Dieser Beitrag ist erschienen in der ZivilCourage 4/2021 |
International
Die Militarisierung von Polizei und „Sicherheitsdiensten“ weltweit
Von David Scheuing
An dieser Stelle bin ich in den vergangenen Jahren immer wieder auf die Militarisierung der Polizei eingegangen. Nicht zuletzt die Durchsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie hat dieser Militarisierung weltweit Nachdruck verliehen. Daher will ich dieses Mal noch einen etwas vertieften Blick auf neue Ressourcen zum Thema werfen. Daneben ein kurzer Bericht vom Ratstreffen der WRI, das auch in diesem Jahr digital stattfinden musste.
Verschwommene Grenzen: Globale Aufrüstung der Polizei
In vergangenen Beiträgen habe ich auf die Ressourcenseite der WRI zur Militarisierung der Polizei hingewiesen (https://bit.ly/3A59tLT). Dem dort gesammelten Wissen zu globalen Militarisierungen der Polizeien hat jetzt das Transnational Institute (TNI) einen Bericht zur Seite gestellt, der die Ergebnisse verdeutlicht: Unter dem Titel „Coercive World“ (Welt des Zwangs) führt der Bericht in elf Kapiteln aus, worin die globale Militarisierung der Zwangsapparate besteht. Die Autor*innen führen an Länderbeispielen aus, wie sie unter anderem den stetigen Zuwachs an verwendeten Überwachungstechnologien, die Auslagerung exekutiver Gewalt an private Milizen oder die Verknüpfung zwischen Profiten und Militarisierungen beobachten können. Ein lesenswerter Bericht in seiner Gesamtheit (https://bit.ly/3jg3cX0).
Es sei mir erlaubt anzumerken, dass es allerdings bedenklich ist, wie die begleitende Homepage (die Graphiken und anderweitig aufbereitete Informationen aus der Studie darstellt) mit dem Herausheben Israels als „Modellstaat des Zwanges“ die globale Erfahrung des Anstiegs von Zwangsmaßnahmen an ein einzelnes Beispiel bindet. Hier unterminiert die Studie ihre eigenen Ergebnisse unnötig und leistet allzu eilfertiger Kritik an Israel Vorschub. Denn gerade die eigenen Ergebnisse zeigen ja, dass es eben auch unterschiedlich gelagerte Erfahrungen solcher modellhafter Verläufe in anderen Staaten gibt.
Denen, die gut Englisch lesen können, seien noch zwei weitere Texte zum Thema empfohlen: Andrew Metheven (WRI) hat für das Onlinemagazin „Roarmag“ einen Überblick über die „Verwandlung der Straßen in Schlachtfelder“ im Zuge der globalen Militarisierung der Polizei verfasst. Er hebt besonders das Ineinandergreifen verschiedener Elemente dieser Militarisierung hervor, die jeweils für sich genommen einigermaßen harmlos scheinen (Training, Ausrüstung, Gruppenstärkung) – im Zusammenspiel allerdings wird eine Normalisierung militarisierter Polizeitaktiken geschaffen, der es entgegenzutreten heißt: https://bit.ly/3xfrF3C
Im Nachklang zu den Protesten in Chile von 2019 hier ein Beitrag zur Rolle der staatlichen Polizeikräfte in der Unterdrückung von Protesten und der Sicherung der Privilegien und Profite der nationalen Eliten: https://bit.ly/
37h1AGS
Langfristig unterfinanziert, politisch hoch aktiv – die WRI. Das diesjährige Ratstreffen der WRI Ende Juni versuchte sich an einem neuen Beratungsformat – so wurden die Tagesordnungspunkte über zwei Wochen hinweg beraten, aber nicht konstant. Jedes Thema wurde digital vorgearbeitet auf einer Konsensentscheidungsplattform und dann in einem gezielten, thematisch fokussierten und zeitlich begrenzten Konferenz-Call beraten. In diesem Jahr wurde erneut deutlich, dass die wichtige Arbeit des Netzwerkes dauerhaft minderfinanziert ist – der Beitrag der DFG-VK leistet einen wichtigen Anteil an der Aufrechterhaltung, könnte aber absehbar erhöht werden, wenn sich die DFG-VK das leisten möchte.
Inhaltlich standen die Wochen des Ratstreffens unter keinem besonderen Fokus – aber natürlich auch unter dem Eindruck der jüngsten Eskalationen in Israel/Palästina und in Kolumbien. Just während einer Sitzung drang dann ein britisches Kriegsschiff in die neu als „russisch“ deklarierten Gewässer rund um die Krim ein, Unbekannte attackierten Ruslan Kozaba (siehe unten) und allen Teilnehmenden wurde erneut bewusst, wie notwendig die internationale Vernetzung doch ist.
Der WRI trat dieses Jahr nur eine kleine Organisation aus Australien bei: „Wage Peace“. Die Projektgruppe ist jedoch wichtiger Bestandteil der internationalen Arbeit zur Situation in West Papua – ein wichtiger Zugewinn zum Netzwerk. Die Arbeit des Programms zur Gewaltfreiheit der WRI wird sich in kommender Zeit etwas auf West Papua fokussieren.
Wie vermutlich bei jedem Ratstreffen war es auch diesmal wieder beeindruckend zu sehen, wie viele Aktionen und Kampagnen trotz globaler Einschränkungen dennoch möglich waren – einige davon stelle ich weiter unten kurz vor.
Kurz notiert
WRI100 Niederlande auf 2022 verschoben. 2021 ist das Jubiläumsjahr der WRI – doch viele der Feierlichkeiten müssen entfallen oder werden verschoben. So auch die geplante Aktionskonferenz in Utrecht im September, die unter dem Titel „Eine Zukunft ohne Krieg!“ stehen soll. Es wird ein Termin für das Frühjahr 2022 anvisiert. Infos: wri100.nl
Angriff auf Ruslan Kozaba. Ende Juni wurde Ruslan Kozaba auf dem Weg vom Gericht, in dem er sich derzeit wieder einem Prozess ausgesetzt sieht (siehe ZC 2/21), brutal von Rechten angegriffen. Die Angreifer*innen verschütteten eine blaue Substanz über Kotsaba, der dadurch eine Verletzung am Auge erlitt. Der Angriff machte wieder einmal deutlich, welch großem Risiko Ruslan Kozaba und sein nächstes Umfeld alltäglich ausgesetzt sind. Gruppen in ganz Europa organisierten Solidaritätskundgebungen. Infos: wri-irg.org; connection-ev.de
Aktionsmonat für ein nuklearwaffenfreies Europa. Die Aktionsgruppe „NukeFreeEurope“ (u.a. IPB, Church and Peace, IPPNW, Pax Christi und die Quäker) hat einen Aktionsmonat für ein nuklearwaffenfreies Europa ausgerufen und dazu einen Informationsflyer veröffentlicht. Die Gruppe ruft dazu auf, europaweit Standorte der Atomwaffen(produktion) mit Protesten zu überziehen. Infos: nukefreeeurope.eu
Neue Kampagne „Abolish Frontex“. Ein großes Bündnis antirassistischer und antimilitaristischer Gruppen in Europa hat sich zur Kampagne „Frontex abschaffen“ zusammengeschlossen. Zwar haben seit der Gründung der Polizeitruppe Organisationen der Zivilgesellschaft die Staaten Europas dazu aufgerufen, Frontex wieder abzuschaffen. Passiert ist bislang das Gegenteil: Europa hat sich eine nicht regulierte Polizeitruppe geschaffen, deren Budget um ein Mehrfaches angewachsen ist und die sich nicht an Recht und Gesetz zu halten scheint. Zeit, daran etwas zu ändern – auch indem sich NGOs nicht mehr an den „Beratungen“ von Frontex beteiligen. Mehr Infos: https://abolishfrontex.org
KDV: Internationaler Tag der Kriegsdienstverweigerer*innen. Auch an diesem 15. Mai wurde wieder all der verknasteten Verweigerer*innen gedacht und auf ihre weltweite Lage aufmerksam gemacht. Neben je spezifischen Forderungen in vielen einzelnen Staaten (bspw. von den „Frauen in Schwarz“ in Serbien zu den aktuellen Versuchen der Wiedereinführung der Kriegspflicht) fokussierte eine Kampagne der WRI in diesem Jahr auf der Situation in der Türkei. Die Themenseite dokumentiert dies: wri-irg.org/en/CODay2021. Zudem: alle fünf Webinare der WRI zur Kriegsdienstverweigerung international auf dem Kanal des „Refuse to Kill“-Programms: https://bit.ly/3xwJzPH
Erschreckende Forensik des Jemenkrieges. Die investigative Forscher*innengruppe „Forensic Architecture“ hat in enger Zusammenarbeit mit einer Reihe von Partnerorganisationen eine Zeitschiene des Jemenkrieges zusammengestellt. Sie zeigt Angriffe, Anschläge und Kriegshandlungen, die durch europäische Waffen und Waffenlieferungen ermöglicht wurden. Die schiere Dichte der Ereignisse und die Vielzahl der Waffen ist erschreckend – eine wichtige Ressource gegen Waffenexporte. Mehr Infos: https://bit.ly/3rMN2s0Südkorea: mit kleinen Schritten, aber immerhin… Das oberste Gericht des Landes hat Ende Juni zum ersten Mal ein Gerichtsurteil bestätigt, das einen jungen gläubigen Menschen vom Kriegsdienst freisprach, da seine Verweigerung aufgrund einer plausiblen Gewissensentscheidung beruhe. Dies ist der erste Fall, der dies religionsunabhängig etabliert – bislang waren lediglich Zeugen Jehovas als Verweigerer anerkannt worden. In den letzten Jahren hat sich in kleinen Schritten etwas bewegt in Südkorea. Wenig, immer noch zu wenig – aber immerhin. Infos: wri-irg.org; withoutwar.org
David Scheuing ist Vertreter der DFG-VK bei der War Resisters´ International (WRI), dem internationalen Dachverband der DFG-VK mit Sektionen in weltweit 45 Ländern, gewählt. An dieser Stelle berichtet er regelmäßig in der ZivilCourage aus der WRI, um den LeserInnen das globale Engagement von KriegsgegnerInnen sichtbar zu machen. Das sind keine tieferen Analysen, sondern kleine kursorische Überblicke und Nachrichten; es geht dabei nicht um Vollständigkeit, vielmehr um Illustration. Ideen und Vorschläge für kommende Ausgaben sind erwünscht. Der Autor ist per E-Mail erreichbar unter scheuing@dfg-vk.de