![]() | Dieser Beitrag ist erschienen in der ZivilCourage 3/2021 |
Literatur

Erica Chenoweth: Civil Resistance. What everyone needs to know. Oxford 2021 (Oxford University Press); 334 Seiten; ISBN-10: 0190244402ten; 25 Euro
Was jeder über gewaltfreien Widerstand wissen muss
Erica Chenoweth hat vor zehn Jahren zusammen mit Maria Stephan das Buch „Why Civil Resistance Works“ veröffentlicht. Aktuell hat sie die Ergebnisse ihrer weiteren Forschungen zur Wirkung des gewaltfreien Widerstands in ihrem neuesten Buch „Civil Resistance. What everyone needs to know“ veröffentlicht. Es ist bisher nur in englischer Sprache verfügbar.
Verdienstvoll ist, dass sie in diesem Buch Fragen beantwortet, die im ersten Buch noch offen geblieben sind.
Die Autorin hat den nach Berthold Beitz benannten Lehrstuhl in Harvard inne. Dass Beitz sein Geld für seine Arbeit im Rüstungskonzern Krupp bekam, ist ihr nicht anzulasten. Ihr wissenschaftlicher Verdienst ist es, statistisch genau nachgewiesen zu haben, dass gewaltfreie Bewegungen eine wesentlich bessere Erfolgsaussicht haben als gewalttätige.
Dazu hat sie alle politischen Bewegungen seit dem Jahr 1900 ausgewertet, die eine Mindestgröße an Beteiligten überschritten. Sie hat diese Bewegungen in gewalttätige und gewaltfreie unterschieden. Gewaltfreie Bewegungen haben das Ziel, dass Menschen unverletzt bleiben. Als gewalttätig zählt sie solche, bei denen die Anwendung von Gewalt über ein definiertes Maß hinausging. Zu grundsätzlich gewaltfreien Bewegungen mit gewalttätigen Rändern nimmt sie ausführlich Stellung.
Neu ist in diesem Buch, dass sie zum Erfolg gewalttätiger Revolutionen darstellt, dass diese sich auf eine viel größere gewaltfreie Massenbewegung stützen konnten. Am Beispiel des irischen Unabhängigkeitskrieges (1919-1922) gegen die britische Besatzung zeigt sie auf, dass die Bevölkerung schon seit 1870 gewaltfrei eine Selbstorganisation mit Parallelstrukturen aufgebaut hatte, ohne die der Krieg kaum erfolgreich gewesen wäre.
Die Auswertung, ob eine Bewegung mit einem Erfolg, einem Teilerfolg oder einem Misserfolg endete, ist in umfangreicher Tabelle angefügt und damit für jeden nachzuvollziehen. Chenoweth hatte bei ihrer Auswertung keinen Unterschied gemacht, ob eine Bewegung progressive Ziele verfolgte oder konterrevolutionär war. Diesbezüglich ist ihre Statistik völlig neutral. Aber da sie ihre Methodik offenlegt, ist leicht nachzurechnen: Wenn man nur die sozialistischen Revolutionen, antifaschistischen Widerstandsbewegungen und antikoloniale Befreiungsbewegungen auszählt, fällt der Unterschied in der Erfolgsrate zugunsten der Gewaltfreiheit sogar noch deutlicher aus. Sie stimmt der Aussage, dass gewaltfreier Widerstand auch für unmoralische Ziele einsetzbar ist, ausdrücklich zu und nennt dazu die Bewegungen gegen die sozialistischen Regierungen in Bolivien und Venezuela und die Monarchisten in Thailand.
Chenoweth setzt sich mit der Frage auseinander, ob gewaltfreie Methoden nur erfolgreich sind, wenn der Gegner sich „demokratisch“ zurückhält. Sie stellt klar, dass die britische Kolonialherrschaft in Indien ebenso Massenmorde wie Faschisten durchführte. Die antikoloniale Befreiungsbewegung mit Gandhi blieb dennoch überwiegend gewaltfrei. Gewaltfreier Widerstand war auch dann erfolgreich, wenn er sich direkt gegen den Hitlerfaschismus richtete. Chenoweth hat dazu die dänische antifaschistische Widerstandsbewegung ausgewertet und die Proteste der Frauen in der Rosentraße in Berlin, bei denen die Nazis nachgeben mussten.
Demgegenüber sinkt die Erfolgsrate signifikant, wenn eine gewaltfreie Bewegung gewalttätige Ränder akzeptiert. Dass Gewaltaktionen der Bewegung helfen könnten, wird eindeutig widerlegt. Militante Gewalttäter werden nicht etwa gewaltfreie Demonstrationen vor Angriffen von Militär oder Polizei schützen können, sondern bewirken das genaue Gegenteil, dass es nämlich viel mehr Tote und Verletzte gibt. Folglich sollten gewaltfreie Bewegungen sich besser von ihren gewalttätigen Rändern trennen, ihnen die Alternative anbieten, sich auf gewaltfreie Methoden zu beschränken oder die Bewegung zu verlassen.
Nur bei den von faschistischer Ideologie geleiteten Gruppen und Bewegungen führt die Akzeptanz und Anwendung von Gewalt nicht zu einer schlechteren Erfolgsbilanz. Chenoweth erklärt hierzu, dass das Wesen dieser Bewegungen Gewalt sei und sie damit stimmig seien. Demgegenüber gehen diejenigen, die für Frieden, Gerechtigkeit und soziale Rechte eintreten, durch den unauflösbaren Widerspruch zwischen ihren Zielen und gewalttätigen Mitteln in den Misserfolg.
Chenoweth stellt heraus, dass gewaltfreie Bewegungen, die mehr als drei Prozent der Bevölkerung umfassten, erfolgreich waren. Da bleibt doch die Frage offen, weshalb mehr als vier Millionen erklärte Kriegsdienstverweigerer es hierzulande nicht schaffen konnten, das Militär abzuschaffen und Deutschland als internationalen Kriegsdienstverweigerer auf gewaltfreie Außenpolitik zu verpflichten.
Offen bleibt auch die Frage, in welchem Ausmaß die Beschränkung auf Teilforderungen den Erfolg beeinflusst. Hier aufgelistet, aber in ihrem vorherigen Buch ausführlicher dargestellt ist die gewaltfreie philippinische Widerstandsbewegung gegen den faschistischen Diktator Marcos. Weil Corazon Aquino die Eigentumsverhältnisse und Ausbeutung durch internationale Konzerne unangetastet ließ, während die vorher gescheiterte kommunistische Partei der Phi-
lippinen die Beendigung der Ausbeutung und die ökonomische Gleichheit zum Ziel hatte, ließen die USA ihren Statthalter Marcos genau dann fallen, als klar war, dass sie von Aquino nichts zu befürchten haben. Es ist mit der statistischen Methode nicht zu unterscheiden, ob die unterschiedlichen Ziele oder die unterschiedlichen Mittel der Aquino-Partei und der Kommunisten entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg waren.
Chenoweths Beschreibung zu Irland bestätigt den 100 Jahre älteren Bericht John Reeds über die russische Oktoberrevolution „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“. Den hatte sie im Literaturverzeichnis leider gar nicht erwähnt. Da wäre wenig über revolutionären Schusswaffengebrauch, aber sehr viel von gewaltfreien offenen politischen Diskussionen in den Sowjets zu finden. Lenin nannte das bereits im April 1917 „Doppelherrschaft“, dass „neben der Regierung der Bourgeoisie sich eine zwar noch schwache, erst in der Keimform vorhandene, aber dennoch unzweifelhaft existierende und erstarkende zweite Regierung herausgebildet hat: die Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten“, und Millionen russischer Arbeiter und Bauern hatten sich schon lange vor der Oktoberrevolution in Konsum- und Produktionsgenossenschaften organisiert. Erfolgreiche gewalttätige Strukturen profitierten von den vorherigen gewaltfreien Aktionen. Es gab erfolgreiche gewalttätige Bewegungen, aber wenn gewaltfreie Strukturen etabliert sind, sind Gewaltaktionen für den kurzfristigen Erfolg nicht nötig und für den langfristigen Erfolg eher hinderlich.
Der Untertitel „Was jeder wissen muss“ hat hier seine Berechtigung. Das Buch „Civil Resistance“ ist bei Oxford University Press erschienen für 16,95 US-Dollar, die Carl-von-Ossietzky-Buchhandlung beispielsweise importierte es für 16,95 Euro.
Ralf Cüppers