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2. September 2025

Streitgespräch zwischen Tobias Linder (Die Grünen) und Nils Holger-Schomann (DFG-VK)

Tobias Lindner (Jg.1982) ist Politiker von Bündnis 90/Die Grünen; bis 2025 war er Mitglied des Deutschen Bundestages, anschließend Staatsminister im Auswärtigen Amt. 2019 nahm er seine frühere Kriegsdienstverweigerungzurück. Nils-Holger Schomann, ehemaliger Fernsehjournalist und jetzt freier Filmemacher. Er ist aktiv im Landesverband Hamburg und Schleswig-Holstein.

Herr Lindner, Sie haben den Kriegsdienst verweigert, allerdings habe ich gelesen, dass sie bereits 2019 ihre Verweigerung zurückgezogen haben, was waren ihre Motive?

Tobias Lindner:
Ich bin im Jahr 2000, wie alle meines Jahrgangs, noch gemustert worden. Wenn ich mich richtig daran erinnere, sind vielleicht drei aus meinem Abiturjahrgang zur Bundeswehr gegangen, der Rest war entweder nicht tauglich oder hat den Wehrdienst verweigert.

Damals war für mich maßgeblich, dass die Realität der Bundeswehr hauptsächlich von Auslandseinsätzen geprägt war. Das war eine Zeit, in der wir auch gedacht haben, dass wir die Streitkräfte zu Zwecken von Abschreckung und Verteidigung, also zum reinen Kernauftrag, immer weniger benötigen. Ich hatte große Zweifel, was ich als Wehrpflichtiger, der elf Monate ausgebildet wird, denn überhaupt beitragen kann?

Dann bin ich 2011 in den Bundestag gekommen. Ich wollte in den Haushaltsausschuss, aber die Bedingung war, dass ich mich um den Verteidigungsetat kümmere. Es macht dann eigentlich nur Sinn, wenn man auch Mitglied im Verteidigungsausschuss ist, um informiert über Verteidigungsausgaben und Beschaffungsvorhaben zu diskutieren. Und so kam die Verbindung zur Bundeswehr zustande.

Die Gründe für mich 2019 diese sieben Tage eine Uniform anzuziehen, waren tatsächlich so, dass sich mein Eindruck, durch den Kontakt mit der Truppe, über die Bundeswehr, gewandelt hat. Und es ist leider so, dass spätestens seit Russlands Einmarsch auf der Krim das Thema „Müssen wir uns verteidigen können?“ einfach wieder einen höheren Stellenwert hat. Zudem war es mir wichtig, nicht nur immer über etwas zu reden und über etwas Politik zu machen, sondern eine Organisation auch mal von innen zu erleben. Zu beiden Entscheidungen stehe ich. Aber es ist auch nicht so, dass ich deshalb keine kritischen Fragen zu Verteidigungspolitik mehr hätte, sondern ich habe, wie viele, mir die Bundeswehr praktisch eine Woche von innen angeschaut und um diese Eindrücke bin ich sehr dankbar.

Nils, Du hattest schon im Vorgespräch gesagt, dass du seit ca. fünf Jahren wieder richtig pazifistisch aktiv bist, also sozusagen genau den anderen Schritt gemacht hast. Auch trotz der ganzen Entwicklungen in den letzten Jahren bist du nun erst recht pazifistisch friedensbewegt aktiv, warum hast du deine Kriegsdienstverweigerung gerade nicht zurückgezogen?

Nils:
Damals, unter dem Eindruck des Vietnamkrieges, habe ich den Kriegsdienst verweigert. Da prangte auf dem Titelblatt des Spiegel dann Napalm, verbrannte Kinder, und uns wurde in der Schule erzählt, dass dort die Freiheit des Westens verteidigt wird. Das fand ich und andere, eigentlich meine ganze Generation, zutiefst empörend. All das auf Kosten der Zivilbevölkerung. Natürlich war der Zeitgeist ein anderer. Aus meinem Jahrgang haben fast alle verweigert oder waren nicht tauglich. Zur Bundeswehr ist niemand gegangen. Dann war 1975 der Vietnamkrieg zu Ende, ich war noch nicht anerkannt als Kriegsdienstverweigerer. Alles war aber bereits eingereicht. Ich bin dann auch tatsächlich nach Westberlin gegangen, also Republikflüchtling West, um in Westberlin nicht eingezogen zu werden. Schlussendlich wurde ich dann anerkannt vom Verwaltungsgericht in Lüneburg. Und dort gab es dann diese ganzen abstrusen Fragen, die heute weiterhin rumgeistern. Sowas wie „Was machen sie, wenn der Russe mit der Kalaschnikow im Park ihre Frau vergewaltigen will. Sie haben auch eine Waffe dabei, schießen sie dann?“ Solch blöden Fragen wurden wirklich in den Verhandlungen gestellt. Das sind Klischees, aber das gab es massenhaft. Und dann habe ich gesagt: Nein, ich habe keine Waffe, also komme ich auch nicht in die Verlegenheit, zu schießen. Dazu stehe ich eigentlich bis heute, das ist sozusagen meine DNA. Auch, dass ich sage, wenn ich keine Waffe habe, kann ich auch nicht schießen. Ich würde immer nach anderen Wegen der Verteidigung suchen.

Herr Lindner, glauben Sie, das ist auch eher eine Generationenfrage?

Tobias Lindner:
Ich glaube nicht, dass es eine Generationenfrage ist. Ich will erstmal wertschätzend sagen, ich habe vor allen Respekt, die sagen „Ich kann mir nicht vorstellen, mich mit einer Waffe zu wehren“. Diese Haltung verdient erstmal Respekt und Anerkennung. Man kann allerdings nicht erwarten, dass eine Gesellschaft, die eine oder die andere Haltung komplett, uniform und homogen übernimmt. Wenn wir uns in meine Welt des Jahres 2000-2001 versetzen – Balkankriege, Kosovo, Afghanistan, Irak. Natürlich gab es Diskussionen darüber. Zum einen über die Frage, welchen Sinn hat denn militärisches Eingreifen? Und Nils, ihr Argument, dem kann ich ja durchaus beipflichten. Auch ich habe die letzten dreieinhalb Jahre als Staatsminister im Auswärtigen Amt alles getan und alles versucht, Konflikte gewaltfrei zu lösen.

Ich habe für mich erkennen müssen, dass das an manchen Stellen – aus welchen Gründen auch immer – nicht möglich ist. Aber natürlich muss unser Anspruch immer sein, erst einmal zu versuchen, einen Konflikt gewaltfrei zu lösen. Für mich ist der Sinn und Zweck von Militär nicht die Provokation, sondern die Prävention von Gewalt. Das mag nicht in allen Szenarien gehen, aber ich würde erstmal nicht pauschal denen, die sagen, wir brauchen Streitkräfte und genügend Ausrüstung, automatisch eine Kriegslust unterstellen. Wir müssen eher eine Diskussion darüber führen, welche Mittel wir realistischerweise in diesen Tagen zur Verfügung haben.

Nils, wie würdest du darauf reagieren? Das geht ja auch schon in die Richtung, die uns als DFG-VK oft vorgeworfen wird: Was tun gegen Putin? Ein Aggressor, der mit Gewalt vorgeht und ihr wollt da nur zusehen?

Nils:
Die grundsätzliche Frage ist ja, was können wir hier überhaupt tun? Selbst Herr Lindner als ehemaliger Staatsminister sagt, er hatte nicht immer die Möglichkeiten, die er sich gewünscht hätte, auf die Situationen Einfluss zu nehmen. Was können wir jetzt als deutsche Gesellschaft bzw. als Einzelne tun, um solche Kriege zu verhindern oder zu beenden? Ich bin skeptisch, dass wir überhaupt Einfluss haben können. Ich glaube, es kommt auf die Menschen in der Ukraine und in Russland an. Dieser Krieg als Beispiel hat natürlich für viel moralische Empörung gesorgt. Auch als Frage an Sie, Herr Lindner. Dass es hieß, nun sollen wieder die westlichen Werte in der Ukraine verteidigt werden. Das sagen die Grünen regelmäßig. Es geht um Demokratie Kontra Diktatur in Russland. So scheint es zumindest und dann stellen sich natürlich Fragen, z.B. warum die Menschen in der Ukraine nicht das Recht haben, den Kriegsdienst zu verweigern. Dieses Recht existiert gerade schlicht nicht. Mehrere unserer Freunde in der Ukraine sind im Gefängnis gelandet, also einschließlich christlicher Menschen, die nicht die Möglichkeiten hatten, sich dem Militär zu entziehen. Sie sind einfach nicht hingegangen und anschließend im Gefängnis gelandet. Da bin ich dann wieder beim Vietnamkrieg, wo für mich dann die rote Linie ist. Selenskyj hat gesagt, er möchte Reformen voranbringen, weil er ja in die EU möchte. Aber es ist doch ein Menschenrecht zu verweigern, ein Grundrecht. Ich kann doch nicht einfach ein Grundrecht außer Kraft setzen in der Ukraine. Und dann stellen sich unsere Politiker hin und sagen, wir verteidigen dort die westlichen Werte. Damit auch die konkrete Frage an Sie, Herr Lindner, was haben Sie denn für die Kriegsdienstverweiger*innen in der Ukraine getan?

Tobias Lindner:
Ich würde gern mal mit diesem Vorwurf der Verteidigung westlicher Werte aufhören. Mich nervt diese ganze Erzählung nämlich. Wir haben ein Völkerrecht und wir haben eine Charta der Vereinten Nationen. Das sind mitnichten westliche Werte. Wenn wir uns anschauen, wer nach dem Krieg, wohlgemerkt ohne die Beteiligung beider deutscher Staaten, die damals nicht Mitglied der UN waren, die Charta der Vereinten Nationen geschrieben hat: das sind Autorinnen und Autoren aus Ländern, die wir heute despektierlich dem Globalen Süden zuordnen würden. Ich versuche diesen Begriff, wann immer es geht, zu vermeiden. Aber ich würde mich erst mal dagegen wehren, Errungenschaften wie Souveränität, territoriale Integrität, Gewaltverbot im Völkerrecht, als westliche Werte zu klassifizieren. Das sind universelle Werte. Sie sind Teil des universellen Völkerrechts, nicht irgendein westliches Konstrukt. Ich habe ein Riesenproblem mit dieser ganzen Erzählung, dass die UN und das System, mit dem wir eigentlich versuchen, Krieg und Gewalt zu vermeiden, dass das ein westliches Konstrukt sei. Zur Frage der Kriegsdienstverweigerung pflichte ich ihnen vollkommen bei, dass in Deutschland das Recht, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, ein Grundrecht ist. Persönlich bin davon überzeugt, dass diese Grundrechte universelle Gültigkeit haben. Wenn es jetzt um die Frage von Auslieferungen männlicher ukrainischer Staatsangehöriger in Deutschland geht, kann ich nur darauf verweisen, dass es in unserem Land Gewaltenteilung gibt, und dass über solche Fragen in Deutschland Gerichte entscheiden. Mir wäre es neu, dass wir Kriegsdienstverweigerer ausgeliefert hätten.

Wenn wir uns die Ukraine anschauen, sind wir in einem Land, in dem Krieg geführt wird. Die Diskussionen vor Ort sind natürlich ganz andere. Ich tue mir auch schwer damit, mir von außen etwas anzumaßen. Ich sehe aber auch, dass die Ukraine mitnichten die gesamte männliche Bevölkerung mobilisiert hat. Ich war mehrfach dort, habe mit Menschen gesprochen und ich glaube, da haben wir vielleicht auch eine Gemeinsamkeit. Die Frage, ob die Ukraine gegen diese russische Invasion bestehen kann, ist auch eine militärische, aber eben keine rein militärische. Es hat viel damit zu tun, wie widerstandsfähig eine Gesellschaft von innen heraus ist, zum Beispiel, ob noch eine Volkswirtschaft funktioniert, ob das öffentliche Gemeinwesen funktioniert. Deshalb gibt es ja in der Ukraine Diskussionen darüber, wie umfangreich mobilisiert werden soll. Also nochmal: Das Recht, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, ist in Deutschland ein Grundrecht und dem werde ich auch nicht widersprechen.

Nils:
Aber nochmal, ich hatte ja gefragt, was hat das Auswärtige Amt in ihrer Zeit unternommen, um vielleicht Leute auch rauszuholen, die bedroht waren, ins Gefängnis zu kommen?

Tobias Lindner:
Tut mir ganz ehrlich leid. Ich hatte in meiner Praxis in den dreieinhalb Jahren andere Probleme:  Kriegsverbrechen verfolgen, am Wiederaufbau helfen. Ich war in zerstörten Dörfern, um zu sehen, wie man die Zivilbevölkerung schützt. Das sind die Dinge, die mich umgetrieben haben.

Nils:
Also das würden Sie schon auch kritisieren, dass es das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht gibt in der Ukraine?

Tobias Lindner:
Ich würde ihnen widersprechen, dass es das Recht auf Kriegsdienstverweigerung dort nicht gibt. Natürlich gibt es Möglichkeiten, den Kriegsdienst zu verweigern, aber der Rechtsrahmen ist nun mal ein anderer als bei uns. Und jetzt vergegenwärtigen Sie sich das mal, wenn wir den Verteidigungsfall hätten und ich hoffe natürlich, dass dieser nie eintritt, könnten wir auch Menschen wie sie heranziehen zu Diensten, die nicht mit der Waffe verbunden sind.

Noch mal da einhakend: auch Menschen aus Russland, die eigentlich ja kämpfen müssen oder auch teilweise desertieren, haben ja in der EU aktuell nicht den einfachsten Stand. Hatten sie sich damit auch beschäftigt?

Tobias Lindner:
Ich möchte nochmal zwei Dinge ganz deutlich sagen: Also zum einen haben wir uns in der Ukraine sehr breit mit der Bevölkerung unterhalten, das ist mir ganz wichtig. Ich habe mich zum Beispiel auch mehrfach mit dem Oppositionsführer, mit Herrn Poroschenko getroffen. Uns war es immer wichtig, dass wir bei der Ukraine-Politik die ganze Gesellschaft sehen. Bei Russland haben wir ebenfalls den Kontakt mit verbliebenen Zivilgesellschaft gesucht. Wir haben nach wie vor eine Botschaft in Moskau und damit einen Gesprächskanal. Und genauso habe ich mich viel mit der russischen Opposition, die leider im Exil leben muss, unterhalten. Und es tut mir leid, wenn ich es ihnen so platt beantworten muss. Aber die Frage, ob Desertation einen Asylgrund manifestiert, ist eine ausländerrechtliche Frage, für die wir gar nicht zuständig waren. Ich werde mich jetzt auch nicht auf das Glatteis begeben, ich bin kein Jurist. Wir haben uns das natürlich angesehen. Ich kann Ihnen sagen, in der Praxis war für uns im Auswärtigen Amt, in unserem Zuständigkeitsbereich, unsere Aufgabe, mit der russischen Exil-Opposition zu reden, mit russischen Gruppen zu reden, die sich gegen Militarismus wenden.

Dann kommen wir jetzt zur hiesigen Wehrpflicht-Diskussion in Deutschland. Allerdings auch mit dem Blick auf die gesamte sicherheitspolitische Situation natürlich. Herr Lindner, Sie haben ja 2019 die Kriegsdienstverweigerung zurückgezogen, würden sie das nach 2022 immer noch machen, als es dann quasi noch ernster wurde? Tatsächlich ist es aktuell ja so, dass z.B. Reservist*innen, also auch Menschen, die bereits bei der Bundeswehr waren, jetzt wieder mehr verweigern. Was sagen Sie dazu?

Tobias Lindner:
Würde ich die Entscheidung von 2019 heute noch mal so treffen? Ja, weil die Gründe, die ich damals hatte, heute noch gelten. Zu den Fragen der Verweigerung: Wir sehen natürlich, dass es Menschen gibt, die einmal Wehrdienst geleistet haben und nun im Nachhinein den Kriegsdienst verweigern. Das ist ihr gutes Recht. Wir sehen auch Zahlen, dass Menschen, die einmal verweigert haben, die Verweigerung zurücknehmen. Die letzte Zahl, die ich mal hatte, waren ca. 400 Personen pro Jahr, die aktuelle Tendenz kenne ich nicht. Ich finde, wir müssen in unserer Gesellschaft schon Menschen die Möglichkeit lassen, dass sie im Laufe ihres Lebens zu anderen Einsichten kommen, sowohl in die eine als auch in die andere Richtung.

Nils:
Also ich würde meine Verweigerung nicht zurücknehmen. Das ist ganz eindeutig und da hätte ich auch an Sie die Frage, Herr Lindner: Wie stellen Sie sich heute Verteidigung vor? Wir sehen doch jetzt die modernen Kriege und was wir gerade in der Ukraine sehen, ist ein festgefahrener Stellungskrieg mit immensen Schäden. In den Städten, an der Zivilbevölkerung. Wir sehen es in Gaza, wir sehen es in der Ukraine. Auf dem Schlachtfeld bewegt sich nicht viel. Wo sich allerdings viel bewegt, auch Israel und Iran z.B., ist der Luftkrieg. Sie schütteln den Kopf.

Tobias Lindner:
Da teile ich ihre Lageeinschätzung nicht.

Nils:
Wie muss ich mir denn heute einen Krieg vorstellen? Also die Vorstellung, dass ich da jetzt als Reservist eingezogen werde und z.B. in diesem Korridor zwischen Belarus und Polen eingesetzt werde. Da gibt es ja einen Durchlass, bei dem immer gesagt wird, wenn sie kommen, dann marschieren wir da hin und verteidigen tapfer die EU. Also diese Vorstellung, die kann sich bei mir nicht einstellen, dass es solche Kriege hier in der Form noch geben wird. Ich glaube, es wird eher Kriege mit großen Schäden und großen Zerstörungen geben, siehe die Bilder aus der Ukraine. Der Luftkrieg war ja auch schon im Zweiten Weltkrieg fürchterlich. Und das sind die Ereignisse, die einen Krieg auch letztendlich entscheiden. Das sagt man ja auch von den Atombombenabwürfen in Japan. Dass der noch den letzten Ausschlag gegeben hat, bezweifle ich auch, aber das ist eine andere Diskussion. Ich würde gerne wissen, was sie für eine Vorstellung von Verteidigung haben? Ich habe da große Schwierigkeiten mir das vorzustellen. Ich sehe da eher Zerstörung vor meinem geistigen Auge.

Tobias Lindner:
Wir können jetzt in diesem Gespräch in zwei Richtungen abbiegen: Das eine wäre eine militärfachliche Diskussion. Was sehen wir leider täglich auf dem Schlachtfeld und was sind die Lehren, die wir daraus ziehen. Ich sage vielleicht noch drei, vier Sätze dazu, warum ich mit dem Kopf geschüttelt habe. Also erstmal würde ich mich dagegen wehren, die schreckliche Situation in Gaza mit der in der Ukraine zu vergleichen. Wir haben uns sehr intensiv das Kriegsbild in der Ukraine angesehen. Das ließ uns mit ein einigen Widersprüchen oder mit einigen Paradoxa zurück. Sie sehen einerseits, da will ich Ihnen überhaupt nicht widersprechen, festgefahrene Stellungen, wenig Bewegung, teilweise ganz schreckliche Bilder, die uns eher an den Stellungskrieg aus dem Ersten Weltkrieg erinnern. Sie sehen aber auch, dass Zahlen tatsächlich etwas ausmachen. Sei es bei Munition, es ist selten so viel Munition verfeuert worden. Sei es aber auch, dass in Russland ein Menschenleben überhaupt nicht zählt und junge Rekrutinnen und Rekruten aufs Schlachtfeld geworfen werden. Da sehen Sie ein ganz, ganz altes Kriegsbild.

Gleichzeitig sehen wir Drohnenangriffe und Hightech-Ausrüstung. Wir sehen also das eine als auch das andere, das meine ich mit Paradoxie. Was zurückbleibt, quasi die Schlussfolgerung, die man daraus ziehen muss, ist, sie müssen das eine wie das andere in Anführungsstrichen „jetzt betreiben“.

An der Stelle machen wir mal einen Punkt, weil jetzt müssten wir darüber sprechen, was braucht denn die Bundeswehr?  Für mich ist aber die entscheidende Frage, und die haben sie auch gestellt: Wie soll man denn eigentlich die NATO oder Deutschland verteidigen? Hierbei würde ich gern politisch antworten: Herr Putin ist ein böser Mensch, aber nach allem, was ich über ihn weiß, ist er nicht geisteskrank. Was meine ich damit? Putin wägt Risiken und Chancen seines Handelns ab. Vielleicht nach einem Kalkül, das wir nicht teilen. Zum Beispiel nach der Chance einer Wiederherstellung des Großrussischen Reichs oder der UdSSR. Das ist was, was wir hier alle im Raum nicht als „Chance“ sehen würden. Aber er wägt ab und das Ziel muss eigentlich sein, dass wir sein Abwägungskalkül so verändern, dass Putin nicht auf die Idee kommt, anzugreifen. Dass er weiß, das Risiko oder der Schaden, den er und seine Leute dabei nehmen, ist zu groß. Das ist die Antwort darauf. Wenn wir in einer Situation sind, wo wir das Baltikum aktiv verteidigen müssten, wäre das eine sehr böse Situation für alle Beteiligten. Ich glaube auch das wissen wir – und das wollen wir mittels Abschreckung vermeiden.

Dann zum Thema Abschreckung. Ich glaube, wir sind uns einig. Niemand möchte einen Krieg zwischen der NATO und Russland. Wenn man nun sagt, daher müssen wir abschrecken, braucht es dann auch tatsächlich die Wehrpflicht, um eben genug Soldatinnen und Soldaten zu haben, und glaubhaft abschrecken zu können?

Nils:
Ich frage mich natürlich, warum Friedensinstitute immer wieder sagen, die NATO sei konventionell überlegen, die Zahlen schwanken ja zwischen zehn- und zwanzigfach überlegen. Nun will ich an dieser Stelle weiter aufrüsten und Wehrpflichtige haben, womöglich die, die neuen Waffen bedienen, weil Freiwillige kriege ich nicht, so wie es bei der Rekrutierung aussieht. Der Drang zur Bundeswehr zu gehen, ist gerade sehr begrenzt, sie haben offensichtlich ein Personalmangel und brauchen auch Leute, die eher Techniker sind, also in die Richtung Luftabwehr und Elektronische Kampfführung. Dort werden wahrscheinlich eher Menschen gebraucht, und diesen Job können keine Wehrpflichtigen machen. Wie also stellen wir diese Abschreckung denn zunehmend her? Ich glaube, die Abschreckung ist bereits gegeben. Ich bin davon überzeugt, dass Putin sich das alles sehr genau überlegt. Und bei einer, sei es auch nur zehnfachen Überlegenheit, würde ich schon als Putin sagen, nein, das hat keinen Wert. Warum soll ich das riskieren für das Baltikum? Ich glaube daher nicht, dass so ein Angriff in dieser Form droht. Umso interessanter ist die Ukraine. Da geht es um Rohstoffe. Im Baltikum ist das nicht so. Das ist meine Überzeugung. Seit ich denken kann, erzählt man uns, der Russe kommt, dieses Feindbild hat so einen langen Bart, und ist heute wieder hochaktuell. Sie haben es ja selbst gesagt, der ist nicht verrückt, er kalkuliert das Risiko. Und bei einem Angriff droht ihm die Vernichtung seines ganzen russischen Reiches durch weitreichende Raketen aus Amerika. Dieses ganze Schreckensszenario sehe ich nicht, ich sehe die Belege dafür nicht, das sind reine Mutmaßungen. Jetzt wird uns gesagt 2028 kommen sie, dann haben Sie die Fähigkeiten aufgeholt. Sie sind gerade ja nicht einmal imstande, die Ukraine zu besiegen. Die russische Kriegsfähigkeit ist doch sehr begrenzt scheinbar.

Herr Lindner, wollen Sie?

Tobias Lindner:
Ja, ich probiere das einmal zu strukturieren. Ich würde erst mal noch gerne zurückkommen auf die Person Putin. Ich habe zwei Dinge gesagt: Er ist nicht verrückt, aber er ist ein böser Mensch. Und ich rate bei Wladimir Putin immer davon auszugehen, dass das, was er sagt, auch das ist, was er tut. Wenn man eine Arbeitshypothese im Umgang mit Putin hätte, wäre meine Grundhypothese, dass er „Wort hält“. Wenn sie sich öffentlichen Äußerungen ansehen, vor allem um das Jahr 2020, dann hat er zum Beispiel bestritten, dass es die Ukraine überhaupt gibt, also die Staatlichkeit und die Frage, gibt es eine ukrainische Nation oder Kultur bestritten. Ähnliches tut er derzeit auch beim Baltikum. Das mag für uns „verrückt“ erscheinen, aber das ist sozusagen das innere Korsett. Das ist das innere „Koordinatensystem“ von Wladimir Putin. Und so irre und abgründig das uns erscheint, müssen wir uns erstmal damit auseinandersetzen. Deswegen halte ich die Gefahr für real.

Nein, die NATO ist konventionell weder zehn noch zwanzig Mal stärker als Russland. Das andere ist, dass Putin einen massiven Aufrüstungskurs fährt. Russland produziert bei Heereseinheiten, z.B. gepanzerten Gefechtsfahrzeugen etwa jedes Jahr den Umfang, den wir jetzt in der Bundeswehr als Bestand haben. Das können wir nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen. Zur Personalstärke: ich glaube nicht, dass wir zum Wehrdienst alter Prägung zurückkehren werden. Sie haben recht, es gibt Probleme in der Rekrutierung. Und die Frage ist nun mal, wie schafft man diesen Aufwuchs sowohl in der Reserve als auch in den Streitkräften. Da gibt es jetzt Fragebogen, angelehnt an das schwedische Modell. Das ist ja auch der Gedanke dahinter, dass wer einmal ein paar Monate bei der Bundeswehr gedient hat, es sich dann leichter vorstellen kann, sich länger zu verpflichten. Wehrdienst sozusagen auch als Brücke der Rekrutierung.   

Wenn wir zu irgendwas zurückkehren sollten, dann verpflichtend zum Ausfüllen eines Fragebogens, was an Schweden angelehnt ist. Durch den „2 + 4 Vertrag“ sind wir ja ohnehin beschränkt auf einen maximalen Umfang von 370.000 Soldat*innen.

Diese Welt der 1980er, in der sie damals verweigert haben, ist jetzt eine andere. Auch unsere Realität ist gefährlich, aber es ist kein neuer Kalter Krieg, oder ein Kalter Krieg 2.0. Deswegen funktionieren auch die alten „Rezepte“ des Kalten Krieges nicht. Ich gehe noch einen Gedanken weiter, weil sie das Baltikum erwähnt haben und Stationierung deutscher Truppen. Wir müssen hier ein zweites Argument sehen. Wo sind Truppen stationiert und wie verlegefähig sind diese Truppen, wenn wir zehn Tage brauchen, um überhaupt das Baltikum zu erreichen? Wenn Herr Putin in dieser Zeit ein Land besetzen möchte, ist es halt auch eine andere Situation, weswegen wir dauerhaft eine Brigade in Litauen stationieren. Also es geht am Ende nicht nur um „Stärke“, sondern es geht auch um Präsenz und um Verlegefähigkeit.


Wir haben jetzt viele Themen angeschnitten und ich glaube, was sehr deutlich wird ist, wie breit überhaupt diese ganze sicherheitspolitische Debatte ist und wie viele Aspekte es da zu berücksichtigen gibt. Ich hätte gegen Ende nochmal eine Frage an sie beide.  Denken wir mal in die Zukunft, und vielleicht jetzt nicht nur ein Jahr, sondern auch vielleicht viele Jahre. Wie kann sich so ein Konflikt auflösen?

Nils:
Ich habe zwei Jungs, 25 und 32 Jahre alt, und ich mache mir große Sorgen um deren Zukunft. Also uns eint sicherlich die Angst oder die Befürchtung, dass hier viel zerstört werden könnte, in Europa, nicht nur die Ukraine. Ich sehe aber auch den Krieg gegen die Natur. Ich sehe, dass im Moment die ganze ökologische Zerstörung, der Klimawandel, völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Da herrscht gefühlt völliger Stillstand. Man hat eher das Gefühl, es gibt einen Rollback. Dieses Gefühl habe ich eben auch in der Friedenspolitik. Wo ist die Friedenspolitik? Das ist ja auch das, was viele der letzten Bundesregierung, der sie auch angehört haben, vorgeworfen haben. Ich würde mir wünschen, dass man eine Friedenspolitik überhaupt wieder ernst nimmt. Friedensforschung bedeutet ja auch, welche anderen Wege gibt es, sich zu verteidigen, jenseits von militärischer Verteidigung.

Ein Beispiel ist die soziale Verteidigung, in den besetzen Gebieten der Ukraine zum Beispiel. Die Menschen dort können nicht einfach mit der Waffe rumlaufen und sich verteidigen. Die müssen dann soziale Verteidigung ausüben und sich der Besatzung verweigern. Wie also können wir auch diese Seite wieder stärken? Das wäre dann auch noch mal eine Frage an Herrn Lindner. Was sehen sie für Chancen? Hier meine ich z.B. Abrüstungsverträge wieder anzugehen. Meines Wissens nach, war es Trump, der die letzten großen Verträge gekündigt hat. Glücklicherweise nicht alle, den Atomwaffensperrvertrag gibt es z.B. noch.

Dann gibt es auch den Atomwaffenverbotsvertrag bei der UN, dem sollte Deutschland doch beitreten. Wir brauchen keine Atomwaffen zur Verteidigung, die müssen meiner Meinung nach Weg aus Deutschland. Das halte ich für zentral, denn sie machen uns zum Angriffsziel. Da würde ich ein Zeichen setzen wollen, wäre ich in der Regierung. Friedenspolitik mag man als naiv ansehen, aber ich glaube nicht, dass die zwanzig Atombomben in Büchel uns wirklichen Schutz gewähren. Hier würde ich mir einen Paradigmenwechsel wünschen, wieder weg von diesem unsäglichen Begriff der Kriegsfähigkeit, hin zur Friedensfähigkeit. Wo wir andere Wege und Schritte unternehmen, um Kriege zu verhindern oder wie in der Ukraine zu beenden?

Herr Lindner, auch an Sie die Frage nach der Zukunft und dem Blick nach vorne. Wie kommen wir wieder auf einen grünen Zweig?

Tobias Lindner:
Zu Beginn möchte versuchen, auf ein paar Dinge zu reagieren. Ich will mal so anfangen, dass ich auch zwei Söhne habe. Die sind ein bisschen jünger als ihre beiden. Und natürlich mache ich mir Sorgen, in was für einer Welt die beiden aufwachsen werden, sowohl bei der Frage der Ökologie, der Klimapolitik, aber auch der Frage, ob sie in einem Europa in Frieden und Freiheit aufwachsen werden. Ich glaube, das treibt uns alle gemeinsam um.

Ich kann nur noch mal das betonen, was ich zu Beginn gesagt habe: das Ziel muss immer sein, Konflikte ohne militärische Gewalt zu lösen. Im Übrigen, auch das ist ein Teil unserer Politik gegenüber Russland. Wir sanktionieren Russland. Die Krux mit Sanktionen ist nur immer, dass sie langfristig wirken und es Zeit braucht. Aber wir setzen Russland wirtschaftlich unter Druck, um es zu einem Kurswechsel zu bewegen. Gerade weil wir keine militärischen Mittel gegen Russland gebrauchen wollen. Ich wehre mich so ein bisschen dagegen, dass nur das eine gesehen wird. Wir haben zu der Zeit, als ich der Bundesregierung angehört habe, eine Menge getan im Rahmen der Krisen- und Konfliktprävention im Auswärtigen Amt. Wenn sie das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze nehmen, das ZIF, wenn sie die Humanitäre Hilfe nehmen, die wir bereitgestellt haben und weiterhin bereitstellen. Wir waren nach den USA der zweitgrößte Geber kurzfristiger humanitärer Hilfe weltweit aber auch bei den Mitteln für die Krisen- und Konfliktprävention. Und wir haben zum Beispiel gerade auf dem afrikanischen Kontinent auch einiges erreicht. Das Problem, das kennen Sie, wenn sie sich damit beschäftigen, ist immer, dass der Konflikt, der eben nicht ausgebrochen ist, abends in den Nachrichten meistens nicht vorkommt. Die Erfolgsgeschichten über die Krisen, die gar nicht erst entstanden sind, werden meist nicht erzählt.

Mir persönlich fehlt noch ein Wort zum Thema Rüstungskontrolle und Abrüstung, auch weil sie das Thema Atomwaffen angesprochen haben. Ich habe für mich zwei Sätze, und auch die stehen im Spannungsverhältnis zueinander, als Leitmotiv. Der eine Satz lautet: Ich möchte, dass wir in einer atomwaffenfreien Welt leben, ich will eine Welt ohne Kernwaffen haben. Und der andere Satz ist das, was die NATO sagt: Solange es Kernwaffen gibt auf diesem Planeten, wird die NATO nun mal ein nukleares Bündnis sein. Und das lässt uns in Konflikten, in Dilemmata, in Spannungsverhältnissen zurück. Ich persönlich weiß nicht, ob uns das gelingen wird, vielleicht wächst auch in Moskau, und ehrlich gesagt muss das auch in Peking gleichzeitig geschehen, die Einsicht, dass man zumindest wieder mal zu einer Rüstungskontrollarchitektur zurückkehren sollte. Wir sollten Rüstungskontrolle immer komplementär zur Frage betrachten, ob wir uns verteidigen und abschrecken können. Die großen Abkommen, die erreicht wurden, zum Beispiel der START-Vertrag oder der INF-Vertrag, sind interessanterweise auf Höhepunkten des Kalten Krieges erreicht worden. Aber es braucht ehrlich gesagt dazu auch immer zwei Seiten. Sie haben jetzt nur auf Herrn Trump gedeutet und ich bin der Letzte, der ihn hier verteidigen möchte. Aber wenn sie zum Beispiel den INF-Vertrag nehmen, dann war es die Russische Föderation, die diesen Vertrag jahrelang gebrochen hat. Wir hatten am Ende die Beweise in unseren Händen.

Wir haben dazu auch lange noch diskutiert, bevor wir gesagt haben, wir kündigen jetzt den INF-Vertrag, wenn Russland dauerhaft dagegen verstößt. Ähnlich war es beim Vertrag über den offenen Himmel (Open Skies). Ich bin überhaupt nicht froh darüber, dass diese Rüstungskontrollarchitektur erodiert. Ich sehe das im Moment eher pessimistisch, weil eben aus Moskau, auch aus Peking, kaum Signale kommen, da wirklich in substanzielle Gespräche einzusteigen. Aber ich würde Ihnen recht geben, natürlich muss und darf das nicht unversucht bleiben. Da haben wir die verdammte Verantwortung, denn Rüstungskontrolle hat schließlich auch den Zweck Missverständnisse und Fehleinschätzungen zu vermeiden.

Ich würde mir daher wünschen, dass man in der einen oder anderen stillen Stunde auch darüber nachdenkt. Auch wenn sie mich hier, das sage ich offen mit den dreieinhalb Jahren Erfahrung, eher pessimistisch sehen. Das wäre für mich aber trotzdem jetzt kein Grund, sozusagen jegliche Anstrengung aufzugeben.

Die Fragen stellte Michael Schulze von Glaßer. Dieses Interview erschien in einer gekürzten Fassung in der ZivilCourage Ausgabe 3/2025

Kategorie: Allgemein

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In der aktuellen Ausgabe erwarten euch spannende Beiträge zu unseren gemeinsamen Bemühungen für Frieden, Abrüstung und soziale Gerechtigkeit. Ein besonderer Fokus liegt auf der Strömungsdiskussion von Antimilitarismus und Pazifismus, der Kriegsdienstverweigerung und der Relevanz von 80 Jahren Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki.

Hier ein kleiner Einblick in die Themen:

  • 5 Fragen an Nihon Hidankyō
  • Streitgespräch zur Kriegsdienstverweigerung mit Tobias Lindner
  • 150 Jahre Thomas Mann
  • Antimilitarismus und Pazifismus: Zwei Wege – Eine Bewegung?
  • Friedensprofile: Semih Sapmaz – WRI

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