ich deutliche „Beißhemmungen“, mir ein Urteil anzumaßen. 

Damit eine historische Person zur Figur der Zeitgeschichte wird, ist neben dem konkreten Wirken des jeweiligen Menschen auch die Rezeption durch Öffentlichkeit und Publikum entscheidend. Dieses Publikum ist (mittlerweile mehrheitlich) genau wie ich mit der „Gnade der späten Geburt“ gesegnet. Deshalb frage ich mich, warum Niemöllers Fans ihn nicht kritischer hinterfragt haben. Benjamin Ziemann zeigt auf, dass es dazu reichlich Anlass gegeben hätte.

Widerstand gegen die Judenverfolgung?

Das öffentliche Bild von Niemöller als Kämpfer gegen die Judenverfolgung stützt sich vor allem auf die angebliche Ablehnung des sogenannten „Arierparagrafen“. Das antisemitische „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde im April 1933 erlassen und schloss unerwünschte Personen vom Öffentlichen Dienst aus. 

Der Protest hiergegen brachte Niemöller von 1938-45 ins Konzentrationslager, zunächst nach Sachsenhausen und dann bis 1945 nach Dachau. Dabei war Niemöller 1933 keinesfalls eine grundsätzliche Gegner*in des Nationalsozialismus, im Gegenteil, er war ein „Sympathisierender mit der NSDAP“ der die NS-Politik unterstützte (S. 372; hier und im Folgenden beziehen sich die angegebenen Seitenzahlen immer auf die Ziemann-Biografie). 

Bereits in den 1920-ern war Niemöller in antisemitischen Vereinen aktiv, die als Juden konstruierte Menschen ausschlossen (S. 407). Im Laufe des Jahres 1932 wandelte sich durch die Beschäftigung mit Luthers „Judenschriften“ Niemöllers Ressentiment von einem völkischen Antisemitismus zu einem mittelalterlich anmutenden Antijudaismus ganz im Sinne des Reformators (S. 201 ff. und S. 222-223). 

In Widerspruch zum NS-Regime geriet Niemöller, als die evangelische Kirche am 6. September 1933 beschloss, den „Arierparagrafen“ auch im kirchlichen Raum anzuwenden. Dagegen protestierten Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller. Ihre Erklärung interessierte sich jedoch de facto bloß für die 18 betroffenen Pfarrer und schweigt zur Entrechtung von 300 000 Betroffenen im Öffentlichen Dienst (S. 200). Ziemann schreibt: „Solidarität mit den Deutschen jüdischen Glaubens war von ihm – wie den allermeisten Mitgliedern des Notbundes – nicht zu erwarten“ (S. 223).

Deshalb forderte das Dahlemer Gemeindemitglied Prof. Dr. Elisabeth Schliemann mit einem Brief Niemöller auf, sich ebenfalls zur Diskriminierung von Juden außerhalb der Kirche zu äußern. Niemöller lehnte ab. Er antwortete, dass „die Kirche vom Staat nichts anderes zu fordern [habe], als dass er der Verkündung keine Hemmnisse bereitet und die Kirche Kirche sein lässt (…) Die Kirche predigt nicht dem Staat in seine (gerecht oder ungerecht angewandte) Gewalt hinein, auch nicht in der Judenfrage (…).“ Und er fügte hinzu, dass er das „Recht unseres Volkes bejahe, sich gegen einen übergroßen und schädlichen Einfluss des Judentums nachdrücklich zu wehren, der meines Erachtens dagewesen ist“ (S. 205).

Bereits im Herbst 1933 relativierte Niemöller auch die Solidaritätsverpflichtung in dem von ihm selbst mitverfassten Gründungsmanifest des Pfarrernotbundes (S. 206). In dem Aufsatz „Sätze zur Arierfrage“ schrieb er, dass „die bekehrten Juden als durch den heiligen Geist vollberechtigte Glieder“ der Kirche „anzuerkennen“ seien. An der „Gemeinschaft der Heiligen“ bestehe kein Zweifel. Es gäbe allerdings Grenzen für die Anerkennung der Rechte getaufter Juden: „Wir als Volk [haben] unter dem Einfluss des jüdischen Volkes schwer zu tragen gehabt“, und so erfordere die Anerkennung der Gleichheit aller Getauften in diesem Fall erhebliche „Selbstverleugnung“ (S. 206). Von kirchlichen „Amtsträgern jüdischer Abstammung“ müsse man deshalb die „gebotene Zurückhaltung“ verlangen. Pfarrer „nichtarischer Abstammung“ sollten kein „Amt im Kirchenregiment oder eine besonders hervortretende Stellung in der Volksmission“ einnehmen (S. 206). 

Auf einer Synode im Herbst 1933 beschloss der Pfarrernotbund folgerichtig, sich nicht gegen die Ausgrenzung der als Juden verfolgten Menschen aus dem öffentlichen Leben zu stellen: „Die Taufe begründet freilich für niemanden irdische Ansprüche und Rechte“ (S. 269). Die Synode diskutierte sogar, ob man noch klarstellen solle, dass die Taufe „kein weltliches Bürgerrecht“ verleihe, beließ es aber bei der ursprünglichen Formulierung.

Nach 1945 verbreitete Wilhelm Niemöller das Narrativ, die Beteiligung seines Bruders Martin 1935 an der Denkschrift der „2. Vorläufigen Kirchenleitung“ sei der entscheidende Schritt der Bekennenden Kirche von der „Verweigerung“ zum „Widerstand“ gewesen (S. 282, 307). 

Professor Ziemann zeigt hingegen auf, dass es ausgerechnet Martin Niemöller war, der durch seine Interventionen immer wieder verhinderte, dass die Bekennende Kirche den Schritt von der Verweigerung zum Widerstand vollzog (S. 283). Niemöller sorgte dafür, dass die Denkschrift entschärft und durch das NS-Regime unterstützende Passagen ergänzt wurde (S. 282). Er positionierte sich gegen die Veröffentlichung in der Presse. Nachdem ausländische Medien sie trotzdem druckten, sorgte Niemöller hinter den Kulissen dafür, dass die Denkschrift in den Kirchen in einer nochmals entschärften Variante verlesen wurde (S. 281). Dies hielt die Niemöllers nach dem Krieg jedoch nicht davon ab, aus Martins Beteiligung an der Denkschrift einen Höhepunkt des Widerstandes zu konstruieren (S. 282).

„Lichtgestalten“ der DFG

Die Geschichte der DFG(-VK) kennt einige bedeutende Persönlichkeiten. Als erste natürlich die beiden, die die Deutsche Friedensgesellschaft 1892 in Berlin maßgeblich gründeten: Bertha von Suttner (1843-1914) und Alfred Hermann Fried (1864-1921). Daneben den langjährigen DFG-Vorsitzenden Ludwig Quidde (1858-1941), den zeitweiligen DFG-Sekretär Carl von Ossietzky (1889-1938) und – als Ehrenmitglied – Albert Schweitzer (1875-1965); alle geehrt mit dem Friedensnobelpreis.
Eine wichtige Person war Martin Niemöller (1892-1984). Marineoffizier in der kaiserlichen Marine, evangelischer Pastor, deutschnational und NSDAP-Wähler, Führungsmitglied der Bekennenden Kirche in der Nazi-
Zeit,  KZ-Häftling als „persönlicher Gefangener des Führers“ von 1938 bis 1945, Kirchenpräsident einer Landeskirche und einer der Präsidenten des Weltkirchenrates. Und: Atomwaffengegner, Pazifist, seit 1957 Präsident der DFG, seit 1958 auch der Internationale der Kriegsdienstgegner, dann der DFG-IdK, schließlich ab 1974 der DFG-VK und von 1976 bis zu seinem Tod Ehrenpräsident.
Die Deutsche Verlagsanstalt bewirbt die bei ihr 2019 erschienene Niemöller-Biografie so: „Das Leben einer Jahrhundertgestalt: die erste umfassende Biografie“. (Benjamin Ziemann: Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition, München 2019; 640 Seiten; 39 Euro. Besprechungen z.B. von Michael Heymel https://bit.
ly/2MLAiSa
und Karl-Heinz Fix https://bit.ly/3cN6cs7)
Die Lektüre dieser Biografie kann aber auch „verstörend“ sein – gerade für DFG-VK-Mitglieder und vielleicht besonders für solche, die noch nicht schon Jahre im Verband sind, so wie unser Autor Hauke Thoroe. 
Grund genug, die Diskussion anzustoßen mit dem Beitrag von Hauke Thoroe und dem daran anschließenden Brief von Stefan Philipp.

Antisemitismus nach 1945

Auch nach 1945 äußerte Niemöller sich immer wieder antisemitisch. 

1946 schrieb er einen Offenen Brief an Frederik J. Forell, den Leiter des Emergency Committee for German Protestantism. Niemöller behauptete darin, dass die Bewohner*innen der britischen Zone in den letzten Tagen „nur 700 Kalorien“ bekommen hätten. „Das bedeutet weniger als die niedrigste Ration, von der man jemals in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager berichtet hat.“ Die Folge sei „Verhungern im eigentlichen Sinne“ (S. 374). Weiter versuchte er mit wilden Zahlenspielen zu suggerieren, dass seit der Kapitulation des „Dritten Reiches“ im Mai 1945 „mindestens 6 Millionen Deutsche verschwunden“ seien. Hinter all dem stehe nichts anderes als „die praktische Durchführung des Morgenthau-Planes mit der Absicht, ein ganzes Volk bis zu seinen Wurzeln auszurotten“. Die Herrschaft der Alliierten über Deutschland sei letztlich nur eine Fortsetzung der „Terrorherrschaft der Gestapo“ (S. 374).

Auch im Ausland nahm Niemöller kein Blatt vor den Mund. Am 7. März 1946 sagte er in Zürich beim „Schweizerischen Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland“: „Es besteht ein neuer Antisemitismus in Deutschland, der aber nichts mit den zurückwandernden Juden zu tun hat. Er ist dadurch entstanden, dass die Amerikaner die Entnazifizierung durch Juden ausführen lassen“ (S. 381). 

Auf einer Pressekonferenz 1947 in New York erklärte er hingegen, dass es in Deutschland keinen Antisemitismus mehr gebe. 

Auf derselben Amerika-Reise gab Niemöller der deutsch-jüdischen Zeitung „Aufbau“ ein Interview. Er wurde gefragt, was nach Deutschland zurückkehrende Juden erwarte. Niemöller antwortete mit der rhetorischen Frage, was die Juden denn im „überfüllten und verarmten Deutschland“ tun sollten, „vorausgesetzt, dass sie nicht Bauern werden wollen?“ (S. 381). Prof. Ziemann schreibt dazu, dass der Antwort das aus völkischen Vorstellungen stammende antisemitische Stereotyp zugrunde liege, dass Juden zu harter körperlicher Arbeit weder willens noch fähig seien (S. 380). 

Nach der Rückkehr aus den USA wurde Niemöller auf einer Pressekonferenz ebenfalls nach dem Antisemitismus in Deutschland gefragt. Niemöller antwortete, der Antisemitismus sei in Deutschland „totgeschlagen worden“, als 1938 die Synagogen brannten. Aber in den letzten Monaten sei der Antisemitismus als „allgemeines Gefühl“ wieder hervorgetreten, wie es ihn auch vor 1933 gegeben habe. „Der Grund dafür?“ Dass „überall in den amerikanischen Stellen (…) Juden sitzen. Wir müssen das Kind doch beim Namen nennen. (…) Wenn ich als Jude von Amerika nach Deutschland herüber ginge, nachdem ich dem Gemetzel unter Hitler entgangen bin, würde ich auch in Hasspolitik und Rachepolitik machen, vorausgesetzt, dass ich nicht Christ bin“ (S. 380). 

Auch im Herbst 1947 beklagte sich Niemöller gegenüber Ewart Turner, dass die Lebensmittelrationen auf 100 Gramm Fleisch pro Woche gekürzt worden seien. Normalverbraucher würden also in den kommenden Monaten sterben. Es werde „jener Jude (in der US-Militärverwaltung – Anmerkung der Verfasser*in) recht behalten, der meine Frage danach, was mit den zu vielen Menschen in der westlichen Zone passieren werde, sagte: ,Keine Sorge, wir kümmern uns darum, dieses Problem wird in einer recht natürlichen Weise gelöst werden!‘“ (S. 381-382).

Ähnliche Gedanken prägten auch Niemöllers Alltagshandeln. Im Juni 1946 geriet er mit Wilhelm Beez aneinander. Dieser war Landrat und Kreisvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) und in dieser Position für die Verteilung von „Care“-Paketen zuständig. Landrat Beez war vom SPD-Ortsverband Büdingen zugetragen worden, dass Niemöller dem Kaiserenkel Prinz Hubertus von Preußen, der Fürstenfamilie Ysenburg und lokalen Nazi-Größen für Opfer des NS-Regimes bestimmte Lebensmittel zuschanzte. Beez strich deshalb Niemöller von der Verteilerliste. Niemöller war empört: „Sie unterstützen wohl nur Judenfreunde?“ (S. 375). 

Der Vorfall sprach sich herum, und der „Spiegel“ bat Niemöller um eine Stellungnahme. Niemöller wiederholte seinen Vorwurf öffentlich und bekräftigte, diesen beweisen zu können. Das brachte das Fass zum Überlaufen, und die VVN setzte Niemöller ganz vor die Tür. Niemöller reagierte uneinsichtig. In einem Vortrag im August in der Büdinger Kirche sagte er, die „Angriffe“ auf ihn seien „wie in den vergangenen 15 Jahren üblich“ abgelaufen und warf damit die VVN mit dem Naziregime in einen Topf (S. 375). 

Die sich hier andeutende Transformation vom völkischen Antisemitismus über einen lutherischen Anti-Judaismus zur kulturellen Judenfeindlichkeit setzte sich bei Niemöller bis ins Alter fort. 1962 schlug ihm Helmut Gollwitzer vor, gemeinsam am 9. November an den Gedenkveranstaltungen in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, teilzunehmen. Doch Niemöller behauptete, keine Zeit zu haben. Denn am 9. November beginne auch die Jahrestagung der Deutschen Friedensgesellschaft. Im folgenden Jahr fragte Gollwitzer erneut. Diesmal müsse er nach London, sagte Niemöller. Warum die Kirche ein Interesse an Israel haben solle, sei ihm „schleierhaft“. Und dass sich die Araber*innen durch den „jüdischen Staat“ gefährdet und attackiert sehen“, das könne er „ihnen nicht übel nehmen“ (S. 505). 

1967 verschärfte Niemöller dieses Argument noch gegenüber Elsa Freudenberg, um deren jüdische Abstammung er wusste. Er sei der Überzeugung, dass er, „wenn er Araber wäre, bestimmt Antisemit wäre, weil hier ein fremdes Volk auf meinem Boden einen Staat gegründet hat, den meine Väter seit 1 200 Jahren bewohnt haben“. Elsa Freudenberg konterte, dass das nur ein Spiel mit Worten sei, dass der Hass der Araber sich nur „gegen den Staat Israel richtet und nicht gegen den einzelnen Juden“ (S. 506).

Anerkennung der deutschen Schuld?

Angesichts dieser Befunde muss man auch die Stuttgarter Schulderklärung von Herbst 1945 und Niemöllers Engagement dafür kritisch betrachten. In der gängigen Geschichtserzählung betonen seine Fans, dass Niemöller maßgeblich hinter der „Stuttgarter Erklärung“ gestanden habe. Diese Erklärung ist in der Geschichtserzählung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bis heute zentral, wenn es um den Neuanfang nach 1945 geht.

Niemöller argumentierte tatsächlich für ein Schuldbekenntnis und warb auch für die Stuttgarter Erklärung. Jedoch sticht der instrumentelle Charakter hervor (S. 400). 

Im Spätsommer 1945 sagte er auf einer Tagung des Reichsbruderrates (Leitungsgremium der Bekennenden Kirche), die das vorbereiten sollte, was später als „Stuttgarter Erklärung“ bekannt wurde, man solle den anklagenden Hinweis auf die Besatzungsmächte „noch“ unterlassen, denn „die Amerikaner hören es noch nicht“. Er betonte, dass die Deutschen erst dann keine „Hohn- und Spottlieder der Welt“ mehr hören würden, wenn sie ein hinreichendes Zeichen der Einsicht in ihre Schuld abgelegt hätten (S. 400). 

Der dann im Herbst 1945 verabschiedete Text des Stuttgarter Bekenntnisses ist sehr kurz. Er umfasst drei Absätze. Die Erklärung betont zunächst die deutsche Schuld und nennt die Nazi-Taten folgendermaßen: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ 

Bereits im zweiten Absatz stellt sich die Kirche als Hort des Widerstandes dar: „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist [des NS] gekämpft“.

Im dritten (und letzten) Absatz wird mit vorher erzeugter moralischer Legitimität postuliert, dass nur durch den „gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt und Vergeltung der heute von neuem mächtig werden will“ begegnet werden könne.

Mit dieser Floskel von der Vergeltung werden die Alliierten in ein Fass mit den Nazis geworfen und der Aufarbeitung der Verantwortung für die Nazi-Verbrechen eine Absage erteilt. Aus dem großspurigen Verweis auf die Lehren aus der Vergangenheit wird die Legitimation abgeleitet, sich überall einmischen zu dürfen.

Die deutsche Außenpolitik basiert bis heute auf diesem Trick. Die Stuttgarter Erklärung ist in meinen Augen somit ein frühes Beispiel von „Aufarbeitungsweltmeisterei“.

Von 1945 bis zum Bekanntwerden seiner antisemitischen Ausfälle in den USA 1947 war Niemöller fast non-stop unterwegs, um für die Stuttgarter Erklärung zu werben. Diese Veranstaltungen wurden oft von Deutschen gestört, für die bereits die Vorstellung, dass an den vergangenen 12 Jahren überhaupt irgendwas schlecht außer der Niederlage gewesen sei, zu viel war. Benjamin Ziemann schreibt, dass Niemöllers Reden keinem festen Skript folgten und nur aus Zeitungsartikeln und Mitschriften der Zuhörenden dokumentiert sind. Die Reden seien regelmäßig um seinen bekanntesten Spruch oder ähnliche Figuren orientiert gewesen: 

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Mit dem Wissen um Niemöllers Gedankenwelt sticht ins Auge, dass Prof. Ziemann schreibt, dass er keine einzige von Niemöller autorisierte Fassung finden konnte, in der die verfolgten Juden in das bekannte Zitat eingeschlossen sind (S. 521). Prof. Ziemann stellt außerdem heraus, dass im Gegensatz zum obigen Zitat Niemöllers Schuld nicht im Schweigen bestanden habe. Niemöller „schwieg keinesfalls zur Verfolgung von Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen (…), sondern er bekämpfte die Mitglieder dieser Parteien.“ (S. 521).

Wie ambivalent Niemöllers Schuldbekenntnis war, zeigen weitere Zitate. Noch 1947, zwei Jahre nach dem Stuttgarter Bekenntnis, schrieb Niemöller einen Essay gegen das „Märchen von der deutschen Kollektivschuld“. Er bezichtigt die Amerikaner eines „gewollten Massenmordes an einem Volke“. Denn die Amerikaner hätten keine Demokratie nach Deutschland gebracht, und seit Kriegsende seien „mehr deutsche Menschen verschwunden und umgekommen“ als während der zwölf Jahre des „Hitler-Terrors gemordet wurden, einschließlich der angeblich 6 Millionen verschwundenen Juden“ (S. 490).

Völkische Motivation für die Friedensbewegung

Eine völkisch-nationalistische Sichtweise zeigt sich auch bei Niemöllers Engagement in der Friedensbewegung. 

Niemöller postulierte 1958 Sätze wie „Das deutsche Volk ist dem sicheren Atomtod ausgeliefert“ oder „Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht“ (S. 458).

Zitate aus einem Text von 1951 gegen die Wiederbewaffnung zeigen, dass der Begriff „Volk“ hier nicht nur Floskel ist. Die „Not der Deutschen“ sei, dass ihr Land „entweder Kriegsschauplatz oder Brücke“ sein werde. Durch den Kalten Krieg seien die Deutschen „nur noch Objekte“ für „die Pläne anderer Mächte“. Wenn die Deutschen der Logik des Kalten Krieges folgten und sich für eine Seite entschieden, würde sie nur die „Verewigung unserer Not“ und „der Unfreiheit“ erreichen (S. 435). Niemöller fühlte sich hier ganz im Einklang mit der Bevölkerung, denn die Ablehnung der Wiederbewaffnung sei national, wo nicht ausgesprochen nationalistisch motiviert“ (S. 435). 

Prof. Ziemann schließt daraus, dass Niemöller die Wiederbewaffnung ablehnte, weil sie multinational im Bündnis mit anderen Staaten gedacht wurde und nicht als nationale deutsche Armee. 

Einer völkischen Argumentation zur Wiederbewaffnung, die „Freiheit“ nicht als Freiheit des Einzelnen definiert, sondern als nationale Bestimmung, kann ich wenig abgewinnen. Ich bezweifle, dass ein solcher Freiheitsbegriff eine Grundlage für eine emanzipatorische Politik, die Gewalt zwischen Menschen und Staaten abbaut, sein kann. 

Unverständlich ist für mich, dass Niemöller nie mit der Kadetten-Crew von 1910 brach. Die Offiziere der Marine betrachteten ihre „Crew“ als Lebensbund und pflegten ihre Kameradschaft in jährlichen Treffen, bei denen gemeinsam gesoffen und gefressen wurde. 

In der 1910 beginnenden Offiziersausbildung segelte Niemöller u.a. mit Dönitz und 13 weiteren späteren Admirälen der NS-Kriegsmarine. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher*innen war es Niemöller, der in einer Zeugenaussage beschwor, dass der Oberbefehlshaber der Marine und letzte deutsche Reichskanzler Karl Dönitz selbstverständlich nichts von den Konzentrationslagern gewusst haben könne (S. 506). 

Es gab zwar einigen Streit und Ärger in der Crew, nachdem Niemöller zu Unrecht vorgeworfen wurde, die Offiziersausbildung als „Hohe Schule des Berufsverbrechertums“ bezeichnet zu haben, und Niemöller damit konterte, dass Dönitz und die anderen nicht genug getan hätten, um ihn trotz zweifelsfreier nationaler Gesinnung aus dem KZ frei zu bekommen, doch auch noch 1980 besuchte er das „Crew-Treffen“ in Kiel. 

Die Verleumdung Georg Elsers

Verstörend ist auch die Verleumdung Niemöllers eines anderen „persönlichen Gefangenen des Führers“. Im Januar 1946 sprach er vor Göttinger Student*innen über den „SS-Unterscharführer Georg Elser“ der angeblich „1939 das Attentat im Bürgerbräukeller auf Hitlers persönlichen Befehl durchzuführen hatte“ (S. 412). Angehörige Elsers suchten daraufhin die Auseinandersetzung mit Niemöller. Dieser kanzelte sie ab und rechtfertigte seine verunglimpfenden Lügen mit von ihm mitangehörten Gesprächen der SS-Wachmannschaft im KZ Dachau.

Trotz gegenteiliger Forschungsergebnisse hielt er den Lagertratsch der SS-Schergen für glaubwürdiger und verunglimpfte Georg Elser bis in die 1970-er Jahre folgendermaßen: „Hiermit möchte ich deutlich machen, dass hinter dem Willen [Elsers – Anm. des Verf.] kein Ethos stand, auch nicht eine Null oder ein Nichts, sondern ganz einfach das, was man in der Menschheit einen verbrecherischen Willen nennt: keine Seele, keine Verantwortung.“

Ulrich Renz vom Georg-Elser-Arbeitskreis Heidenheim bezeichnet Niemöller sogar als „Hauptverursacher eines falschen Elser-Bildes“ (Ulrich, Renz: Der Fall Niemöller. Heidenheim 2002, im Internet einsehbar unter https://bit.ly/3jCm02B). 

Ziemann schildert, dass bei einer großen Ökumene-Veranstaltung 1952 in Indien der deutsche Bischof Hanns Lilje statusbewusst trotz tropischer Temperaturen in schwarzem Bischofskleid schwitzend herumlief und sich bei der Essensausgabe wie selbstverständlich vordrängelte, während Niemöller, in heller Hose und Hemd, sich wie alle anderen hinten anstellte und beim Essen auf dem Boden saß (S. 494). Einen deutschen Faschisten stellt man sich anders vor. 

Der „friedensbewegte“ Niemöller

Benjamin Ziemann beschreibt, dass es weniger Niemöllers Rolle als „Lichtgestalt“ gewesen sei, die für die Friedensbewegung wichtig gewesen sei. Viel mehr habe u.a seine Theologie ermöglicht, das sich Kirchen den Anliegen der Friedensbewegung geöffnet habe und so breite Bündnisse, an denen sich viele Menschen beteiligen, gesellschaftlich möglich wurden. Auch sei es der deutschen Friedensbewegung durch Niemöllers Engagement in der Ökumene gelungen, ihren Eurozentrismus zu überwinden und Frieden als ein Ziel zu begreifen, das nur im Rahmen der „Menschheitsfamilie“ erreicht werden könne (S. 470). Ziemann deutet Niemöller zudem als die zentrale Person, die die DFG-VK für die Unterwanderung durch die DKP geöffnet habe, da alle Menschen gleich seien, wenn sie sich nur für den Frieden engagieren wollen.

Ziemann beschreibt, wie Niemöller im Laufe der Jahre durch den „Atomschock“ und seine Mitarbeit in der Ökumene seinen Antibolschewismus ablegt. Die Aufgabe des Antibolschewismus ging letztlich so weit, dass Niemöller 1976 versuchte, Pastoren in der DDR zu erklärten, dass der Sozialismus die einzige gerechte Gesellschaftsordnung sei und Milliardäre enteignet werden sollten (was in einem Tumult endete (S. 503)). An seinem Lebensende konnte er mit seiner fundamentalistischen Theologie vermutlich selber nicht mehr viel anfangen, wie er mehrmals andeutete (S. 503). 

Unterstützung des Vietcong in seinem „gerechten Krieg“

An seinem Lebensende verortete sich Niemöller selbst schließlich weit links der Kommunist*innen (S. 503). Der späte Niemöller sah sich als „Revolutionär“ und warb z.B. beim Bundeskongress der DFG-VK 1972 für eine Unterstützung des Vietkong: „Wenn Sklaven sich wehren, ist das gerechter Krieg. Wir machen zwar nicht mit, aber unsere Sympathie ist beim vietnamesischen Volk“ (471). 

Man beachte die erneuten und auch im hohen Alter auftretenden Argumentation mit einem völkischen Referenzrahmen, der Sklaventum nicht an einer individuellen Positionierung in einer Gesellschaft festmacht, sondern an der Souveränität eines angeblichen Volkes und der Abwesenheit von fremder Besatzung. Und bei der Floskel vom gerechten Krieg stellen sich mir die Nackenhaare auf.

Mein Bild von Niemöller ist ein gespaltenes. Die Niemöllers, der eine Parteimitglied, der andere begeisterter Wähler Hitlers, deuteten nach 1945 ihre religiöse Verweigerung im NS-Regime zu politischem Widerstand um, und verschwiegen, dass genau sie es waren, die verhindert hatten, dass aus der religiösen Verweigerung der Bekennenden Kirche politischer Widerstand geworden war. Gleichzeitig verunglimpfte Martin Niemöller mit Georg Elser einen der wenigen Menschen, die tatsächlich die Courage hatten, Widerstand zu leisten. Er war auch nach 1945 bereit, Gräuelmärchen aus Nazi-Propaganda und an andere Verschwörungstheorien zu glauben, und verbreitete diese öffentlich. Und dass seine Fans dem nicht widersprochen haben, ist auch Teil des Gesamtbildes.

Kein aufrechter Bekenner

Niemöller stützte seine Theologie auf den zentralen Begriff des „Bekennens“. Mit dem Schuldbekenntnis schließt er an diese rhetorische Figur an. Da ist es irritierend, dass er sowohl in der Nazizeit (S. 305) als auch danach kontinuierlich bereit war, seinen Lebenslauf zu schönen, wenn es ihm opportun erschien. Die Umdeutungen rund um die 2. Denkschrift der vorläufigen Kirchenleitung habe ich schon erwähnt (S. 307 ff.). Niemöller strickte die Legende, das er im KZ eine Freilassung gegen Widerruf abgelehnt habe, obwohl es genau umgekehrt war (S. 315). Seine Meldung zur Marine aus der Haft redete Niemöller nach 1945 erst damit schön, dass er nur in Freiheit habe Christ sein können, obwohl eindeutig seine nationalistische Weltanschauung der Grund war (S. 325). Als das nicht verfing, erfand er die Story, dass er sich dem militärischen Widerstand habe anschließen wollen. Quellenkritisch betrachtet kann er von diesem aber nicht gewusst haben (S.325, 362). 

Fast schon unterhaltsam ist auch das zeitgenössische Vor und Zurück um das Debakel mit dem Besuch bei Hitler 1934 (S. 221 ff.). Der Besuch mündete in ein Debakel. Hitler beschloss danach, den Bischof, gegen den die Bekennende Kirche opponierte, noch mehr zu unterstützen. Niemöller redete in der Folge seinen Beitrag möglichst klein. Nach 1945 macht er aus dem Patzer jedoch eine heldenhafte Widerstandsgeschichte mit ihm in der Hauptrolle (S. 221 ff.). 

Auf dem Höhepunkt des erwähnten Skandals mit der VVN, der angeblich „nur Judenfreunde“ unterstütze, behauptet Niemöller, dass er, der „Kämpfer für Recht und Wahrheit“ sich nach „anfänglicher Sympathie“ bereits nach der Ermordung eines kommunistischen Arbeiters und Gewerkschafters im oberschlesischen Dorf Potempa durch eine Gruppe uniformierter SA-Männer im August 1932 „von der NSDAP“ abgewandt habe (S. 377). Seine Fans ignorierten all dies, obwohl er mehrmals von Medien bei so offenkundigen Lügen wie der Story mit Potempa ertappt wurde. 

Die Martin-Niemöller-Stiftung behauptet noch heute, im „Als sie die Kommunisten holten“-Zitat kämen Juden nicht vor, weil Niemöller diese nicht habe nennen können, weil „die große Verfolgungswelle“ erst eingesetzt habe, als er schon im KZ gewesen sei
(https://bit.ly/3tCJKYE)
. Dieses Argument lässt sich schnell entkräften: Die Verfolgung der Juden ging gleich 1933 in der ersten Woche nach der Machtübertragung mit einem gewalttätigen Boykott los, und die Reichspogromnacht dürfte selbst in Sachsenhausen erfahrbar gewesen sein. Interessanter ist aber der Zusammenhang: Von der Judenverfolgung soll Niemöller im KZ nichts mitbekommen haben, während er gleichzeitig über den militärischen Widerstand im Bilde gewesen sein will?

Auch das häufig benutzte Argument, dass Niemöller ein Kind seiner Zeit gewesen sei, und man deshalb Verständnis für seine Äußerungen haben müsse, halte ich für Verharmlosung. In Niemöllers Umfeld gab es Menschen, die denselben Zeitumständen und Bedrohungen ausgesetzt waren und trotzdem darauf beharrten, dass alle Menschen Menschen seien (das schreibe ich hier so plakativ, denn genau darauf, diese einfache Erkenntnis zu negieren, läuft Antisemitismus und die Zustimmung zur Machtübertragung hinaus). In der Bekennenden Kirche gilt dies z.B. für Franz Hildebrandt, Karl Barth, Gerhard Jacobi, Christa Müller, Georg Schulz, Elisabeth Schmitz und Elisabeth Schiemann, die bereits 1933 Niemöller und der antisemitischen NS-Politik widersprachen (S. 209 und S. 223). 

Aus der Crew von 1910 gilt dies für den Kapitänleutnant (und späteres DFG-Mitglied) Heinz Kraschutzki, dem die Einsicht bereits im Ersten Weltkrieg kam und der sich aktiv an der Novemberrevolution beteiligte (aber weiterhin an den Crew-Treffen teilnahm). Auch die bereits 1916 erfolgte Aufsehen erregende Entfernung des Kapitänleutnants Hans Paasche (Crew von 1899) aus der kaiserlichen Flotte dürfte dem Marineoffizier Niemöller zu Ohren gekommen sein. Niemöller selbst trat dem Argument von den Zeitumständen entgegen, wenn er Heinz Kraschutzki später so vorstellte: „Das ist mein alter Marinekamerad Kraschutzki. Ihm hat schon der Erste Weltkrieg die Augen geöffnet über das Wesen des Militarismus. Bei mir war leider noch ein Zweiter nötig.“ (Ralph Giordano: Rufer in der Wüste. In: Die Zeit, 10.6.1999).

Zu einem aufrechten Bekenner hätte gehört, dass Niemöller seine Vergangenheit konsistent aufarbeitet. Das tat er jedoch nicht. Gleichzeitig stritt Niemöller in späten Jahren für eine gerechtere Welt, wo er konnte. Der Wandel der Einstellungen und Überzeugungen Martin Niemöllers ist nicht im Sinne eines Saulus-Paulus-Erlebnisses passiert. Ich denke, man sollte sich Niemöllers Einstellungswandel eher wie einen kontinuierlichen lebenslangen Prozess vorstellen. Da Niemöller auch immer mehr oder weniger in seinen alten Vorstellungen festhing, dürfte ihm das aufrechte Bekennen zu seiner Vergangenheit so schwer gefallen sein. 

Zu Niemöllers Geschichte gehören jedoch auch die Fans, die nicht genauer nachfragten oder es gar nicht so genau wissen wollten, wenn Niemöller für peinliche Details schnell mal eine Ausrede konstruierte. 

Uns sollte das Beispiel Niemöller mahnen, auch bei „großen“ Männern (und Frauen) genau hinzuschauen. Auch unsere eigene Blendung beim Betrachten von vermeintlich beeindruckenden Vorbildern müssen wir immer wieder hinterfragen. Denn charismatische Anführer*innen sind nichts ohne ihre Fans, die sie kritiklos beklatschen.

Hauke Thoroe ist aktiv im DFG-VK-Landesverband Berlin-Brandenburg.

Kategorie: Pazifismus, Rezensionen Stichworte: 202101, DFG-VK, Geschichte, Judenverfolgung, Nazizeit, Niemöller, Präsident, Ziemann

28. Dezember 2020

Klaus Moegling: Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich.

Opladen, Berlin, Toronto 2020; 3., aktualisierte und erweiterte Auflage; 358 Seiten; 34,90 Euro

„Eine friedliche Welt ist (noch) möglich“

Ausgabe 5/2020

Literatur-Empfehlung

Während die AkteurInnen und Akteure für Frieden, Solidarität und Nachhaltigkeit in ihrer Argumentation und ihrem Engagement verständlicherweise auf ihren jeweiligen Bereich fokussieren, versucht der Kasseler Gesellschaftswissenschaftler Klaus Moegling, die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Perspektive bewusst zu machen. Politische, ökonomische, ökologische, zwischenmenschliche und psychische Ordnungen seien in einem umfassenden Sinne in einer Verbindung zu begreifen. So schildert er beispielsweise in eindrücklicher Weise die ökologischen Folgen von Kriegen und Rüstung und sieht einen langfristigen Bedeutungsgewinn der internationalen Umweltbewegung der jungen Generation, wenn diese in ihrem Engagement Kontakt zur Friedensbewegung aufnimmt, was auch umgekehrt gelten dürfte.

Die Breite der fundierten Problemanalyse ökonomischer Strukturen, über das Erstarken autoritärer Herrschaftsformen, Hegemoniestreben der Großmächte mit ihren Stellvertreterkriegen, ökologischen Krisen bis hin zu kulturellen und psychischen Krisen aber auch der vielen daraus herausführenden Initiativen machen dieses Buch zu einem gut lesbaren Kompendium für Menschen, die sich mit dem Status quo nicht zufrieden geben wollen. Auch wenn man/frau sich dann wieder auf ein Projekt konzentrieren sollte, ist der Blick aufs Ganze, das Wissen um die anderen Baustellen und ihren Interdependenzen von großer Bedeutung auf dem Weg zu einer menschenfreundlichen Neuordnung.

Ein besonderes Gewicht legt der Autor auch auf die Neuordnung des Systems internationaler Beziehungen, indem er die Bausteine für die Entwicklung einer Global Governance erläutert und kurz-, mittel- und langfristige Entwicklungsschritte für die kommenden fünfzehn Jahre beschreibt. Insofern ist dieses bereits in dritter, aktualisierter Auflage erschienene Buch eine große Hilfe, den Blick zu weiten, aber auch um Zielperspektiven zu bekommen, auf die es sich hinzuarbeiten lohnt – ein wichtiges Grundlagenbuch für jegliche politische Arbeit und für das Studium gesellschaftswissenschaftlicher Fächer.

Dass von der Evangelischen Landeskirche in Baden mit dem im April 2018 veröffentlichten Buch „Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik.“ ein Szenario bis zum Jahr 2040 beschrieben ist, das mit vielen der von Moegling aufgezeigten Zielen identisch ist, jedoch noch zusätzlich einen konkreten, in Deutschland beginnenden politischen Realisierungsweg dorthin beschreibt, könnte in der erwünschten 4. Auflage von „Neuordnung“ noch ergänzt werden. Auch dass sich dafür 15 bundesweite Friedensorganisationen (BSV, DFG-VK, Eirene, IPPNW, Ohne Rüstung leben, Pax Christi u.a.) dafür zu einer Kampagne zusammengeschlossen haben, zeigt den verbreiteten starken Veränderungswillen zu einer friedlicheren Neuordnung.

Theodor Ziegler

Kategorie: Rezensionen Stichworte: 202005

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