Dieser Beitrag ist erschienen in der ZivilCourage 4/2021 |
Sowjetische Kriegsgefangene in Nordrhein-Westfalen – eine Spurensuche
Von Hannelore Tölke
In diesem Jahr ist es 80 Jahre her, dass Nazideutschland die Sowjetunion überfiel und einen Vernichtungskrieg gegen sie führte. Nach offiziellen Angaben starben 27 Millionen Menschen. Fünf Millionen sowjetische Soldaten gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft, von denen mindesten drei Millionen ums Leben gebracht wurden. Bis zum Februar 1942 kamen zwei Millionen Rotarmisten in den Lagern in Frontnähe, auf Hungermärschen oder auf Transporten ins Reichsgebiet um. Sie verhungerten, starben an mangelnder Versorgung oder wurden exekutiert. Der Tod von Millionen Menschen wurde durch ein rassistisches und menschenverachtendes Programm der Nazis gerechtfertigt.
Doch schon im Sommer 1941 forderte die deutsche Industrie und insbesondere die Reichsvereinigung Kohle den Einsatz von sowjetischen Kriegsgefangenen, um die Arbeitskräfte, die durch Einberufungen zur Wehrmacht fehlten, zu ersetzen. Dieser Arbeitseinsatz wurde Ende Oktober 1941 möglich. Für die Gefangenen änderte sich nichts. Der Vernichtungskrieg setzte sich im Deutschen Reich fort. Im Herbst 1941 befanden sich 350 000 sowjetische Kriegsgefangene im Reichsgebiet, 48 000 im Stalag (Stammlager) VI K Senne bei Stukenbrock. Das Stalag VI K war damals ein umzäuntes, unbebautes Areal, die Gefangenen hausten in Erdlöchern. Unmenschliche Arbeits- und Lebensbedingungen, Hunger, fehlende Versorgung und eine demütigende Behandlung blieben das Schicksal der Gefangenen.
Die Gefangenen wurden aus dem Stalag VI K ins Ruhrgebiet gebracht und mussten auf Zechen, in Stahlwerken und Rüstungsbetrieben Zwangsarbeit leisten. Viele verloren hier ihr Leben. Es gibt kaum eine Gemeinde in NRW, auf deren Friedhof keine Gräber von sowjetischen Kriegsgefangenen sind.
Um den Bedarf an Arbeitskräften für den Ruhrbergbau zu decken, wurde im November 1942 das Stalag VI A in Hemer zum Sondermannschaftslager umfunktioniert. Die Gefangenen kamen von dort direkt in die Arbeitskommandos der Zechen des Ruhrbergbaus. Waren sie durch Krankheit und Hunger geschwächt und konnten schwere Arbeit in den Bergwerken und Rüstungsbetrieben nicht mehr leisten, schickte man sie zurück in die Stalags. Ein Geistlicher, der das Stalag VI D in Dortmund heimlich besuchte, beschrieb den Zustand der Krankenbaracke als so katastrophal, dass er ihn nicht in Worte fassen könne, da jede noch so makabre Beschreibung die Realität nicht widerspiegelt. Die Gefangenen, die im Stalag VI D starben, wurden auf dem jüdischen Friedhof in Dortmund anonym begraben. Im Stadtarchiv Dortmund befindet sich zwar das Sterbebuch für „sowjetische Militärangehörige“. Es enthält weit über 4 000 Einträge, aber nur 650 Namen. Allen anderen Verstorbenen wurden mit „unbekannt“ eingetragen.
In der Nachkriegszeit geriet das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen schnell in Vergessenheit. Die Gräber auf vielen Friedhöfen wurden eingeebnet. Oft erinnert nur ein Grabmal allgemein an die Verstorbenen, eine persönliche Erinnerung gibt es nicht.
Die Ehefrauen und Kinder der in Deutschland umgekommenen sowjetischen Kriegsgefangenen suchten oft jahrzehntelang nach ihrem Ehemann oder Vater. Unterstützt durch die Recherchemöglichkeiten des Internets haben sie heute die Möglichkeit, ihren Angehörigen ausfindig zu machen. Jeder Kriegsgefangene erhielt bei seiner Registrierung eine Erkennungsmarke und eine Personalkarte. Die Registrierungsdokumente der Rotarmisten wurden bei ihrem Tod an die Wehrmachtsauskunftstelle gesandt und in den 1960er Jahren an die Heimatländer übergeben. Heute sind diese Dokumente in einer Datenbank online abrufbar. Viele Familien aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion stellen Nachforschungen an und bitten den Historischen Verein Ar.kod.M um Hilfe. In der Broschüre „Schatten der Vergangenheit“ berichten die Autor*innen über diese Recherchen und über ihre Erfahrungen in nordrhein-westfälischen Gemeinden.
Hannelore Tölke ist seit vielen Jahren Mitglied der DFG-VK und war aktiv im Landesverband NRW. Die Erstellung der Broschüre „Schatten der Vergangenheit“ wurde gefördert durch die Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK. Sie ist zum Preis von 2 Euro (zzgl. Porto) erhältlich unter ar.kod.m.ev@gmx.de (Telefon: 0160-99 10 99 90, www.kriegsopferdaten.de)