Dieser Beitrag ist erschienen in der ZivilCourage 2/2021 |
Pazifismus
Die historische Lektion über das zivilisatorische Minimum
Von Wolfram Wette
Auf einer Tagung der Würzburger Akademie Frankenwarte Mitte der 1990er Jahre wurden neuere Forschungsergebnisse über die Wehrmacht und den Holocaust erörtert. In der Diskussion attackierte ein weißhaariger Herr, der sich als ehemaliger Angehöriger der Wehrmacht zu erkennen gab, einen jungen Teilnehmer mit dieser Frage: „Und wie hätten Sie sich damals verhalten?“
Dem jungen Mann verschlug es zunächst die Sprache, weil er sich als konstruktiver Diskussionspartner auf das Ansinnen einzulassen versuchte, jedoch alsbald merkte, dass er nicht in der Lage war, eine Antwort zu geben. Statt seiner ergriff damals Susanne Miller das Wort, die bekannte Bonner Professorin für Geschichte und vormalige jüdische Emigrantin.
Sie trug mit erkennbarer Erregung vor, das sei eine ganz unpassende und falsche Frage. Denn erstens vermöge sich der junge Mann, der stellvertretend für seine Generation gesehen werden könne, gar nicht genau in die damalige Zeit – gemeint war die Zeit der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges – hineinzuversetzen. Daher sei es – zweitens – ein nutzloses Unterfangen, ihn mit der unterschwellig moralisierenden Frage zu konfrontieren, was er wohl getan hätte. Stattdessen komme es – drittens – auf etwas ganz anderes an, nämlich darauf, was der junge Mensch aus der Geschichte gelernt habe und wie er das Gelernte heute und in der Zukunft zu praktizieren gedenke.
Erhellendes Statement
Das war für viele Tagungsteilnehmer ein erhellendes Statement, auch für den Verfasser dieses Vorworts, wie schon aus der Tatsache hervorgeht, dass es ihm so präzise in Erinnerung geblieben ist. Susanne Miller hätte in Würzburg noch hinzufügen können, dass besagte Frage aller Wahrscheinlichkeit nach zu dem Zweck gestellt wurde, den Vertreter der Kriegsgeneration zu entlasten.
Denn man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass in der von ihm aufgeworfenen Frage bereits die – anthropologisch gemeinte – Antwort mitschwang: Unter bestimmten extremen Bedingungen verlieren wir doch alle die humane Orientierung und sind nicht davor gefeit, uns an Verbrechen zu beteiligen. Also habt ihr Jüngeren kein Recht, über unser damaliges Verhalten, auch wenn es ein Versagen war, zu richten oder moralisch zu urteilen.
Besagte Frage ist also Teil des größeren Zusammenhangs der nachträglichen Rechtfertigung von Mitwisserschaft, Mitläuferschaft oder Mittäterschaft. Sie kommt nicht selten in der Aussage „Man hat doch nichts dagegen machen können!“ daher. Dank intensiver historischer Forschungen wissen wir jedoch heute, dass zumindest eine Minderheit der damals lebenden Deutschen sich verweigerte oder etwas Widerständiges zu tun versuchte.
Man denke an die Kriegsdienstverweigerer, die Wehrkraftzersetzer, die Deserteure der Wehrmacht, an die Tausende von Menschen, die verfolgten Juden Unterschlupf gewährten und bestrebt waren, sie vor dem Tode zu retten. Nicht umsonst wurden diese gegen den Strom schwimmenden Menschen so lange totgeschwiegen und als Verräter diffamiert. Hielten sie den Mitläufern und Mittätern doch den Spiegel vor, in dem eine ganz andere Frage stand: Und was hast du getan? Nicht etwa: Was hättest du getan, wenn du damals gelebt hättest, sondern, an die Adresse der Angehörigen der Kriegsgeneration: Was hast du damals tatsächlich gedacht und getan?
Der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma, Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat sich mit unserer Frage ebenfalls beschäftigt. In ihr, vermutet er nicht ohne Grund, könne sich die Anmaßung von Zeitzeugen verstecken, die meinen, nur der könne mitreden, der dabei gewesen sei, was – methodisch betrachtet – keinerlei Sinn mache, weil sonst jegliche Geschichtsschreibung, die dem Streben nach Wahrheit verpflichtet ist, unmöglich sei.
Weiterhin weist Reemtsma darauf hin, dass der miterlebende Zeitgenosse und der rückblickende Historiker keineswegs auf der gleichen Ebene urteilen müssten. Denn schließlich könne es „einen Zuwachs an moralischer Kompetenz in der Generationenfolge“ geben. Tatsächlich bestimmt doch unser Wissen um die historischen Fehlentwicklungen in der NS-Zeit unser heutiges und zukünftiges Denken und Handeln maßgeblich mit.
Der Theoretiker Reemtsma wird vergleichsweise konkret, wenn er die fundamentalen Lehren beschreibt, die aus der NS-Zeit zu ziehen sind. Er nennt sie das „zivilisatorische Minimum“ und schreibt: „Wir müssen voneinander – ohne jede Nachsicht – verlangen, dass wir keine Mörder werden. Dass wir uns nicht freiwillig an Verbrechen beteiligen, dass wir andere Menschen nicht denunzieren, ihr Leben nicht zerstören.“
Lehren für die Geschichtswissenschaft
Was bedeutet diese Lehre für das methodische Vorgehen des Historikers? Selbstverständlich muss er bestrebt sein, sich in die Zeit, die er untersucht, möglichst intensiv hinein zu versetzen, um zu erklären, weshalb bestimmte Menschen so handelten, wie sie es getan haben, und nicht anders. Gleichzeitig hat er zu bedenken, dass andere Menschen sich anders verhalten und dass sie Handlungsspielräume im Sinne des menschlichen Anstands erkannt und genutzt haben. Aber er kann beim bloßen Ermitteln der Fakten nicht stehen bleiben. Eine solche antiquarische Geschichtsschreibung würde das Geschehene ja nur sprachlich verdoppeln. Auch Bewertungen sind gefordert.
Wenn beispielsweise Heinrich Himmler in seiner berüchtigten Posener Rede vom 4. Oktober 1943 seine SS-Offiziere lobte, dass sie bei der Ermordung der Juden „anständig geblieben“ seien, weil sie diszipliniert getötet und nichts entwendet hatten, so kann diese Sentenz doch sinnvoll nur erörtert werden, wenn wir die damaligen und heutigen Moralvorstellungen miteinander vergleichen.
Es geht gar nicht anders: Der Historiker muss auch darlegen, wie das Verhalten von Menschen in der NS-Zeit nach unseren heutigen moralischen Maßstäben zu bewerten ist. Diese Normen haben sich bekanntlich in der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Absturz der Deutschen während der NS-Zeit in die grenzenlose Inhumanität herausgebildet.
Der Schriftsteller und emeritierte Staatsrechtler Bernhard Schlink, Verfasser des Weltbestsellers „Der Vorleser“, hat neuerdings kritisiert, dass die NS-Geschichte mit heutigen Moralvorstellungen bewertet wird, und von einer um sich greifenden „Kultur des Denunziatorischen“ gesprochen. Statt zu entlarven und zu demontieren, sollten die Menschen von heute sich vielmehr in die damalige Lage hineinbegeben, denn: „Je mehr wir über das Dritte Reich wissen, desto weniger wissen wir darüber, wie damals gelebt und erlebt und was gedacht und gefühlt wurde.“
Schon in der Schule, kritisiert Schlink, werde statt des Verständnisses des Verhaltens im Dritten Reich dessen moralische Bewertung „eingeübt“, was die Gefahr in sich trage, dass die künftigen Generationen von dieser Zeit einfach nichts mehr wissen wollen.
Hier scheint mir Schlink das Kinde mit dem Bade auszuschütten. Natürlich ist es Aufgabe der Historiker, sich die NS-Zeit vor Augen zu führen und sich der schwierigen Aufgabe zu unterziehen, die fließenden Übergänge zum Unrechtsstaat und zu den großen Verbrechen zu ermitteln und sich der emotionalen Lage der damals lebenden Deutschen anzunähern. Aber damit ist es nicht getan. Sie sind auch aufgefordert, die Teilhabe vieler Zeitgenossen an den damaligen Staatsverbrechen zu bewerten, und das geht nur mit den Augen und mit den Wertmaßstäben von heute, was selbstverständlich jeweils genau kenntlich gemacht werden muss.
In ihren Überlegungen zu einem angemessenen Umgang der heute lebenden Generationen mit der Zeit des Nationalsozialismus kommen die Historikerin Susanne Miller und der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma übrigens zu einem übereinstimmenden Ergebnis:
Die Frage „Wie hätte ich mich verhalten?“ erbringt letztlich keinen Erkenntnisgewinn. Sie dient allenfalls der Entlastung desjenigen, der sie stellt.
Die richtige Frage: „Wie soll ich mich verhalten?“
Viel wichtiger und auch viel folgenreicher ist die Frage der heute lebenden Menschen: „Wie soll ich mich verhalten?“
Anders ausgedrückt: Habe ich die historische Lektion über das „zivilisatorische Minimum“ für die verantwortliche Gestaltung meines gegenwärtigen und zukünftigen Lebens gelernt?
Wolfram Wette ist DFG-VK-Mitglied, Friedensforscher und emeritierter Geschichtsprofessor. Dieser Beitrag ist sein gekürztes Geleitwort zum Buch von Moritz Pfeiffer: Mein Großvater im Krieg 1939-1945. Erinnerung und Fakten im Vergleich. (Bremen 2012; ausführliche Besprechung in Forum Pazifismus Nr. 34/35/36, II-IV/2012, S. 82 ff.; https://bit.ly/3x6vYzc).