Die verfassungswidrigen Überlegungen zu einer allgemeinen Dienstpflicht
Ausgabe 5/2020
Von Stefan Philipp
Nein, eigentlich muss niemand Sorge haben, dass in Deutschland irgendwann eine allgemeine Dienstpflicht eingeführt wird. Nationale und internationale Bestimmungen verbieten das ganz eindeutig. Warum also die Beschäftigung mit diesem Thema?
Die Erfahrung zeigt, dass aus verschiedenen politischen Ecken die Forderung nach einer solchen Dienstpflicht immer wieder erhoben wird. Vor allem die für Krieg und Militär zuständige Bundesministerin und (Noch-)CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer bringt eine solche Dienstverpflichtung seit Jahren immer wieder ins Gespräch. Nicht zu vergessen ist auch, dass die Wehrpflicht als eine spezielle Form der staatlichen Indienstnahme keineswegs endgültig abgeschafft, sondern seit Mitte 2011 lediglich ausgesetzt ist.
Aber nicht nur von „ganz oben“ wird die Forderung nach einem Pflichtjahr erhoben. Nach den „Jugend-Krawallen“ im Juli in Stuttgart schrieben die Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer (Grüne), Schwäbisch Gmünd, Richard Arnold (CDU), Schorndorf, und Matthias Klopfer (SPD), einen gemeinsamen Brief an den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) und den Innenminister Thomas Strobl (CDU). Darin forderten sie die beiden auf, in Berlin bei der Bundesregierung oder über den Bundesrat eine „Dienstpflicht für alle Menschen in unseren Städten und Gemeinden anzuregen“. Eine solche solle, unabhängig von der Staatsbürgerschaft, für alle jungen Menschen eingeführt werden, die hier leben und in sozialen und kuturellen Einrichtungen abgeleistet werden können oder auch bei der Bundeswehr.
Bis in die schwäbische Provinz reicht also die Vorstellung, eine Dienstpflicht könnte viele Probleme lösen, vom Pflegenotstand über den mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt bis zur ungenügenden Zahl freiwilliger Bewerbungen zur Bundeswehr.
Und fragt man im Bekanntenkreis herum, dann gibt es nicht wenige, die ein Pflichtjahr erstmal für eine gute Idee halten.
Die Idee einer Dienstpflicht steckt in vielen Köpfen und ist so etwas wie ein Dauerbrenner, der je nach Problemlage jede Diskussion befeuern kann. Dabei steckt dahinter die verbreitete Vorstellung, der Staat dürfe selbstverständlich auf seine BürgerInnen zugreifen und sie zu einer Dienstleistung verpflichten.
Bei allem, was der bundesdeutsche Staat macht und fordert, muss man aber zunächst fragen, worin die Rechtfertigung dafür liegt. Was der Staat darf und was nicht, das ist vor allem eine Frage der Machtbegrenzung und der BürgerInnenfreiheit.
Für alles staatliche Handeln in der Bundesrepublik gilt, dass es an Recht und Gesetz gebunden ist, also nicht willkürlich sein darf. Und für die BürgerInnen gilt dem Staat gegenüber, dass sie Grundrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe haben, die ihre Freiheit schützen und garantieren. Verbindlich festgelegt sind diese Grundrechte im ersten Kapitel des Grundgesetzes in den Artikeln 1 bis 19.
Für die Frage einer allgemeinen Dienstpflicht zentral bedeutsam ist der Artikel 12 des Grundgesetzes. In dessen Absatz 2 ist bestimmt: „Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.“
Das Grundgesetz und insbesondere der Grundrechtekatalog wurden 1949 als bewusste Antwort auf den bzw. Abkehr von dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat geschaffen.
Während der NS-Zeit gab es eine ganze Reihe von Dienstpflichten, vor allem die 1935 für Männer eingeführte Reichsarbeitsdienstpflicht und das für Frauen 1938 eingeführte Pflichtjahr in Land- und Hauswirtschaft und ab 1939 ebenfalls die Reichsarbeitsdienstpflicht.
Mit dem Begriff der „Herkömmlichkeit“ in Art. 12 Abs. 2 sind gerade solche Dienstleistungspflichten gemeint,[nbsp] die vor der NS-Zeit üblich waren. Neben Feuerwehrpflichten oder Deichdiensten an den Meeresküsten gab es aber keine öffentlichen Dienstleistungspflichten, an die sich für die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht anknüpfen ließe. Solche Pflichtdienste, wie sie in der Nazi-Zeit obligatorisch waren, sollten mit Art. 12 Abs. 2 GG gerade ausgeschlossen werden.
Auch der „vaterländische Hilfsdienst“, der im Deutschen Reich 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg, eingeführt wurde, eignet sich nicht als Anknüpfungspunkt für eine Dienstpflicht in der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts. Der Hilfsdienst unter Kaiser Wilhelm II. war als Reaktion auf den Arbeitskräftemangel in der Rüstungsproduktion infolge des riesigen militärischen Personalbedarfs während des Krieges eingeführt worden. Zu leisten hatten ihn nach dem Gesetz alle deutschen Männer zwischen 17 und 60 Jahren, die nicht zum Militär eingezogen waren.
Schon diese kurze rechtliche und historische Betrachtung ergibt, dass das Grundgesetz die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht nicht erlaubt, sondern im Gegenteil sogar verbietet.
Es gab doch aber den Zivildienst,[nbsp] den viele der „Zivis“ mit persönlichem Gewinn für sich selbst gemacht haben. Wäre das kein Anknüpfungspunkt?
Tatsächlich gab es von der Einführung 1961 des zunächst ziviler Ersatzdienst genannten, ab 1973 dann als Zivildienst bezeichneten Dienstes bis zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011 weit über zweieinhalb Millionen Zivildienstleistende. Und viele von denen haben für sich dabei positive Erfahrungen gemacht. Der ursprüngliche Name weist aber auf die rechtliche Konstruktion hin: Der Zivildienst war nie ein Projekt mit eigenen Zielen aus sich selbst heraus, sondern immer abgeleitet von der Wehrpflicht als Ersatz für die Kriegsdienstverweigerer, die den Dienst bei der Bundeswehr verweigert hatten.
Als das Grundgesetz 1949 verabschiedet wurde, gab es kein deutsches Militär (mehr), entsprechend keine Regelungen dazu in der Verfassung, dafür den Artikel 4 Absatz 3, der bestimmte: „Niemand darf gegen sein Gewissen zu Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Beides eine Konsequenz aus dem 1939 begonnenen verbrecherischen deutschen Angriffskrieg.
Als Bundeskanzler Adenauer seine schon lange bestehenden Remilitarisierungspläne Mitte der 1950er Jahre umsetzte und die Bundeswehr aufgebaut wurde, war klar: Eine Armee mit fast 500 000 Soldaten war nur über die Wehrpflicht rekrutierbar.
Eine verfassungsrechtliche Grundlage dafür gab es nicht, sondern vielmehr die Berufsfreiheit und das Verbot einer Dienstpflicht in Artikel 12 Grundgesetz. Also musste das Grundgesetz so geändert werden, dass die eigentlich verbotene Wehrpflicht möglich wurde. Letztlich wurde das mit dem auch heute noch gültigen Artikel 12a erreicht, der in seinen ersten beiden Absätzen lautet: „(1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zu einem Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden. (2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht.“
Manche JuristInnen bezeichnen das mit guten Gründen als verfassungswidriges Verfassungsrecht. Klar ist aber: Die Wehrpflicht ist eine Sonderregelung, die den allgemeinen Bestimmungen und Freiheiten vorgeht mit der Begründung, dass es dabei um Krieg und Frieden, Verteidigung und die Existenz des Staates gehe. Nur dieses Argument kann in der juristischen Logik die Ausnahme von der ansonsten geltenden Freiheit bzw.[nbsp] dem Verbot eines Zwangsdienstes rechtfertigen.
Und wegen des von der Verfassung geforderten Schutzes der Kriegsdienstverweigerung wurde einerseits ein höchst umstrittenes Prüfungsverfahren geschaffen und andererseits ein Ersatzdienst für diejenigen, die die Gewissensinquisition erfolgreich überstanden hatten.
Auch dieser erst Ersatz-, dann Zivildienst war rechtlich die Erfüllung der Wehrpflicht – ein Grund für viele Totalverweigerer, die dem Staat das Recht zur Kriegsdienstverpflichtung grundsätzlich absprachen und von denen manche wegen ihrer Entscheidung ins Gefängnis mussten.
Von der Funktion her war der Zivildienst ein Abschreckungsinstrument vor der Kriegsdienstverweigerung und zur Aufrechterhaltung des Kriegsdienstzwangs. Denn hätte es keine erzwungene und letztlich mit der Androhung von Gefängnisstrafen durchgesetzte Ersatzleistung gegeben, dann wären vermutlich sehr viel weniger junge Männer „freiwillig“ in die Kasernen eingerückt und die Zahl der Kriegsdienstverweigerer noch sehr viel höher gewesen. Ein eigenes Ziel hat der Zivildienst nie gehabt, auch wenn natürlich die Trägerorganisationen vor allem aus den Wohlfahrtsverbänden sich bemüht haben, ihn unter den gegebenen Bedingungen so sinnvoll wie möglich zu gestalten.
All diese Aspekte sollte man bei den Forderungen nach Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht im Hinterkopf haben und auch aussprechen: Dienstpflicht ist das Gegenteil von Freiheit und von der Verfassung verboten.
Natürlich könnte das Grundgesetz geändert werden – mit jeweils einer Mehrheit von zwei Dritteln in Bundestag und Bundesrat. Es ist aber nicht ansatzweise erkennbar, wie eine nachvollziehbare, überzeugende und auch vor dem Verfassungsgericht bestehende Begründung für die Einführung eines Pflichtjahres aussehen könnte.
Die Wehrpflicht ist letztlich daran gescheitert und 2011 ausgesetzt worden, weil sie nicht mehr „gerecht“ durchgeführt werden konnte – bezogen darauf, dass sie „allgemein“ hätte sein müssen und auch wegen des Gleichheitsgrundsatzes nach Artikel 3. Bei damals sinkendem Personal-Bedarf der Bundeswehr wegen Verkleinerung der Truppe mit der Folge, dass nur noch ein Teil der eigentlich zur Verfügung Stehenden einberufen wurde, gleichzeitig aber alle Kriegsdienstverweigerer zum Zivildienst, war die Wehrpflicht politisch, gesellschaftlich, juristisch nicht mehr länger zu halten.
Das Bundesverfassungsgericht hatte schon vorher festgestellt, dass es von der Verfassung her zwar eine Entscheidung zur Landesverteidigung gebe, es dem Gesetzgeber aber freigestellt sei, ob er das Militär über eine Wehrpflicht oder aber durch die Einstellung von Profis organisieren wolle.
Ähnliche Probleme einer gerechten Heranziehung im Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht würden sich auch heute stellen. Schon die Frage, ob auch Frauen Dienst leisten müssten – vermutlich ja –, dürfte strittig sein. Wohin mit Hundertausenden von jungen Menschen jedes Jahr? Warum überhaupt die Jungen und nicht die Alten? Welcher volkswirtschaftliche Schaden entsteht, wenn Hundertausende ein Jahr später ins Berufsleben einsteigen? Was mit denen machen, die den staatlichen Dienstzwang verweigern? Ins Gefängnis? Fragen über Fragen, die die meisten Dienstpflicht-Rufer sich weder gestellt haben noch eine Antwort wüssten.
Stefan Philipp ist Chefredakteur der ZivilCourage.