Referat bei der NRW-Delegiertenkonferenz: Falsche Prioritätem, falsche Sicherheit
Ausgabe 5/2020
Von Joachim Schramm
Corona und Sicherheit“ ist ein Begriffspaar, das uns in diesem Jahr auf vielfältige Art und Weise begegnet ist. Daher haben wir das bei unserer Landesdelegiertenkonferenz in Nordrhein-Westfalen Mitte September zum Thema einer Diskussion gemacht. „Corona und Sicherheit – falsche Prioritäten, falsche Sicherheit“ lautete der Titel. Am Beginn stand ein Input von mir, an den sich eine lebhafte Diskussion anschloss.
In dem Einführungsvortrag wurden drei Aspekte dieses Themas angesprochen: Die Prioritätensetzung des Staates bei der Gesundheitsversorgung als Teil der inneren Sicherheit einerseits und dem Militär als Bestandteil der äußeren Sicherheit andererseits, dann die Frage der Grundrechtseinschränkungen im Zuge der Bekämpfung von Corona und schließlich die Frage, wie der sogenannte erweiterte Sicherheitsbegriff des militärischen Systems dazu führt, viele Sicherheitsbereiche dem Militär unterzuordnen.
Gesundheitsvorsorge oder Aufrüstung? Ein wesentliches Ziel der Maßnahmen gegen Corona ist die Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems, vor allem der Krankenhäuser.
Die Bilder und Berichte im Frühjahr aus Ländern wie Spanien und Italien, wo es zu wenig Intensivbetten für Tod-
kranke oder zu wenig Beatmungsgeräte gab oder wo über die Triage, die aus der Kriegsmedizin stammende Behandlung nach Heilungschancen, nachgedacht wurde, beeinflusste auch die Diskussion hier.
Und es wurde deutlich, dass trotz der internationalen Erfahrungen, die ja über Pandemien wie Ebola oder Cholera vorlagen, auch in Deutschland zu wenig Kapazitäten für solche Situationen vorhanden waren, zu wenig Pflegepersonal, zu wenig Konzepte, wie man mit einer solchen Situation umzugehen habe.
Das ist umso skandalöser, als bereits vor acht Jahren, nämlich 2012, eine Risikoanalyse für eine Pandemie erstellt wurde. Dazu im März das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe:
„Die Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz auf Bundesebene dient der vorsorglichen Beschäftigung mit möglichen bundesrelevanten Gefahren und den zu erwartenden Auswirkungen auf die Bevölkerung, ihre Lebensgrundlagen und die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Deutschland. Ihre Ergebnisse sollen als Informations- und Entscheidungsgrundlage dienen und somit eine risiko- und bedarfsorientierte Vorsorge- und Abwehrplanung im Zivil- und Katastrophenschutz ermöglichen. (…) Bei dem analysierten Pandemieszenario aus 2012 handelt es sich um ein (…) hypothetisches Szenario, das einen hypothetischen Verlauf einer Pandemie in Deutschland beschreibt. Der damals modellierte Pandemie-Verlauf erfolgte durch die fachlich federführende Behörde, das Robert-Koch-Institut (RKI). (…) Ob und welche Maßnahmen in den Ländern auf Grundlage der Risikoanalyse 2012 getroffen wurden, entzieht sich unserer Kenntnis.“ (https://bit.ly/2Tjjx0s)
Während also im militärischen Bereich laufend Manöver und Übungen stattfinden, Bedrohungsszenarien durchgespielt und entsprechende (kostenintensive) Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, sind offenbar die Ergebnisse dieser Risikoanalyse einer Pandemie in irgendwelchen Schubladen verschwunden. Denn eine Berücksichtigung hätte ja Geld gekostet. Geld, das auf staatlicher Ebene nicht zur Verfügung gestellt werden konnte, da man dort im Gesundheitsbereich vergleichsweise wenig investiert.
Von 2015 bis 2019 stieg der Gesundheitsetat im Bundeshaushalt von 12 auf 15,3 Milliarden Euro an, in fünf Jahren immerhin um 3,2 Milliarden. Gleichzeitig stieg jedoch der Militäretat um das Dreifache, von 32,9 auf 43,2, also um 10,3 Milliarden Euro. Von 2019 auf 2020 sollte der Gesundheitsetat sogar schrumpfen, durch die inzwischen beschlossenen Nachtragshaushalte ist er angesichts von Corona auf außergewöhnliche 41 Milliarden Euro erhöht worden. Erst jetzt sieht man sich gezwungen, mehr in den Gesundheitsbereich zu investieren. Vorher war das Militär wichtiger. Andersherum hätten viele von den derzeit über 9 000 Corona-Toten vielleicht überlebt.
Der angeblichen militärischen Sicherheit wird also staatlicherseits deutlich Priorität vor der gesundheitlichen eingeräumt – mit entsprechenden dramatischen Folgen.
Grundrechte und Gesundheits-Sicherheit. Die Frage, wie stark die Bekämpfung von Corona in die demokratischen Grundrechte in unserem Land eingreifen darf, hat im Sommer neue Aktualität gewonnen. Wir als Friedensbewegung waren mit dieser Frage allerdings schon zu Beginn der Pandemie konfrontiert.
Schon kurz nach den ersten Verboten von größeren Menschenansammlungen stand in NRW die Frage im Raum, ob wir im Bündnis mit anderen eine Anti-Defender-Demonstration in Duisburg durchführen. Erst nachdem feststand, dass das Manöver nicht in ursprünglicher Form fortgeführt wurde, und als uns Signale erreichten, dass viele potenzielle Teilnehmer aus Angst vor einer Ansteckung wohl nicht teilnehmen würden, haben wir im März beschlossen, die Demo abzusagen. Hier stand also nicht im Raum, sich unwidersprochen staatlichen Anordnungen zu beugen, sondern die Abwägung verschiedener Aspekte.
Ähnlich verhielt es sich mit der Entscheidung, den Ostermarsch Rhein/Ruhr nur in abgewandelter Form durchzuführen. Gleichzeitig haben wir mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass zeitgleich die Anti-AKW-Gruppen im Münsterland ihr Recht auf Protest gerichtlich durchsetzten, und nur die zu kurze Frist hat vielleicht verhindert, dass auch die Kölner Friedensbewegung gerichtlich gegen das Verbot eines Osterspaziergangs vorging.
Zu Recht kritisierte die Linke-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke, dass zur Einschränkung von Versammlungsfreiheit und weiteren Grundrechten eine schlichte Rechtsverordnung ausreiche, also keine Diskussion und Beschlussfassung mit einfacher oder gar Zweidrittelmehrheit im Parlament notwendig sei. Doch dies hat lange kaum jemanden gestört, und erst, als mit Maskenpflicht und Lockdown Beschränkungen größere Kreise der Bevölkerung betrafen, wurden das zum Thema. Und statt sich nun kritisch mit sinnvollen und nicht sinnvollen Beschränkungen sachlich auseinanderzusetzen, haben wir einen Streit darüber erlebt, ob es Corona überhaupt gibt oder nicht, ob es eine Pandemie ist oder nicht, ob man an oder mit Corona stirbt.
Die im Sommer gut beherrschte Situation in Deutschland mit wenigen Krankheitsausbrüchen und wenigen Toten wurde zum Anlass genommen, geflissentlich über das dramatische Infektionsgeschehen in Ländern wie USA, Indien, Brasilien etc. hinwegzusehen, als würde es sich um unterschiedliche Krankheiten handeln. Diese besorgniserregende Diskussion reicht in linke und Kreise der Friedensbewegung hinein, und nicht zufällig waren Ende August bei der Corona-Demo in Berlin auch Friedensfahnen zu sehen.
Nun ist es ja nicht gefährlich, dass sich Menschen für Freiheitsrechte einsetzen. Und es ist berechtigt, die einzelnen Maßnahmen der Regierung und der Behörden kritisch zu hinterfragen. Nachdenklich stimmt es jedoch, dass sich dieser Freiheitsdrang oder die Sorge um unser Grundgesetz in diesem Ausmaß nicht z.B. am Bruch des Friedensgebotes durch Auslands-
einsätze und Rüstungsexporte oder an dem durch Hartz IV konterkarierten Sozialstaatsgebot festmachte, sondern offenbar bei vielen am eigenen Wohlbefinden. „Ich muss Maske tragen, ich darf nicht in die Disco oder ins Konzert, ich darf nicht in Urlaub fahren, wohin ich will.“
Diese Ich-Bezogenheit mischt sich mit der Bereitschaft, mit allen zusammenzugehen, die in dieser Sicht der Dinge übereinstimmen. Die Bilder von friedlichen Demonstranten, die ungestört an Nazi-Trupps mit Reichsflaggen vorbeizogen, haben mich erschrecken lassen. Die Tatsache, dass keine sinnvolle Erklärung für die angeprangerten Grundrechtseinschränkungen geliefert wird (wenn sie denn nicht dem Gesundheitsschutz dienen) außer dem Verweis auf dunkle Mächte und einzelne Krisengewinnler, zeigt die Politikferne vieler der Corona-Protestler. Doch diejenigen, die aus diesen unklaren, nebulösen Verdächtigungen und der Kritik an allem und jedem ihren Vorteil ziehen wollen, lauern schon in den Startlöchern. Wenn die Initiative „Querdenken 711“ im August Neuwahlen forderte, war damit ja die Hoffnung verbunden, andere Kräfte würden an die Regierung kommen, nämlich die, die ihre Ansichten teilen. Das sind im Moment aber nur die Rechten. Diese profitieren immer, wenn nicht das rationale Denken und die überdachte politische Analyse das Handeln der Menschen bestimmt, sondern wirre Theorien, Ängste vor dem Unbekannten und die Entsolidarisierung. Dagegen sollten wir uns als Friedensbewegung zur Wehr setzen!
Erweiterter Sicherheitsbegriff in falschen Händen. In den 1980er Jahren wurde aus der Zivilgesellschaft darauf hingewiesen, dass eine Beschränkung der staatlichen Sicherheitsvorsorge auf die militärische Abwehr von möglichen Angriffen zu kurz greife. Bei der Sicherheit müsse es auch um Fragen von sozialer Sicherheit, Umweltschutz usw. gehen. Diese Argumentation wurde leider von der falschen Seite aufgegriffen, der militärfreundlichen Politik.
Heute wird dort von einem „erweiterten Sicherheitsbegriff“ gesprochen, wird im Weißbuch der Bundeswehr ein Sicherheitskatalog aufgemacht, der von militärischen Angriffen über terroristische Attacken, Umweltkatastrophen und Migrationsströmen bis zu Pandemien reicht. Wenn dies im Weißbuch steht, ist klar, dass die Bundeswehr sich mit diesen Dingen befassen soll und somit eine breite Berechtigung ihrer Existenz erhält.
Obwohl die Bundeswehr gar nicht in der Lage ist, die Ursachenbekämpfung von Migration oder die Bekämpfung einer Pandemie zu leisten, und auch für die anderen Sicherheitsfragen die falsche Antwort ist, täuscht die Bundesregierung so vor, sie sei auf alle Bedrohungen vorbereitet und die Milliarden für die Armee würden an der richtigen Stelle ausgegeben.
Das Gegenteil ist der Fall. Prof. Lothar Brock, damals bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung tätig, hat schon in den 2000er Jahren auf die Problematik dieses „erweiterten Sicherheitsbegriffs“ hingewiesen:
„An die Stelle einer Analyse des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlicher Marginalisierung, Diskriminierung, Staatszerfall, kultureller Fremdbestimmung, Aufkommen neuer Krankheiten und Gewalt tritt die rhetorische Gleichschaltung der einschlägigen Politikfelder. (…) Und nicht nur das: Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs ist gleichbedeutend mit einer Erweiterung des Spektrums von Bedrohungen, mit denen die Menschen konfrontiert werden. Die Ausweitung von Bedrohungsgefühlen aber fördert nach aller Erfahrung eher die Akzeptanz militärischer Vorsorge oder militärischer Eingriffe in akute Konflikte als die politische Bereitschaft, sich auf langwierige zivile Formen der Konfliktbearbeitung einzulassen.“
Der erweiterte Sicherheitsbegriff dient also nicht zur besseren Vorsorge vor Bedrohungen, sondern vorrangig dazu, die Existenz des Militärs und seiner Kosten zur rechtfertigen. Dies ist am Beispiel der Corona-Pandemie deutlich zu beobachten.
Schnell war die Bundeswehr mit dabei, aus Corona Kapital zu schlagen, indem sie medizinisches Personal und Logistik zur Verfügung stellt. Auch die Übernahme der Kontrolle von Ausgangssperren war schon im Gespräch, wurde dann aber fallengelassen. Der Einsatz der Armee für originäre Polizeiaufgaben ist dann doch noch zu heikel.
Nach Artikel 35 Absatz 1 Grundgesetz ist ein Einsatz der Bundeswehr im Inneren nur auf Anfrage um Amtshilfe erlaubt. Allerdings sind nur nicht-hoheitliche Aufgaben zulässig, im Wesentlichen also technische oder logistische Amtshilfe, bei denen auch keine privatwirtschaftlichen Aufgabenfelder beeinträchtigt werden dürfen. In der Corona-Krise wurden diese Grenzen immer wieder überschritten.
So kritisierte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, André Hahn: „Wenn Bundeswehrsoldaten im Saarland in privaten Seniorenresidenzen eines bundesweit tätigen Altenheimbetreibers eingesetzt werden, um dort pressewirksam Einlasskontrollen durchzuführen, habe ich ernsthafte Zweifel, ob die Grenzen der behördlichen Amtshilfe noch gewahrt sind.“
Und die Nordwestzeitung zieht am 5. September die Bilanz: „Sie helfen bei den Coronatests der Urlaubsrückkehrer, machen Registrierungen an Infektions-Hotspots und beschaffen medizinisches Material und Schutzkleidung: Der Einsatz der Bundeswehr im Innern war umstritten – läuft aber reibungslos.“
Auch für die Nachwuchswerbung wurde Corona genutzt: Auf Werbeplakaten zeigte sich die Armee im Pandemie-Einsatz.
Natürlich beschäftigte sich auch die Nato mit Corona. Im März appellierte Generalsekretär Stoltenberg an die Mitglieder, trotz Pandemie nur ja am 2-Prozent-Aufrüstungsziel festzuhalten, als gäbe es keine anderen Sorgen. Und im April hielt das Militärbündnis eine Tagung zu Corona ab. Hier ging es um die Aufrechterhaltung der Kriegsführungsfähigkeit auch unter Pandemie-Bedingungen.
Und damit sind wir beim Hauptproblem des militärorientierten Sicherheitsdenkens: Nicht die weitreichende internationale Zusammenarbeit zur Entwicklung von Strategien gegen die reale Gefahr Pandemie steht im Fokus, sondern die Abwehr einer wenig wahrscheinlichen militärischen Bedrohung. Dieser militärischen Sichtweise auf die Welt soll alles untergeordnet werden, sei es die Gesundheit, soziale Probleme oder auch der Klimaschutz.
Diese Sichtweise, die in der Gesellschaft durchaus auf Akzeptanz trifft bzw. nicht hinterfragt wird, gilt es aus friedensbewegter Sicht zu bekämpfen.
Das Szenario „Sicherheit neu denken“ oder auch die Ersetzung der Sicherheitslogik durch eine Friedenslogik sind hier Konzepte, die Friedensbewegung und Friedensforschung in letzter Zeit erarbeitet haben. Es gilt, diese stärker in die gesellschaftliche Debatte zu bringen!
Aber auch der stärkere Schulterschluss mit anderen Bewegungen, die ebenfalls unter dieser falschen Prioritätensetzung zu leiden haben, ist notwendig. Unser DFG-VK-Aufkleber „Geld für Gesundheit statt für Atombomber“ ist ein erster Ansatz. Wir müssen z.B. aber auch gemeinsam mit der Klimaschutzbewegung deutlich machen, dass das Militär ein nicht unwichtiger Teil des Problems Klimawandel ist, sondern auch, dass die Milliardenausgaben das Geld fressen, das für die Schaffung von mehr Klimagerechtigkeit dringend nötig ist.
Corona erschüttert nicht nur unser aller Privatleben oder die Wirtschaft. Die Pandemie erschüttert das demokratische Gefüge unseres Staates, erschüttert aber auch den Zusammenhalt innerhalb der Friedensbewegung und anderer demokratischer Bewegungen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass nicht die Rechten und das Militär diejenigen sind, die als Gewinner aus dieser Erschütterung hervorgehen.
Joachim Schramm ist Geschäftsführer des nordrhein-westfälischen DFG-VK-Landesverbands.