![]() | Dieser Beitrag ist erschienen in der ZivilCourage 3/2021 |
International
Weniger friedlich als es scheint … – ein Blick zurück auf das Jahr 2021
Von David Scheuing
Trotz einer Atempause in der Corona-Pandemie hat sich der Sommer pazifistisch und antimilitaristisch relativ aktionsarm – auch international – gestaltet. Dafür gibt es sicherlich mehrere Gründe, nicht zuletzt auch wieder zunehmend repressive Methoden von vielen Regierungen gegenüber sozialen Bewegungen. Es bleibt daher hier Zeit für einen Blick zurück und einen Blick auf Diskussionen, die weniger prominent geführt wurden.
Die Bedeutung zivilen Widerstands
Im Frühjahr putschte das Militär in Myanmar erneut – und traf auf heftigen und organisierten zivilen, gewaltfreien Widerstand der Bevölkerung (siehe ZivilCourage 2/21). Die zehn Jahre einer relativen Offenheit hatten Zeit zur Vernetzung, Organisierung und dem Aufbau eines kreativen Protestrepertoires gegeben. Die Generalstreiks des Civil Disobedience Movement (CDM) hatten sich explizit zum Ziel gesetzt, das Militär von seinen Einnahmequellen abzuschneiden und dabei so wenig zivile Folgen wie möglich zu erzeugen – und all das mit einem zugrundeliegenden gewaltfreien Aktionskonsens.
Die Boykott-Maßnahmen gegen die Banken des Militärs und andere Aktionen hatten zunächst erstaunlich viel Wirkung. Doch mit dem Ende der kurzen Aufmerksamkeit der globalen Medien und der politischen Öffentlichkeit für die Vorgänge in Myanmar endete auch die Hochzeit des Widerstands. In fast allen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten zogen die immer ähnlichen Dilemmata ein: doch mit dem Regime zu kooperieren, um zumindest manche zivilen Freiheiten wieder zu erlangen, die Opposition zu unterstützen mit der Hoffnung auf – auch international unterstützte – Transition oder einen dritten Weg zu gehen.
Eine lesenswerte Analyse über die Situation der Mon People findet sich beim Transnational Institute: https://bit.ly/3CyUyu8. Insgesamt sind zu Myanmar die Ressourcen des TNI sehr lesenswert, aber auch diese kürzlich erschienene Studie zur Bedeutung des zivilen Widerstands während und nach dem Coup auf new mandala (in Zusammenarbeit mit der Australian National University von einem ungenannten Autor erstellt): https://bit.ly/3x0b6Kp
Auch in anderen Kontexten haben sich in den vergangenen zwei Jahren die Notwendigkeit und die Erfolge gewaltfreien Widerstands unter Beweis gestellt – und immer wieder hat sich die Herausforderung der Unterdrückung gestellt (ermöglicht auch durch schwindende internationale Aufmerksamkeit). Das gilt sicherlich für Belarus, aber auch für Westpapua, Kolumbien oder den Sudan. Damit wir uns immer wieder in Erinnerung rufen, was erreicht werden kann, seien hier die Ressourcen des Programms für Gewaltfreiheit der WRI in Erinnerung gerufen: Unter nonviolence.wri-irg.org
stehen viele lesenswerte Analysen zu gewaltfreiem Widerstand und seinen Herausforderungen. Zwei möchte ich konkret hervorheben.
In „Wandel im Sudan: Wie ein Sitzstreik ein Regime herausforderte“ reflektiert ein*e Aktivist*in über die Erfolge der ersten Widerstandsbewegung 2019 – die jetzt nach dem erneuten Coup des Militärs im Oktober wieder präsent nach vorne geholt werden sollten. Seine*ihre Kernerkenntnisse: Im Zusammenspiel der Akteure, die eine gemeinsame Vision für andere Verhältnisse teilen, die kollaborativ zusammen gewaltfreien Widerstand wagen, kann ein Regime in die Knie gehen. Wichtig jedoch: Jede Bewegung hat ihre eigene Ausformung gewaltfreier Aktionen, es braucht den globalen Austausch und das Lernen voneinander über Methoden und Erfolge der Gewaltfreiheit, und doch muss jede Bewegung dann ihre je eigenen Wege gehen dürfen. Immer noch lesenswert: https://bit.ly/3coOUjI
Der zweite Beitrag dreht sich um den Widerstand von Montenegriner*innen gegen die Etablierung einer Militärbasis im Hochland von Sinjajevina – ein Widerstand, von dem viele noch nicht gehört haben werden, der aber für die Möglichkeiten zivilen Widerstands gegen militärische Einrichtungen so wichtig ist wie der Kampf der Bürger*innen in Larzac (Frankreich) oder der Freien Heide in Deutschland.
Nach dem Nato-Beitritt Montenegros 2017 wurde in Windeseile binnen zwei Jahren die Etablierung einer riesigen Übungsfläche für Nato-Kräfte ohne parlamentarische Beratungen durchgedrückt. Eine schnelle und effektive Vernetzung der Viehhirt*innen auf dem Hochland mit eher urbanen Aktivist*innen half dabei, eine Kampagnengruppe zusammenzustellen, die sich für die Schaffung eines Naturreservates und gegen die Etablierung des Nato-Übungszentrums aussprach.
Den größten Erfolg feierte die Kampagne im Oktober 2020, als sie geplante Übungen der Nato auf dem Hochplateau abwenden konnte durch ihre physische Präsenz und die Hilfe von abertausenden Bürger*innen, die gar nicht einsahen, dass trotz der Abwahl der Regierung und einer gewählten Regierung, die sich für den Erhalt der Sinjajevina ausgesprochen hatte, diese Nato-Übungen abgehalten werden sollten. Doch auch 2021 ging der Kampf für ein freies Sinjajevina weiter – denn noch immer gibt es kein Schutzgebiet. Hier nachzulesen: https://bit.ly/3HCrA06. Die Kampagne findet sich hier: https://bit.ly/3kPzEks
Kurz notiert:

EU: Die militarisierte Union. Eine neue Publikation des europäischen Netzwerks gegen Rüstungsexporte (ENAAT) zur Aufrüstung und der Verfestigung des Rüstungskomplex der Europäischen Union versucht, den Mangel an guten Publikationen zu schließen, die diese Umstände übersichtlich und verständlich auch für die Bildungsarbeit aufbereiten. Hier: https://bit.ly/3qRa8PC
Nagorno-Karabach: EGMR erkennt Rechte eines Kriegsdienstverweigerers an. Im Falle eines Zeugen Jehovas aus Armenien hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anerkannt, dass die Verurteilung und Verknastung gegen Artikel 9 der europäischen Menschenrechtscharta verstieß. Der Fall geht schon einige Jahre zurück, ist aber aufgrund der Relevanz für das Gebiet von Nagorno-Karabach interessant. Dem Kläger wurde trotz seines armenischen Passes das Recht auf einen alternativen Dienst verweigert, weil er angeblich Bürger der unabhängigen Teilrepublik Nagorno-Karabach gewesen sei, die Kriegsdienstverweigerung nicht anerkenne. Der Gerichtshof widersprach dieser Argumentation aufgrund der offenkundigen Passfrage, ging aber erneut über diese Feststellung hinaus: Armenien habe aufgrund seiner effektiven Kontrolle über Nagorno-Karabach über den Einzelfall hinaus die Grundfreiheiten der Menschenrechtscharta auch dort sicherzustellen. Zwar ist das im Lichte früherer Entscheidungen des Gerichtshofes nicht überraschend, aber für zukünftige Kriegsdienstverweigerer aus der Region von materieller Bedeutung. (wri-irg.org)
Kolumbien: Kriegsdienstverweigerung für alle ethnischen Gruppen. Der Verfassungsgerichtshof Kolumbiens muss sich aktuell mit einer Klage beschäftigen, die die bisherigen Regeln für die Freistellung vom Militärdienst auf alle ethnischen Gruppen des Staates ausgedehnt sehen will. Derzeit gilt diese Regelung nur für indigene Gruppen Kolumbiens. Auch die Ersatzzahlung, mit der man sich aus dem Militärdienst freikaufen kann, wird durch das Verfahren infrage gestellt. Auch der nationale Ombudsman unterstützt die Klage. (wri-irg.org)
Geschichte der WRI: 100 Jahre auf einem Zeitstrahl. Für alle Freund*innen der Internationalen der Kriegsdienstgegner*innen findet sich jetzt eine schöne Illustration der Geschichte der letzten 100 Jahre auf der Homepage der WRI. Sie reicht von der Gründung des Netzwerks 1921 bis heute und versucht sich an einer ersten Aufarbeitung der wesentlichen Meilensteine. Hier: https://bit.ly/3oAQsN6

David Scheuing ist Vertreter der DFG-VK bei der War Resisters´ International (WRI), dem internationalen Dachverband der DFG-VK mit Sektionen in weltweit 45 Ländern, gewählt. An dieser Stelle berichtet er regelmäßig in der ZivilCourage aus der WRI, um den LeserInnen das globale Engagement von KriegsgegnerInnen sichtbar zu machen. Das sind keine tieferen Analysen, sondern kleine kursorische Überblicke und Nachrichten; es geht dabei nicht um Vollständigkeit, vielmehr um Illustration. Ideen und Vorschläge für kommende Ausgaben sind erwünscht. Der Autor ist per E-Mail erreichbar unter scheuing@dfg-vk.de